Inwieweit können die archäologischen Erkenntnisse, aber auch die wenigen Namen, die uns überliefert worden sind, wie z.B. Ingwäonen, Herminone usw..., den Blick durch diese römische Brille ergänzen?
Was meinst du denn, bringe dir die Namensüberlieferung über den Umstand, dass die Namen überliefert sind, hinaus?
Oder ist das nach wie vor ein Blick durch die römische Brille, weil überhaupt nur anhand der schriftlichen Quellen geforscht und die Ergebnisse interpretiert werden?
Hier musst du archäologische und historische Methoden voneinander unterscheiden. Natürlich sind Archäologen auch Historiker (zumindest wird das im deutschen Sprachraum mehrheitlich so aufgefasst, in Amerika sind Archäologen häufig eher den Soziologen bzw. Ethnologen zugerechnet). Es wird ja gemeinhin zwischen
Prähistorie/Vor/Urgeschichte und
Historie/Geschichte unterschieden. Historie ist demnach alles, zudem Schriftquellen vorliegen, Prähistorie ist das, wozu keine Schriftquellen vorliegen, weil es eben
prae - oder
vor der Schrift und damit auch der historischen Dokumentation liegt. Verfeinert gibt es dann noch die
Protohistorie/Frühgeschichte, was auch unsere Germanendiskussion und deine Frage betrifft.
Man kann an vielen Unis
Ur- und Frühgeschichte studieren, das ist ein
archäologischer Studiengang, abgehoben z.B. von der
klassischen Archäologie, die sich vorwiegend mit den Mittelmeerkulturen befasst. Es gibt dann noch weitere Abstufungen, wie etwa
provinzialrömische Archäologie,
christliche Archäologie oder
(Früh)Mittelalterarchäologie und neuzeitliche Archäologien (wobei es dafür meines Wissens keine eigenen Studiengänge gibt, z.B. Industriearchäologie).
Was unterscheidet nun genau die Protohistorie von der Prähistorie? Die Prähistoire ist alles von der Altsteinzeit bis vor dem Einsetzen einer ersten schriftlichen Überlieferung. Die Protohistoire begreift dagegen einen Zeitraum, in dem wir erste Schriftzuegnisse, aber keine eigenen Texte haben, z.B. Runeninschriften, bzw. einen Zeitraum, aus dem wir die Geschichte eines Volkes zwar aus schriftlichen Quellen kennen, aber diese Quellen nicht von diesem Volk selbst geschaffen wurden, sondern nur eine Außensicht (wie z.B. die römische) darstellen. Vor diesem Hintergrund sind die Germanen bis ins 4. Jhdt. Teil der Frühgeschichte, weil wir keine schriftlichen Zeugnisse haben, die ihre Sicht der Dinge darstellen.
Methodisch unterscheidet sich die Frühgeschichte wenig von der Urgeschichte, dasselbe gilt für die provinzialrömische Archäologie oder die Frühmittelalterarchäologie. Was sie alle von der Urgeschichte unterscheidet, ist, dass man Textquellen heranziehen kann, was aber nicht ganz unambivalent ist, da das immer die Gefahr birgt, dass man fehlinterpretiert. Auf der anderen Seite wäre es fahrlässig, eine Quellengattung auszuschließen.
Wenn jemand also einen "germanischen" Fundplatz vor sich hat, dann ist zunächst einmal zu fragen, worum es sich handelt: Eine Festung? Eine Siedlung? Ein Gräberfeld? Ein Schlachtfeld? Ein Kultort? Etwas anderes?
Bei einer Sieldung oder einem Gräberfeld kann man den Zeithorizont feststellen: Wie lange war die Siedlung/das Gräberfeld in Nutzung, wie ist sie/es gewandert? Welche Veränderungen gibt es z.B. bei Bestattungssitten (etwa Übergang von der feuer- zur Körperbestattung), man kann die Mikroökonomie des Dorfes untersuchen und bei genug Daten auch die Makroökonomie (also Beziehungen des Dorfes in seine nähere und weitere Umwelt) auch ggf. politische Abhängigkeiten (dazu bedarf es natürlich eines sehr reichhaltigen Datenmaterials und de facto ist das auch etwas, was die Archäologie in der Theorie leisten kann, was aber in der Realität bzw- Praxis kaum geleistet wird bzw. kaum geleistet werden kann, jedenfalls kaum von den Amtsarchäologen,
vielleicht von Bacheloranden oder Masteranden in einer entsprechend gestellten Abschlussarbeit oder Professoren bzw. sonstigem dauerhaft festangestelltem wissenschaftlichen Personal an der Uni).
Wir wissen z.B. dass die Bevölkerungen des Saaletals in der Bronzezeit Handeslbeziehungen an die Ostsee unterhielten und über Ungarn nach Mykene. Und die Mykener unterhielten Handelsverbindungen an den Nil. Das wissen wir
nicht aufgrund schriftlicher Überlieferungen, sondern anhand archäologischer Funde.
Die Scherbe sagt dir nicht: "Mich hat zuletzt ein Hermundure in der Hand gehabt". Allenfalls kannst du, davon ausgehend, wie die Scherbe zu datieren ist und wie angenommen wird, dasss zu diesem Zeitpunkt ungefähr die Stammesgrenzen verliefen, sagen, dass sie vermutlich in einen hermundurischen Kontext gehört. Wenn du sie einer bestimmten Werkstatt zuordnen könntest, könntest du ggf. auch etwas über Handelsverbindungen in Erfahrung bringen.