Der Begriff "Germanen" unwissenschaftlich?

Der Germanenbegriff ist archäologisch schon schwierig. Wir reden andauernd von der ‚keltischen‘ La Tene und der ‚germanischen‘ Jastorf-Kultur. Jastorf und La Tene sind im Prinzip eponyme Fundorte. Artefakte werden danach als Jastorf oder La Tene zugehörig definiert. Dabei sind diese Fundorte aber gar nicht Zentren der nach ihnen benannten Kulturen. Und neue Fundorte werden je nachdem der einen oder der anderen Kultur zugeordnet. Dabei handelt es sich letztenendes um Handelswaren mit einem bestimmten Verbreitungsgebiet, das nur ungefähr mit linguistisch als germanisch oder keltisch zu identifizierenden Gebieten korrespondiert. Aber schon die Zuordnung eines Ortes zur Jastorf- oder zur La Tene-Kultur ist ein Kompromiss zwischen der archäologischen Realität und dem Ansinnen, die Dinge irgendwie benennen zu müssen, um darüber reden zu können.
 
Ein wenig hinkt der Vergleich schon; ohne Fremdsprachenkenntnisse bzw. Dolmetscher werden sich ein Franzose, ein Portugiese und ein Rumäne schwerlich verständigen können.
Na ja, vor rund 2000 Jahren konnten sie einander verstehen, benötigten damals keinen Dolmetsch (es sei denn, ein verstockter Pariser damals hätte auf seinem gallisch, ein verstockter Torero auf seinem iberokeltisch beharrt) ;) und der schwedische Schwertträger vor 1800 Jahren hätte den frisch im Breisgau aufgetauchten alemannischen Raufbold einigermaßen verstehen können (nicht nur in Sachen Rauferei, sondern auch sprachlich) wohingegen heute der Freiburger einen Dolmetsch benötigt, wenn an schwedischen Gestaden Segelurlaub macht.
 
Na ja, vor rund 2000 Jahren konnten sie einander verstehen
Vor 2000 Jahren gab es keine Franzosen, keine Portugiesen und keine Rumänen, also hätten sie gar nicht erst den Versuch unternommen, einander zu verstehen.
Der Gallier und der Keltiberer hätten sich vielleicht noch verständigen können; das q-keltische Zahlwort *quenque 'fünf' hätte indes sogar der Lateiner noch leichter verstanden als der Gallier, in dessen Mund es pempe lautete.
 
Vor 2000 Jahren dürfte dagegen die Verständigung zwischen einem Friesen, einem Chatten und einem Langobarden ebensowenig ein Problem gewesen sein dürfte ...

Ist das denn so? Noch heute können sich die jeweiligen Dialektsprecher praktisch nicht verständigen, obwohl der zu Grunde liegende Wortschatz im Grunde dem Hochdeutschen entspricht. Die Aussprachen in den einzelnen Dialekten sind einfach zu unterschiedlich, auch wenn die Wörter nahezu die gleichen sind.
 
Noch heute können sich die jeweiligen Dialektsprecher praktisch nicht verständigen

Was heißt "noch heute"? Die Dialekte haben sich im Lauf der Jahrhunderte immer weiter auseinanderentwickelt. Das Wort für 'Zeit' wurde vor der 2. Lautverschiebung einheitlich als tīd ausgesprochen (so hat es sich vom Altsächsischen bis ins moderne Plattdeutsch erhalten), in den ober- und mitteldeutschen Dialekten wurde es dann zu zīt, diese Aussprache ist in den modernen alemannischen Mundarten (nicht im Schwäbischen) konserviert, während in allen anderen oberdeutschen Dialekten (zuerst im mittelalterlichen Bairischen, auch im Zimbrischen) der Vokal diphthongiert wurde, so lautet das Wort im Standardhochdeutschen Zeit.
Im Ripuarischen fand keine Diphthongierung statt, hier hat sich dagegen durch die Velarisierung der Auslaut gewandelt, auf kölsch lautet das Wort Zigg.

Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto weniger ausgeprägt sind die Dialektunterschiede. Die althochdeutschen Texte alemannischer, bairischer oder südrheinfränkischer Herkunft unterscheiden sich nur minimal bzw. lassen sich oft gar nicht nach der mundartlichen Herkunft einordnen.
 
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Vor 2000 Jahren gab es keine Franzosen, keine Portugiesen und keine Rumänen, also hätten sie gar nicht erst den Versuch unternommen, einander zu verstehen.
...das ist ein gar zu spitzfindiger Einwand ;) die "Franzosen, Portugiesen, Rumänen" des römischen Reichs waren romantisiert, sprachen/verstanden Latein - und später drifteten die romanischen Sprachen quasi auseinander (sehr vereinfacht) oder ist das falsch?
 
...das ist ein gar zu spitzfindiger Einwand ;)

Das finde ich durchaus nicht. Deine Argumentation baut auf der Feststellung "Portugiesen, Spanier, Franzosen, Italiener, Rumänen sehen sich als unterschiedliche Ethnien" auf.

Nun gehe ich nicht davon aus, dass Du behaupten möchtest, diese Ethnien hätten bereits vor 2000 Jahren als solche existiert, nur halt ggf. unter anderen Bezeichnungen (Gallier, Daker usw.). Ich würde das gar nicht erwähnen, wenn derlei nicht von nationalistischen Ideologen allen Ernstes verfochten worden wäre (und leider heute noch wird), siehe "Nos ancêtres les Gaulois" oder Ceauşescus 2050-Jahr-Feier des unabhängigen Einheitsstaats: Illyrische- Kultur, Sprache und deren Nachkommen
Dann gehe ich davon aus, dass Du die damaligen "Portugiesen, Spanier, Franzosen etc." noch als einer Ethnie zurechnest, oder sehe ich das falsch?
 
Dann gehe ich davon aus, dass Du die damaligen "Portugiesen, Spanier, Franzosen etc." noch als einer Ethnie zurechnest, oder sehe ich das falsch?
Das siehst du falsch, d.h. du liest etwas in meine Einlassung hinein, was da nicht drin stand.
Der Kontext war vorübergehend dass es zu schwierig in einer Fernsehsendung gewesen sei, in ein paar Minuten den Zuschauern was von germanischen Sprachen zu verklickern - darauf mein hinkender Vergleich mit den romanischen Sprachen (romanisch ist unverdächtig, germanisch hingegen nicht) : es ist schnell erklärt, dass heutige romanische Sprachen sich voneinander sowie von ihrer gemeinsamen (spät)antiken lingua franca entfernt haben. Weil heute auf den ehemals lateinisch romanisierten Gebieten des römischen Reichs nun mal romanische Sprachen sprechende Franzosen, Spanier, Rumänen, Portugiesen siedeln, hatte ich sie einfach salopp erwähnt und nicht hochwissenschaftlich korrekt von multiethnischen Bürgern und Einwohnern, freie wie unfreie, des römischen Imperiums der Kaiserzeit gesprochen, welche sich sowohl frei- wie unfreiwillig sprachlich romanisiert hatten usw usw (und ja, sie verstehen einander heute ebenso wenig, wie der Breisgauer den Schweden versteht) Und Heureka, wenn ein heutiger Franzose möglicherweise einen römischen Provinzialbürger in Lutetia Parisorum als direkten Vorfahren hatte, dann hatte dieser Vorfahre keine Verständigungsprobleme mit einem römischen Bürger aus den heute spanischen, heute rumänischen römischen Provinzen - - was daran soll 19. Jh. sein?
(nebenbei was anderes: die Autokorrektur beim Apfel ist eine Katastrophe... seit 5min muss ich nachbessern...)
 
