Ich bin vor kurzem auf den Namen Lloyd DeMause gestoßen, den Begründer der sogenannten Psychohistorie. Zunächst dachte ich, dass hier offenbar seelische Grundbefindlichkeiten verschiedener Kulturen zum Gegenstand gemacht werden. Weit gefehlt: offenbar geht es dem Autor um eine Geschichtsdarstellung, die aus den traurigen Befunden des Kinderelends irgendwelche bedeutende Schlussfolgerungen für die gesamte Geschichte der Menschheit ziehen will; genau verstehe ich allerdings seine Absichten nicht. [...] Vielleicht weiß jemand mehr über ihn - auch was die Einschätzung seiner Arbeit betrifft, die offenbar in der Fachwelt widersprüchlich ist.
Naja, ich hatte mal vor langer Zeit die Abhandlung von De Mause gelesen, worin er seine psychogenetische Theorie erstmals vorstellte, also in seinem Buch, das du im folgenden auch
erwähnst. Ich hab's mir gestern kurzerhand ausgeliehen und andere Bücher mehr.
Zunächst war ich der Auffassung, daß die von dir zitierte Textstelle nicht ganz so ausschlaggebend für seine Theorie sei. Plutarch ist zwar nicht der einzige antike Text zur Frage des sexuellen Mißbrauchs der entsprechenden Epoche, aber er zieht durchaus weitgehendere Schlüsse daraus, neuerdings denn sogar, daß die Menschen als inzestuösen Primaten bezeichnet:
Lloyd de Mause schrieb:
That incest is also traditional in the infanticidal mode is harder to prove conclusively, since what really happened in the family bed does not often leave historical traces. Yet all the records we have suggest that this was so. Man began, after all, as an incestuous primate--along with other primates, who remain incestuous today.
siehe
The History of Child Abuse
In der deutschen Ausgabe ("Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Theorie der Kindheit" von De Mause ("The History of Childhood" 1974) findet sich das Plutarch-Zitat auf
Seite 72. In dem vorhergehenden Absatz beginnt bei De Mause im Text thematisch die Auseinandersetzung mit der "Geschichte der Sexualität in der Kindheit" (S.71), die auf Schwierigkeiten stößt: 1. würden schon in den historischen Quellen die entsprechenden Fakten zurückgehalten und unterdrückt, 2. seien "die meisten Bücher, Manuskripte, und Artefakte, die die Grundlage für unsere Forschung bilden, gar nicht zugänglich" (ebd.)
In den zugänglichen Quellen aber gäbe es "genügend Hinweise darauf, daß sexueller Mißbrauch von Kindern früher viel verbreiteter war als heute und daß die strenge Bestrafung von
Kindern wegen ihrer sexuellen Wünsche in den letzten zweihundert Jahren das Produkt eines späten psychogenetischen Stadiums war, in dem der Erwachsene das Kind dazu benutzte, seine eigenenen sexuellen Phantasien zu zügeln, statt sie auszuagieren." (ebd.)
Zunächst möchte ich noch etwas ausführlicher auf den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext der Enstehung der Psychohiostorie bemerken: Lloyd de Mause hatte nach dem Erscheinen von Ariès' Kindheitsgeschichte in den USA Ende der
70er Jahre eine Arbeitsgruppe gegründet, deren Ergebnisse in dem Buch "History of Childhood" (1974) und in der erstmals 1973 erschienen gleichnamigen Vierteljahreszeitschrift veröffentlicht wurden. Wichtig ist im Grunde, daß der damit vorgelegte Zugang zur Geschichte der Kindheit im Umfeld der Psychoanalyse steht - so wurde die Arbeitsgruppe um De Mause auch von der Association of Applied Psychoanalysis unterstützt (vgl. Edmund Hermsen, 1997, S. 54, Anm. 7) Nun heißt es bei Wikipedia, daß er Psychologe sei, was in den USA keinen so großen Unterschied macht, da dort die Psychoanalyse - anders als in Deutschland - von der Psychologie nicht abgegrenzt wird. Des weiteren heißt es, daß er Politologie (meint hier: Political Science) studiert hatte.
Friedhelm Nyssen (2003) geht der Überlegung nach, daß Lloyd de Mause wahrscheinlich von Haus aus eine Art Sozialisationstheorie im Sinne einer psychoanalytisch orientierten
Sozialpsychologie oder einer weniger kritischen wie derjenigen von Talcott Parsons vertrat. Ich halte das für unwahrscheinlich, dafür ist er zu sehr Psychoanalytiker und es ist interessant, daß sich Heinz Kohut - der spätere Begründer der sog. Selbstpsychologie - sich in den 1970er Jahren in der Psychoanalyse durch Publikationen einen Namen, indem er das
Konzept der narzißtischen Besetzung entwickelte. Dieser Begriff definiert einen psychischen Vorgang, indem man ein Objekt (Dinge oder Menschen) als zum eigenen Selbst gehörig erlebt.
