Gegenpositionen zur traditionellen Erzählung
Auf der Konferenz "Boier-zwischen Realität oder Fiktion" ist das Referat von Karl Strobel, Klagenfurter Althistoriker und Archäologe, ›Die Boii – ein Volk oder nur ein Name? Zur Problematik von antiker Geographie und Ethnographie‹,in gewisser Weise der Gegenpol zur traditionellen Erzählung, in Nebenbemerkungen und am Schluss wird auch eine alternative Erzählung eines weiteren Altmeisters, Gerhard Dobesch, kritisiert. Die Frage aus dem Titel des Referats Boii – ein Volk oder nur ein Name? wird jedoch erstaunlich kurz und bruchstückhaft behandelt. Das sehr lange Referat leitet mit einer sogenannten Vorbemerkung ein, die jedoch im weiteren Verlauf zum Hauptteil wird:
»Alle Versuche, die Angaben bei Strabon, Caesar oder Klaudios Ptolemaios auf moderne Karten zu übertragen und so den Donauraum oder Germanien in augusteischer zeit auf der Basis unseres heutigen geographischen Bildes zu rekonstruieren, sind von vorne herein verfehlt und müssen zu falschen Schlüssen führen«. Insbesondere Strabon wendet sich Karl Strobel ausführlich zu. Ich zähle jetzt kurz die einzelnen Testimonien auf, die Strobel quellenkritisch betrachtet.
1. Ähnlich wie Dobesch kritisiert Strobel Strabons Vorstellung der Rückwanderung oder Auswanderung der Boier nach ihrer Niederlage gegen die Römer (nach 191 v.Chr.) von Norditalien in den mittleren Donauraum (Strab. 5,1,6). In Strabons Werk gibt es für das ethnographische Schema "gleiche oder auch nur verwandte Namen bedeuten gleiche Völker"(Strobel) einige Beispiele, eines ist die Kimmerer-Kimbern-Gleichung. Für Dobesch ist das Schweigen Titus Livius ein Argument Strabon nicht zu glauben. "Ferner weiß der für die in Frage kommenden Jahre vollständig erhaltene Livius nichts davon. Auch Poseidonios und Tacitus widersprechen dem (siehe unten). Und wie ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe, läßt eine Dialektkarte des modernen Oberitalien noch den Einfluß des keltischen Substrats annehmen; hier scheidet das Land der Senonen, das tatsächlich entvölkert wurde, weitgehend aus, nicht aber das ehemals boische Gebiet." (Gerhard Dobesch, Tyche 8, 1993, Anmerkungen zur Wanderung der mitteleuropäischen Boier). Nach Livius mussten die Boier die Hälfte ihres Landes abgeben Liv. 36, 39,3). Polybius schrieb, dass die Boier nur noch wenige Gebiete am Fuß der Alpen besaßen (Polyb. 2,35,4). Vernichtet und vertrieben wie die Senonen von den Römern wurden die Boier nicht. Plinius der Ältere erwähnt , dass die Boier in der späteren regio VIII untergegangen waren und sich laut Cato in 112 Bezirke gegliedert hatten (Plin. nat. III 115–116).
2. Den Angriff der Boier auf Noreia hält Strobel für ein propagandistisches Konstrukt Cäsars, der unter Rechtferitgungsdruck stand, und die Bedrohung durch den Helvetierzug zusammen mit Raurakern und Boiern dramaturgisch mit dem Kimberneinfall gleichsetzte, um sein mititärisches Intervenieren im freien Gallien zu legitimieren. Der Angriff auf Noraia solle an die Schlacht bei Noreia 113 v.Chr, anspielen, bei der eine konsularisches Heer unter Papirius Carbo von den Kimbern geschlagen wurde. es gibt tatsächlich viele Stellen (z.B. die Erwähnung des Helvetiers Divcos), die diese These belegen. Militärisch spielten die Boier jedoch auch in der entscheidenen Schlacht eine untergeordnete Rolle, und sind im folgenden Gallischen Krieg bis zum Übertritt der Haeduer "Bundesgenossen" Cäsars. Dieser Widerspruch ist jedoch kein ausschlaggebendes Argument gegen das Cäsarsche Konstrukt. "Das Motiv, warum Caesar diesen Angriff auf Noreia, der mit dem gallischen Krieg
nichts zu tun hat, erwähnt, liegt auf der Hand: er will die guten Freunde der Helvetier und Teilnehmer an ihrem Zug den er selbst verhinderte als möglichst gefährliche Feinde Roms erscheinen lassen, als aggressive Gegner der Noriker, der alten Freunde Roms. Er bemüht sich ja auch sonst, die Aggressivität, Gefährlichkeit und Machtsucht der Helvetier herauszustellen und ihre alte Feindschaft gegen Rom zu betonen."
Gerhard Dobesch, Wien"OPPUGNARANT" ODER "OPPUGNABANT" Zum Text von Caesar b.G. 1, 5,4 und dem Angriff der Boier auf Noreia,.