Das siehst du falsch, d.h. du liest etwas in meine Einlassung hinein, was da nicht drin stand.
Der Kontext war vorübergehend dass es zu schwierig in einer Fernsehsendung gewesen sei, in ein paar Minuten den Zuschauern was von germanischen Sprachen zu verklickern - darauf mein hinkender Vergleich mit den romanischen Sprachen (romanisch ist unverdächtig, germanisch hingegen nicht) : es ist schnell erklärt, dass heutige romanische Sprachen sich voneinander sowie von ihrer gemeinsamen (spät)antiken lingua franca entfernt haben.
Die Schwierigkeit ist ja, dem Zuschauer den fehlenden Zusammenhang von Ethnie und Sprache zu erklären. Ich nehme an, dieser geht auch davon aus, dass es vor 2000 Jahren noch kein französisches oder rumänisches Volk gab. Welche Schlussfolgerung wird er aus der saloppen Bemerkung, der antike Franzose hätte sich mit dem antiken Rumänen problemlos verständigen können, wohl ziehen?
 
Es gehört zu den Aufgaben einer Wissenschaft, sich den Leuten immer wieder mitzuteilen.

Bezüglich 'der Germanen' wurde das aus bekannten Gründen lange sehr stiefmütterlich getan. Da ist es nur natürlich, nicht alles auf einmal einzubauen.

... Welche Schlussfolgerung wird er aus der saloppen Bemerkung, der antike Franzose hätte sich mit dem antiken Rumänen problemlos verständigen können, wohl ziehen?

Zumal ja heute die Sprache etwa in Frankreich oder der Ukraine als eines der wichtigsten konstituierenden Elemente für eine Nation ist und Begriffe wie Nation, Volk, Ethnie meist nicht differenziert werden.
 
Wenn man den Begriff "Germanen" wissenschaftlich verwenden will, muss man den Begriff auch erklären und definieren. Das gleiche gilt auch für Begriffe wie Rasse, Nation, Ethnie, Volk, Kultur, Sprache usw.

In der deutschen Debatte liegt traditionell ein ganzheitliches Kulturverständnis zugrunde, das auf Johann Gottfried Herder zurückgeführt werden kann. Herder betrachtete die Kultur allumfassend. Die Kultur umfasst alle Bereiche des Lebens, nicht nur die Sprache. Gleichzeitig wurden unterschiedliche Kulturen usgemacht, die er sich als homogene und abgechlossene Kugeln vorstellte. (Bekannter als die Kugeln, sind inwzsichen jedoch die Kulturkreise des Leo Frobenius.)
Für die noch junge Disziplin der Archäologie wurde dieses Kulturverständnis durch Gustaf Kossinna ausformuliert: "Scharf umgrenzte Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen."

Transkulturalität Mehrsprachigkeit oder Synkretismus sind in diesen Kultur-Modellen nicht vorgesehen, weil Kulturen in strenger Dichotomie verstanden werden. Kelten, Germanen und Römer werden als scharf abgegrenzt verstanden und können daher auch auf Karten abgebildet werden. Gleichzeitig wird Kulturentwickluing selbstverständlich in Stammbäumen dargestellt, in denen die Deutschen direkt aus den Germanen hervorgehen.

Ironischerweise entstanden diese ganzen Theorien über Kulturkreise, Kulturprovinzen und Kugeln in Preußen, also in jener Provinz, wo die angeblichen Grenzen zwischen den Kulturräumen offensichtlich besonders unscharf waren. Da wusste man ja nie genau, was der Unterschied zwischen einem Masuren und einem Hugenotten war, das waren doch alles reine und unvermischte Deutsche.;)

Zu beachten ist hier, dass das antike Germanenbild der Römer weitaus weniger konkret war, als das der Deutschen im 19. Jahrhundert.
Strabon und Cassius Dio unterschieden gar nicht zwischen Germanen und Kelten. Für sie war klar, dass auch die Germanen Kelten sind.
Caesar und Tacitus unterschieden zwar zwischen Galliern und Germanen, kannten trotzdem aber noch verschiedene Übergangsformen wie die Belgae, Germani Cisrheni, rechtsrheinische Gallier. Es waren für sie eben nicht die scharf abgegrenzte Kulturen.
Eine Grenze zwischen zivilisierten Galliern und den gänzlich wilden Germanen hat Caesar auch nicht einfach nur erfunden, er hat sie auch durch seine Politik hergestellt. Links des Rhein begann die Romanisierung der Gallier, rechts des Rhein die Germanisierung - nicht zuletzt auch ausgelöst durch die von den Römern forcierte Umsiedlungspolitik jener Gruppierungen, die rechts des Rheins die La-Téne-Kultur in ihren Oppida pflegten.
Das Germanentum macht Tacitus auch nicht unbedingt an der Sprache fest, sondern vielmehr an der Abstammung. Die wesentliche Eigenschaft der Germanen ist für Tacitus ihre Autochtonie in Germanien. An ihr will er Germanen und Gallier unterscheiden.
 