Demnach haben solch narzißtisch besetzten Objekte eine psychische Funktion im Selbstregulationssystem eines Subjektes. In der deutschsprachigen Literatur hat Alice
Miller den Gedanken konsequent weiterentwickelt, indem sie sich auch auf andere Theorien (etwa die von Winnicott) stützte: Wenn man einen Gegenstand oder Mitmenschen narzißtisch
besetzen kann, d. h. als Teil seines eigenen Selbst erleben kann, dann sind es vor allem Kinder, die hier vorzügliche Objekte abgeben, da sie je jünger und kleiner sie sind, eine
um so größere und wehrlosere Projektionsfläche abgeben. Je stärker die narzißtische Besetzung im Umgang mit Kindern ausfällt, desto weniger nimmt man sie in ihren eigenen
Bedürfnissen wahr. Von solch einer Vorstellung geht auch L. de Mause aus, er benutzt nur eine andere Terminologie. Er spricht anstatt von narzißtischer Besetzung etwa von "projektiver Reaktion", wobei man dem Kind die eigenen Gefühle, Wünsche und eben auch sexuelle Gedanken zuschreibt.
Ich muß noch erklären, was denn eigentlich das Interessante für mich ist und warum ich auf H. Kohut und A. Miller hinweise: Beide wendete sich im Laufe ihrer Publikationen von Freuds
Triebtheorie ab, und ähnliches klingt auch bei De Mause, wenn er bezüglich der Sozialpsychologie von einem "basic Hobbesian Modell of Society" und einer "ahistorical drive-based psychology" spricht (De Mause, The Psychogenetic Theory of History, 1997; zit. nach Nyssen, 2003, S.19).
Nun ist es eine Sache, wenn Psychoanalytiker aus ihrer klinischen Erfahrung berichten und Kindheitsgeschichten rekonstruieren können, um bestimmte Verhaltensweisen zu erklären, so stellte De Mause schon 1974 (dt. 1977) als psychoanalytische grunderkenntnis fest, daß die
Kindheitserfahrungen mit ihren primären Bezugspersonen die Grundlagen der späteren Persönlickeit bilden (dt., S.14). Es ist auch möglich, die psychoanalytische Methode auf
historische Quellen anzuwenden. Nur die Art und Weise, wie Lloyd de Mause es macht, ist tatsächlich problematisch. Dies wird insbesondere in der Kritik von Friedhelm Nyssen (2003)
deutlich, der die neue Perspektive durchaus schätzt, die durch De Mause in die Geschichtswissenschaft eingeführt wurde, aber er sieht eine sture Einseitigkeit im Anspruch der Psychohistorie als unabhängige Wissenschaft. Der psychohistorische Ansatz kann nicht die Sozialpsychologie oder Soziologie oder die Geschichtswissenschaften ersetzen, wie wohl
De Mause dezidiert meint, sondern kann als eigene Disziplin höchstens Teilaspekte der Geschichte beleuchten. Inwieweit man den Ansatz von De Mause nutzen kann, zeigt Nyssen im
übrigen in verschiedenen Arbeiten, aber ebenso wo seine Grenzen liegen und wie er zu erweitern sei.
Immerhin gibt De Mause ([1974] 1977) auch zu, daß in seinem Theorie-Entwurf eine Voraussetzung gemacht werde, nämlich "daß die zentrale Antriebskraft historischen Wandels
[...] in den 'psychogenen' Veränderungen der Persönlihckeits- und Charakterstruktur, die sich aufgrund der Generationsfolge der Interaktion zwischen Eltern und Kindern ergeben."
(S.14) Er hatte also eine Arbeitshypothese, mit deren Hilfe er das historische Material über Kindheit ordnet. Es scheint hier je zu keiner Revision gekommen zu sein. Friedhelm Nyssen (2003) wirft ihm denn im Ausbau seiner psychogenetischen Theorie zunehmende Abstraktheit vor, statt weitere Detailanalyse und Theoriemodifikation.