Nach Strobels Auffassung hat der Boier-Komplex (zit.) in Gallien nichts mit den pannonischen Boiern zu tun.
3. Die Geographiká Strabons: Strobel referiert ausführlich auch zu den Quellen Strabons, und stellt dabei Poseidonios in den Vordergrund.
Die bruchstückhaften Kenntnisse und Auffassungen der alten griechischen Ethnoghraphie über das nördliche und östliche Mitteleuropa fasse ich kurz zusammen: die Donau / Istros verlaufe von West nach Ost in einer geraden Linie - auch Strabon habe keine Kenntnis vom Donauknie gehabt -in der alten Vorstellung der Donauquelle über der Adria ist der Unterlauf der Mur (Zufluss der Drau) Teil der Donau (der sogenannte Argonautenweg verlief südlich zur Save). Entsprechend dieser Grundachse würden alle weitere Gebirge parallel zum Istros von den Alpen bis zum Haimus (Balkangebirge) verlaufen (und wachsender Abstand zur Grundlinie mit einem Abknicken der Gebirge nach Norden /links - z.B. der Karpaten - erklärt). Alle Zuflüsse rechts der Donau laufen von Süden nach Norden, die West-Ost-Richtung der Drau und der Save ist bei Strabon nicht vorhanden, er lässt die Save (Sauos) in den Drauos (Drau) fließen, die Drau bei Segestike in den Noaros fließen (eigentlich fließt dort die Kupa in die Save), dieser würde bei den Skordiskern in die Donau fließen (Strab. 7,5,4). Stobel meint, der Grenzfluss der Skordisker könne nur die tatsächlich vom Süden nach Norden jedoch in die Save fließende Drina sein. Auch Orte wie Segistika (zu weit westlich) verortet Strabo falsch, er kann neuere Informationen (z.B. bei ihm in 4,6,10 zum Handelsweg von Aquileia zur Donau) nicht in eine alte geographische Vorlage korrigierend einbauen, und so entstehen falsche Größenvorstellungen von Landschaften und Räumen wie Pannonien in der Nord-Süd- und Ost-Weststreckung), und eine schwierige Lokalisierung von Stämmen im mittleren Donauraum (die oft an Flüssen als Grenzen verortet werden).
4. Für die Boier-Einöde vermutet Strobel Tigamens von Alexandria als Vorlage (Perì Basilèon), der zu Dramatisierungen und polemischen Übertreibungen neige. Er korrigiert die Überleiferung in Lacus Peiso, den Neusiedler See, statt dem Lacus Pelso (Plattensee, Balaton), und macht auf die verderbte Aufzählung und Lücke in der Aufzählung der nordalpinen Stämme aufmerksam (Strab. 7,1,5): dieser Abbruch hätte zu einer Vorstellung einer extrem großen Boier-Einöde eines ehemals großboischen Reichs geführt. Die Boiereinöde ist die westliche Grenze von Pannonien, und die östliche der Boier. Strobel argumentiert jetzt archäologisch, und scheidet die Regionen aus, die aufgrund dichter Bevölkerung und Siedlungslandschaften für eine deserta boiorum ausscheiden. Das Ödenburger Becken um Sopron, genauso wie das Leitha-Gebirge, weder an der mittleren und oberen Raab oder auch das Wiender Becken, nirgends findet sich eine Einöde: "Zudem setzte sich die Produktion und Gebrauch von typischer laténezeitlicher Keramik im ländlichen pannonischen Raum bis in frühflavische Zeit, teilweise sogar bis in die erste Hälfte des 2.Jahrhunderts n.Chr. fort. Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die spätkeltischen Hüttenreviere im mittleren und südlichen Burgenland sowie in der Nordoststeiermark bis zum Aufschwung Kärntens als Quelle für Eisen- und Stahlimporte nach Italien erst nach Mitte des 1.Jahrhunderts v.Chr. zweifelos das keltische Eisen lieferten, das auf der Bernsteinstraße nach Italien verhandelt wurde...; hier kann von einem ausgesprochen vorindustirellen Wirtschaftsraum gesprochen werden Die Kontinuität reicht in römische Zeit. Das Zentrum dieser leistungsstarken Eiseninudstire liegt im Bereich der drei befestigten Oppida von Schwarzenbach, Scarbantia/Sorpon-Burgstall und Velem-St.Vid." Strobel meint, dass die Boier-Einöde das Gebiet östlich der pannonischen Bernsteinstraße wäre, der Landstrich vom südlichen und östlichen Ufer des Neusiedler Sees, über das Niedermoorgebiet von Hanság bis zum unteren Raab, Sokoró-Hügelland und Flußgebiet des Marcal erstreckte. Diese Landschaft der Steppenzone mit Feucht - und Überschwemmungsgebieten wäre seit dem Neolithikum nur dünn besiedelt.
5. Die Dakerniederlage, so Strobel, wäre übertrieben, der Konflikt hätte sich im Donau-Theißraum abgespielt, das Dakerreich habe sich auch archäologisch nicht nachweisbar ausgedehnt.