Elisabeth Badinter [...]:
L'Amour en plus. L'Histoire de l'amour maternel.XVIIe-XXe siècle (Paris: Flammarion, 1980) - [...]
Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. (München: Piper, 1981)
[...] Nach eher allgemeinen Überlegungen kommt Badinter sehr schnell auf die Ammenpraxis zu sprechen; in Paris eröffnete das erste bureau de nourrices im 13. Jahrhundert, freilich für aristokratische Familien. Bis ins 16. Jh. hält Badinter die Ammenpraxis noch auf die Aristokratie beschränkt. Die Gewohnheit, die Kinder in Ammenpflege zu geben, generalisierte sich bis ins 18. Jh. so, "daß es zu einem Mangel an Ammen kam." (S.46) - Die Autorin gesteht aber ein, daß sich das Phänomen historisch hauptsächlich erst für dieses Jahrhundert untersuchen lasse, denn gemäß einer königlichen Deklaration vom 9. April 1763 hatten Pfarrer ein Exemplar ihrer Jahresregister der Gerichtsbarkeit vorzulegen; für die vorhergehenden Epochen stehen hingegen hauptsächliche Mémoiren und Familienchroniken (livre de raison) zur Verfügung.
So erwähnt Badinter etwa Vivès und Erasmus, die beklagten den Ammenbrauch bei (adligen) Frauen und Montaigne schrieb in seinen Essais (2. Buch, Kp. 8):
"Il est aisé de voir par expérience que cette affection naturelle (amour parental) à qui nous donnons tant d'autorité, a des racines faibles. Pour un léger profit, nous arrachons tous les jours leurs propres enfant d'entre les bras de mères et leur prendre les nôtres en charge" (pg.55)/ "Indessen ist unschwer aus der Erfahrung zu sehen, daß diese natürliche Zuneigung der natürlichen Zuneigung (elterlichen Liebe), der wir ein so großes Gewicht beimessen, sehr schwache Wurzeln hat. Für einen geringen Lohn reißen wir täglich den Müttern ihre eigenen Kinder aus den Armen und geben ihnen dafür die unseren zum Stillen" (S.46 [nachträglich korrigiertes Zitat])
Badinter bemerkt, daß Montaigne nichts desto weniger selbst seine Kinder, bis auf seine jüngste Tochter, diese Praxis zuteil werden ließ und die Ausnahme ließ er nur widerwillig zu. Als bedeutsam erscheint der Hinweis aus einer Familienchronik: Die Gattin eines Parlamentsrates von Dole (Anatole Froissard), geb. Madeleine Le Goux, stillte im 16. Jh. ihre fünf Kinder selbst; als Eltern nahmen diese Ammen in Anspruch; die Enkelinnen wiederum, mittlerweile im beginnenden 17. Jh. angelangt, brachten ihre Kinder bei Ammen direkt nach der Geburt unter: "Die Autoren, die über diese Quelle berichten, stellen fest, daß also innerhalb von dreißig Jahren [...] diese Familie unwiderruflich von der Mode ergriffen wurde, die Kinder in Pflege zu geben." (S.47)
Die Quellenangabe erscheint unvollsträndig: Ich habe die vollständige bibliographische Angabe aber im Internet gefunden: Jacques Gelis, Mireille Laget, Marie-France Morel,
Entrer dans la vie. Naissances et enfances dans la France traditionelle. Paris: Gallimard, 1978 (wenn Madame Badinter nach derselben Ausgabe zitiert, siehe dort P.155); in dieser Arbeit sollen weitere ("zahlreiche") Quellen angeführt werden. Als weiterer Literatur wird genannt: Jean Ganiage, "Nourissons parisiens en Beauvaisis."
Sur la population francaise au XVIIIe et au XIX Hommage à Marcel Reinhard. Paris 1973 - diese Studie wird etwa von Marcus Meumann zitiert (
Findelkinder, Waisenhäuser ... - Google Bücher) in bezug auf die verbreitete Ammenpflege in Frankreich [...].
Bei Badinter heißt es weiter, daß sich die Ammenpflge erst im 18. Jh. in so ziemlich allen städtischen Schichten verbreitete; und nicht nur in Paris; aufgrund wohl der Größe der französischen Hauptstadt und damit auch einer hohen Bevölkerungsdichte, sowie ihrer kulturellen und politischen Bedeutung, klingt es bei Badinter durchaus plausibel:
"Wie gewöhnlich gibt Paris das Beispiel, indem es seine Kleinkinder weit fortschickt, manchmal bis zu 50 Meilen von der Hauptstadt entfernt, in die Normandie, nach Burgund oder in das Beauvaisis."
[...] "Im Jahre 1780 werden von den 21 000 Kindern, die jährlich in der Hauptstadt geboren werden (bei einer Bevölkerung von 800 000 bis 900 000 Einwohnern), weniger als tausend von ihrer Mutter und tausend von einer im Haus lebenden Amme gestillt. Alle übrigen, also 19 000, werden in Pflege gegeben. Von diesen 19 000, die einer Amme außerhalb des Elternhauses anvertraut werden, wurden 2000 bis 3000, deren Eltern über beachtliche Einkünfte verfügten, in der näheren Umgebung von Paris [banlieu proche] untergebracht, die anderen, die weniger begütert waren, wurden in die Ferne [au loin] verbannt [rélégué]." (S.48) Die Bezugsquelle dieser Zahlenangaben ist ein zeitgenösissches Dokument: Détails sur quelques établissements de la ville de Paris demandés par sa Majesté Impériale, La Reine de Hongrie, à L. Lenoir, lieutenant général de police, Paris, 1780.
[...] Badinter arbeitet soweit historisch [...], von Gleichgültigkeit als Erklärung für das von ihr beschriebene Phänomen der Weggabe, kann keine Rede sein, wenn das Wort freilich durchaus auch in den allgemeinen, eileitenden Überlegungen zur Überschrift des Kindes als Last im Kapitel auftaucht; aber das erspare ich mir, tut hier nichts zur Sache. Ferner thematisiert Badinter auch die Kindersterblichkeit, die insofern in den niederen Schichten höher war, weil die Ammen wiederum auch nur schlecht bezahlt werden konnte. Wie dem auch sei, es werden weitere Quellen und Untersuchungen genannt für andere Städte; auch nach Gesellschaftsschichten bzw. Berufsklassen aufgesplittet, wobei es auch zu regionalen Unterschieden kommt.
Also ursprünglich ein Phänomen der Oberschicht in Frankreich, wird die Ammenpflege durchaus ein breites Phänomen in allen Gesellschaftsschichten, allerdings aus unterschiedlichen Gründen (in den unteren Schichten etwa vornehmlich ökonomische Gründe), was an der "Mode" nichts ändert! Badinter erwähnt aber eine "erhebliche Ausnahme" : die Bauernschaft; aber dazu schreibt sie dann nicht allzu viel, sie hat ja eine andere Perspektive und Grundthese, die sie in diesem Buch entwirft, wobei die Ammenpraxis nur ein bestimmter Punkt ist, der dabei zu diskutieren ist.
Kurz zur Beurteilung: Bauchschmerzen bekommt man bei Elisabeth Badinter möglicherweise beim Thema, um das es geht, da unbequem; an ihrer Arbeitsweise aber ist nicht auszusetzen ! [...]