In diesen Zusammenhang kann man auch die Quellendiskussion Nyssens (1984) erwähnen, um zum Thema des sexuellen Mißbrauchs überzuleiten. Er hat für die Analyse des wissenschaftlichen Apparates bei De Mause ([1974] 1977) ein Bewertungssystem entwickelt, wobei er bezüglich der von De Mause benützten Quellen zu dem Ergebnis gekommen wie folgt zu klassifizieren:
- 13 als "verifizierend"
- 14 als "eher verifizierend"
- 6 als "schach verifizierend"
- 2 als "außerhalb des Zusammenhangs"
- 2 als "Pseudoillustration"
- 3 als "eher falsiefizierend"
- 2 als "falsifizierend"
Man muß natürlich sagen, daß es sich bei diesen "Quellen" auch um Literaturhinweise auf Arbeiten handelt, die sich manchmal auch nur auf irgend eine Art und Weise mit dem Thema des Umganges der Erwachsenen mit Kindern in der Geschichte handeln und daß Nyssen (1984) lediglich 42 Quellen davon eher zufällig ausgewertet hat. Ich habe die Analyse natürlich
noch nicht komplett gelesen, sondern nur bezüglich des hier in Frage stehenden sexuellen Mißbrauchs von Kindern im Altertum, und just hier findet sich eine "eher falsifizierende"
Einschätzung, leider nicht in bezug auf eine Primärquelle (etwa Plutarch), sondern lediglich zu einer Sekundärquelle:
Lloyd de Mause schreibt in seinem Essay über die "Evolution der Kindheit" ([1974] 1977) zunächst pauschal, daß "das Kind [in der Antike] in den ersten Lebensjahren in einer Athmosphäre sexuellen Mißbrauchs [lebte]" (S.71), bzw. er behauptet quasi, daß es in Griechenland oder Rom eben oft üblich gewesen wäre, als Heranwachsender "von älteren Männer sexuell mißbraucht zu werden." (ebd.) Dann verweist er darauf, daß es in auf Kreta und in Böotien "päderastischen Heiraten und Flitterwochen" gab. Er erwähnt auf Rom etwas genauer: "Bei aristokratischen Jungen in Rom waren Mißhandlungen nicht so häufig, aber die
Heranziehung von Kindern zu sexuellem Gebrauch zeigt sich in der einen oder anderen Form überall." (S.71)
Am Ende dieses Satzes findet sich eine Anmerkung bzw. eigentlich: allgemeine Literaturhinweise auf insgesamt acht Publikationen verschiedener Autoren über das Thema der Sexualität in der Antike, u. a. auf Hans Licht, "Sexual Life in Ancient Greek." New York, 1963 - in Bezug auf Rom übrigens auf "Love in Ancient Rome" von Pierre Grimal Nun war Nyssen anscheinend nur das Buch von H. Licht in der dt. Ausgabe zugänglich.
Für die Aussage von De Mause kommt Nyssen bezüglich dieses Verweises zu der Einschätzung, daß De Mause diesen Autoren nicht als Belegstelle anführen dürfte, da der Autor in seinen
Ausführungen über die altgriechische Knabenliebe gerade betont, daß das Wort "Knabe" m. E. irreführend ist: Das Wort "Pais", das in der Kombination paidophilein ("einen Knaben lieben") bezeichne nach Licht stets "geschlechtsreife Knaben", also "solche, die die
Pubertät hinter sich hatten. Dieses Alter allein bedeutet das Wort Pais (Knabe) in weitaus den meisten Stellen griechischer Autoren, soweit sie hier in Frage kommen", wenn es nicht
sogar ("in nicht wenigen Fällen") das Jünglingsalter bezeichnet oder mehr noch ("nicht selten") dem Alter eines jungen Mannes entspricht. Schließlich zitiert Nyssen auch Lichts Angabe, daß das nämlich, was wir heute unter Knabenlieben verstehen wollen, nämlich vornehmlich den sexuellen Umgang mit einem noch nicht geschlechtsreifen Jungen, auch im antiken Griechenland z. T. streng bestraft wurde.
Wie gesagt handelt es sich nur um eine QUellenanalyse von acht möglichen, aber De Mause macht dadurch doch einen seltsamen Eindruck, als daß vor den in der Anm. (239) zahlreichen
Literaturhinweisen steht: "Weitere bibliographische Angabe bei:" und als erster Hinweis eben das Buch von Hans Licht angeführt wird.
Jetzt ist der Beitrag sehr lang geworden, und ich beende ihn für heute an dieser Stelle.
Lit.
Edmund Hermsen: "Ariès 'Geschichte der Kindheit' in ihrer Mentalitätsgeschichtlichen und psychhistorischen Problematik." in: Friedhelm Nyssen & Ludwig Janus (Hg.), Psychogentische Geschichte der Kindheit. Beiträge zur Psychohistorie der ELtern-Kind-Beziehung. Gießen: Psychosozial-Verlag, 1997, S.127-158
Friedhelm Nyssen, "Die Geschichte der Kindheit bei L. de Mause" (Europäische Hochschulschriften. Reihe XI: Pädagogik, Band 233, Ffm u. a., Verlag: Peter Lang, 1984)
F. Nyssen & Peter Jüngst (Hg.), "Kritik der Psychohistorie" Gießen: Psychosozial-Verlag, 2003; darin: Einleitung und "Die 'unabhängige Psychohistorie' - eine immerwährende Abstraktion" (S.79-134)