Zehn Prozent der Europäer haben in ihren Genen eine Mutation, die sie vor HIV schützt. Das Virus dringt über einen besonderen Rezeptor (CCR5) in seine Zielzellen ein, die Mutation verhindert, dass der Rezeptor überhaupt entsteht. Einen vergleichbaren Schutz gibt es weltweit nicht, auch in Europa ist er eigenartig verteilt: 14 Prozent der Nordeuropäer sind mit der Mutation ausgestattet, nach Süden hin dünnt sie sich aus, auf Sardinien haben sie nur vier Prozent.
Als Reaktion auf HIV kann sie nicht entstanden sein, so rasch antworten Gene ganzer Populationen nicht auf eine Attacke. Also muss früher einmal ein anderer Krankheitserregers angegriffen haben, der auch an CCR5 ansetzt: Aus dieser Zeit muss der heutige Schutz vor HIV stammen.
Aber wann attackierte was? Es gibt gleich drei Hypothesen: Pest, Pocken oder etwas, was zwar "Pest" heißt, aber keine war. 1346 fiel der "Schwarze Tod" erstmals über Europa her, von Sizilien her zog er nach Norden, nach drei Jahren waren quer durch Europa 25 Millionen Menschen tot, 40 Prozent von allen. 1655/1656 starben noch einmal 20 Prozent, 1750 forderte diese Krankheit das letzte Opfer. Diese Krankheit? Man hielt sie für die Beulenpest, die von einem Bakterium übertragen wird - Yersinia pestis -, das seinerseits von Ratten verbreitet wird, in Murnaus "Nosferatu" sieht man sie vom Totenschiff herunterklettern.
Haben sie dafür gesorgt, dass die Mutation sich durchsetzte? Man vermutete lange, dass Yersinia, obwohl ein Bakterium, denselben Rezeptor ansteuert wie HIV. Aber das tut es nicht, die Pest-Hypothese wurde von der Pocken-Hypothese abgelöst. Diese Viren setzen an CCR5 an. Und sie wüteten auch lange in Europa, von 1347 bis 1970. Allerdings forderten sie nie so viele Tote auf einen Schlag, und zuerst traten sie in einer milden Form auf. Tödlich wurden sie erstmals 1628, auch dann hielten sich die Opferzahlen in Grenzen, erst ab 1710 starben in London über tausend Menschen im Jahr, ab 1800 wurde geimpft, die Zahlen gingen wieder zurück, heute sind die Pocken als einzige Infektionskrankheit ausgerottet.
Aber: Wie lange muss eine Krankheit in einer wie großen Population grassieren, bis zehn Prozent der Mitglieder eine schützende Mutation haben? Vertreter der Pocken- Hypothese rechnen mit 600 Jahren Pocken und kommen auf zehn Prozent (Pnas, 100, S. 15276). "Effektiv wirksam waren die Pocken nur von 1700 bis 1830", erklären hingegen Christopher Dancun und Susan Scott, University School of Biological Sciences, Liverpool: Maximal ein Prozent der Bevölkerung habe die Variante in diesem Zeitraum ererben können (Journal of Medical Genetics, 42, S. 205). Die beiden favorisieren eine dritte Variante: Der "Schwarze Tod" sei gar nicht die Beulenpest gewesen, sondern ein Virus, das Blutungen hervorruft, ähnlich wie Ebola - eine unbekannte "Blut-Pest". Dafür spricht manches, Ratten waren für das Ausbreitungsmuster der Pest viel zu langsam, sie ging von Mensch zu Mensch.
Zwar kann auch die Pest direkt übertragen werden - wenn sie von der Beulen- zur Lungen-Pest wird, aber dann tötet sie so rasch, dass niemand mehr reisen und die Krankheit weit verbreiten kann. Was auch immer beim "Schwarzen Tod" tötete, es ließ und seiner Verbreitung Zeit, brauchte (maximal) 40 Tage, man bemerkte es rasch, daher kommt die Quarantäne. Dancun/Scott haben durchgerechnet, welchen Selektionsdruck ein solches Virus über tausend Jahren ausgeübt haben könnte - und kommen just auf die zehn Prozent, im Norden mehr, weil sich die Krankheit dort länger hielt.