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Wenn man den Begriff "Germanen" wissenschaftlich verwenden will, muss man den Begriff auch erklären und definieren. Das gleiche gilt auch für Begriffe wie Rasse, Nation, Ethnie, Volk, Kultur, Sprache usw.
Vorschlag: Germanen waren Leute, deren Muttersprache Germanisch war. Das scheint mir wissenschaftlich genug, auch wenn es da sicher viele Übergangs- und Zweifelsfälle gibt.
Und ob es heute noch eine deutsche Debatte gibt, der ein ganzheitliches Kulturverständnis zugrunde liegt, möchte ich bezweifeln.
 
Die Dialekte haben sich im Lauf der Jahrhunderte immer weiter auseinanderentwickelt.

Das mag bezüglich der Aussprache stimmen, bezüglich des Wortschatzes eher nicht. Da gab es in den einzelnen Dialekten Ausdrücke, die sich in anderen nicht finden, die im Laufe der Zeit aber immer mehr ähnlichen Ausdrücken aus der Hochsprache gewichen sind. Findet man oft etwa noch in alten Flurnamen (Was ist ein "Sohl?") oder in Begriffen aus der Landwirtschaft.
Da frage ich mich, in wie weit die verschiedenen Dialekte tatsächlich erforscht sind, nach meinem persönlichen Eindruck scheint es dort gewaltige Lücken zu geben.
 
Vorschlag: Germanen waren Leute, deren Muttersprache Germanisch war.
Natürlich kann man auch mit dieser Definition arbeiten. Es ist denke ich auch eine der am häufigsten genutzten Definitionen. Diese Definition funktioniert in der Völkerwanderungszeit einigermaßen gut.

Problematisch ist jedoch, dass gerade für die frühe Römische Kaiserzeit der sichere Nachweis für die germanische Sprache fehlt. Aus dieser Zeit gibt es keine Runeninschriften und nur ein paar teils kryptische Eigennamen. So kann man leicht die These aufstellen, dass die Chatten, Ubier, Bataver, Sugambrer, Cherusker usw. eventuell gar keine Germanen in diesem Sinne gewesen seien, sondern Kelten oder man kann die Nordwestblock-Hypothese vertreten. Das Problem ist jedoch, dass man so den antiken Germanenbegriff von Caesar und Tacitus ad absurdum führt. Die römischen Autoren halten gerade diese Stämme zwischen Rhein und Weser für typische Vertreter der Germanen und es ist absurd und verwirrend, wenn man heute anfängt gerade die Stämme für die der Begriff Germanen einst erfunden wurde, nicht zu den Germanen zu zählen.
 
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So kann man leicht die These aufstellen, dass die Chatten, Ubier, Bataver, Sugambrer, Cherusker usw. eventuell gar keine Germanen in diesem Sinne gewesen seien, sondern Kelten oder man kann die Nordwestblock-Hypothese vertreten. Das Problem ist jedoch, dass man so den antiken Germanenbegriff von Caesar und Tacitus ad absurdum führt.

Caesar hatte sowohl mit Kelten (Galliern) als auch mit Germanen relativ intensiven Kontakt. Man kann davon ausgehen, dass er gemerkt hat, dass diese nicht die gleiche Sprache sprechen und dass er jeweils andere Dolmetscher benötigte, um mit ihnen zu kommunizieren.
 
@Nikias die Römer kannten noch keine Sprachverwandtschaften, Sprachfamilien - sie ordneten ihre Nachbarn geografisch. Z.B. in der Spätantike bezeichneten sie die germanischen Goten, Gepiden, Vandalen als "skytische" Völker, weil sie aus dieser Region ins Imperium drängten.
 
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