Kann man in Luis Trenkers Filmen Vorläufer der Heimatfilme der 1950er sehen? ...
Dahinter steht wohl auch die Frage: Was ist ein Heimatfilm und was ist keiner? Ich bin bei weitem nicht Fachmann genug, um darauf befriedigend antworten zu können. Durchgängige Strukturmerkmale des Heimatfilms sind jedenfalls (1) die Vorstellung von "freier und reiner" Natur bzw. der Gegensatz von Stadt und Land, (2) die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft sowie (3) die durch diese beiden Faktoren geformten Sozialisationstypen.
Ricarda Strobel hat bei ihrer filmtechnischen und -ästhetischen Analyse des Films
Schwarzwaldmädel (1950) [1] weitere Gegensatzpaare herausgearbeitet: Theater - bürgerliches Leben; Innenräume - Landschaft; Maskenball - Dorffest; falsch - echt; Walzer - Choral; Koketterie - wahre Liebe; Diva - Schwarzwaldbraut; Collier - Hochzeitskrone; aktuell - traditionell. Diese Liste ließe sich mit anderen Filmen beliebig verlängern. "Das Setting im Heimatfilm ist keine realistische Handlung, sondern eine Chiffre" (S. 155). [2]
Na ist doch klar, wer wollte schon Filme über den Alltag sehen, den man jeden Tag selbst erlebt. Die Heimatfilme zeigen den Menschen ein sorgloses Leben ohne Krieg und Zerstörung mit den für damalige Verhältnisse moralischen Wertvorstellungen. Die Menschen konnten bei diesen Filmen dem Alltag entfliehen.
Wie schon von anderen gesagt: Es gibt solche und solche Heimatfilme, und ein großer Teil davon zeigt sicherlich keine spektakulären Szenen, keinen "Showdown im Glottertal", sondern tatsächlich Alltägliches: die Situation in einer Familie, in einer dörflichen Gemeinschaft, die häufig beeinflusst/gestört/bedroht wird [3] und dies auf irgendeine Art und Weise "verarbeiten" muss. Im Unterschied zu Kostümfilm oder Klamotte werden in den Filmen, die ich meine, auch die Sorgen nicht unterschlagen - gänzlich unversehrt ist "nur" die Landschaft, in die das Geschehen eingebettet ist. [4]
Der Fluchtaspekt - darauf hat schon Saint-Simone hingewiesen - ist sicher ein zentrales Motiv. Aber wovor flieht man? Reicht es aus, mit "der Last des Alltag" zu antworten? Wie gesagt: der Krieg ist ja gerade erst zu Ende gegangen, die Trümmer sind noch überall zu sehen, und Millionen von Menschen sind verschwunden oder verstreut oder durch andere (Vertriebene) "ersetzt". [5] Der Heimatfilm, soweit er problematisiert, zeichnet sich dadurch aus, dass er die "eigenen Verluste und Leiden" beleuchtet. "Heimatfilme handeln von deutschen Opfern, sie blicken mit Scheuklappen auf die Vergangenheit" (
Schuld und Sühne?: Kriegserlebnis ... - Google Buchsuche).
Das drückt sich in vielen Szenen von Heimatfilmen aus. Curt Riess hat z. B. geschrieben: "Wenn man sich die deutschen Filme jener Zeit wieder ansieht, so hat man das Gefühl, als seien nicht Millionen Menschen, sondern Millionen Mitglieder von Gesangvereinen aus ihrer Heimat vertrieben worden." Typisch: In
Grün ist die Heide stimmt eine Trachtengruppe mitten in der Heidelandschaft das Riesengebirgslied an! Auch sonst wird dem, was verloren gegangen ist, mindestens unterschwellig breiter Raum eingeräumt - nur die Frage, wie das denn gekommen ist und wer daran die Schuld trägt, die bleibt außen vor bzw. wird "verdrängt".
Wir können solche einfach gestrickten Filme heute nicht mehr verstehen, da bei uns die Fantasie nicht mehr mit Einfachheit in einem Unterhaltungsfilm angeregt wird. Das ist unser allgemeines Problem, das die einfachen Dinge in ihren Stellenwert innerhalb der Gesellschaft keine Beachtung mehr finden. Wir leben in einer Überflussgesellschaft oder auch Mediengesellschaft, die auch als Ellenbogengesellschaft absoluten Egoismus und wenig Vertrauen außer zu einem Selbst erfordert, somit liegt auch die Bewertung solcher alten Heimatfilme bei uns weit unten, weil sie das genaue Gegenteil darstellen. Sie sind nicht mehr Zeitgemäß.
Du holst hier zu einem medien-, kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Rundumschlag aus, für den ich viel Sympathie habe :winke:, bei dem ich mich aber zurückhalten möchte. Es war nicht meine Absicht, ein Urteil über den Heimatfilm als solchen, dessen Macher und Zuschauer zu fällen [6]; was mich primär interessiert, ist eben der Zusammenhang von Heimatfilm/Filmgeschichte und Geschichte/Geschichtsschreibung. Aber schlag' ruhig - der Thread wird es verkraften!
[1] In: Fischer Filmgeschichte, Bd. 3, S. 148-170
[2] Die Idylle selbst ist in diesem Film eine "doppelt" künstliche: Zu den Dreharbeiten wurde "Heimatkunst aus dem gesamten Schwarzwald in das kleine Dorf [den Spielort] importiert", und sowohl die Landschaftsaufnahmen wie auch der häufig gezeigte Gasthof wurden aus verschiedenen Teilen des Schwarzwalds bzw. aus verschiedenen Hausansichten "zusammenkomponiert"! (ebd.)
[3] Die Bedrohung kann von außen kommen, als Einbruch von Städtern oder von "Kapitalisten" in die Idylle usw., oder auch von innen als Gewissensqualen oder durch die angedeutete "Vorgeschichte" der Filmhelden.
[4] Dies beleuchtet übrigens auch die Zeitbedingtheit des Heimatfilms: Von Umweltzerstörung, saurem Regen und dergleichen weiss man in den 50er Jahren noch nicht viel.
[5] Vom Holocaust-Thema mal ganz abgesehen, das im Heimatfilm vollständig tabuisiert wird.
[6] Siehe für viele aber:
Wer gibt Joe Hembus: Bei uns sind Schriften über Film, im Gegensatz ... | Gehört und Gesehen | Nachrichten auf ZEIT ONLINE.