Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts wurde nicht in der Absicht erfunden, soziale Gruppen im Staatsinneren "abzugrenzen", sondern einen politischen Raum nach außen hin wehrhaft zu machen. Dahinter steckte der Gedanke der staatlichen Souveränität und der Wunsch, nicht zum Spielball fremder Mächte zu werden. Die ethnische Komponente ergab sich aus der Erkenntnis, dass Homogenität politische Einigkeit fördert. Das heißt aber nicht, dass das Volk in seiner Gesamtheit von vornherein Träger des Nationalstaatsgedankens war und dass Minderheiten nicht Teil der Nation sein konnten.
Du beziehst dich hier sehr stark auf die Begebenheiten in Zentraleuropa, im Besonderen den deutsch- und italienischsprachigen Raum, wo das im Hinblick auf die Klein- und Mittelstaaten sicherlich zutrifft.
Aber es entspricht nicht unbedingt der gesamteuropäischen Perspektive, denn wenn die primäre Triebfeder der Wunsch nach außenpolitischer Sicherheit und Wehrhaftmachung gewesen wäre, hätte sich dieser Gedanke innerhalb der großen Imperien Europas, die bereits sehr wehrhaft waren, nicht durchgesetzt.
Das absolutistische Frankreich und dann revolutionäre Frankreich, dass ein Vorreiter nationaler Ideen war, war seit 2 Jahrhunderten die stärkste Macht Europas und musst sicherlich nicht den Nationalismus als Abwehrreflex gegen die Gefahr entwickeln von größeren Mächten herumgeschupst zu werden.
In Frankreich waren die Implikationen am Ende des 18. Jahdhunderts eher nach innen gerichtet und lieferten vor allem eine Rechtfertigung dafür das Ständesystem zu schleifen.
Was dezidierte Absichten zur Abgrenzung im inneren des Staates angeht, wirf mal einen Blick auf die nationalistischen Strömungen innerhalb der Vielvölkerreiche in Osteuropa.
Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts konnte vieles sein.
- Er konnte eine ideologische Grundlage sein um dadurch den Untertanen durch den Staatsbürger zu ersetzen Rechte und das schleifen alter Hierarchien einzufordern.
- Er konnte eine Ideologische Grundlage sein um einen Raum zu vereinigen und zu organisieren-
- Er konnte eine Ideologie sein, die darauf abzielte einen bestehenden Zusammenhang aufzulösen mit dem Ziel kleinteiligere Raumordnungen zu etablieren.
Das hing letztendlich davon ab, wer sich seiner als Werkzeug bediente.
Das Streben nach einem starken Staat förderte bestimmte Ideale, so die der Einheitlichkeit des Staatsinneren, zu der auch die Homogenisierung der verschiedenen Volksgruppen gehörte.
Nur das der Nationalismus eben nicht immer eine Ideologie war um einen Staat zu stärken, sondern mitunter auch darauf hinauslief den Staat eher zu schwächen, nämlich dann, wenn sich der Nationalismus gegen den Staat richtete.
Nimm z.B. die Habsburgermonarchie: Der aufkommende Nationalismus der Ungarn (auch wenn der noch stark ein Elitenprojekt war) lief nicht darauf hinaus die Wiener Zentralmacht und den Habsburger Kaiser zu stärken, sondern darauf das Habsburger Länderkonglomerat zu dezentralisieren und unter jeden Versuch einer zentralisierten, neoabsolutistischen Herrschaftsausübung des Kaisers einen Schlussstrich zu ziehen.
Das wurde letztendlich 1867 erreicht, als die Zentralmacht des Kaisers mehr oder weniger abgeschaft und durch eine Aufteilung des Reiches in eher lose zusammenhängende Territorien ersetzt wurde.
Im 19. Jahrhundert gab es Wettbewerb, der durch strukturelle Revolutionen ausgelöst wurde. Traditionelle Berufszweige gerieten gewaltig unter die Räder, neue Berufszweige reüssierten. Man studiere nur die Entwicklung der Textilindustrie, der Stahlindustrie, des Kleinhandwerks, der chemischen Industrie, des Bankenwesens oder die der Landwirtschaft.
Man studiere sie aber gründlich: Z.B. wurde mit der Einführung von Gewerbefreiheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast überall in Europa theoretisch die Grundlage für einen umfassenden Wettbewerb geschaffen.
In der Praxis sah das aber vielfach anders aus, weil vor Ausbau von Eisenbahn, Einführung von Dampfschiffahrt etc. wegen der hohen Transportkosten (jedenfalls auf dem Landweg) fortschrittliche Produktionsmethoden und niedrige Gestehungskosten nicht unbedingt zu handfesten Vorteilen auf Märkten gegenüber anderen Anbietern führten, weil schlechte Verkehrsanbindungen und hohe Transportkosten das alles egalisieren konnten.
In diesem Sinne waren rückständig agierende Anbieter zwar nicht mehr von Zunftprivilegien u.ä. geschützt, die es verboten bestimmte Waren auf bestimmten Märkten feilzubieten, aber immernoch dadurch dass viele Märkte für bestimmte Waren physisch nicht oder nur unter erheblichem Kostenaufwand erreichbar waren und das unterband de facto vielfach fairen Wettbewerb der Produzenten und Händler, auch wenn er auf dem Papier existierte.
In der Landwirtschaft im Besonderen im Osten, wo bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Feudallasten existierten und wo die Kosten der Bauernbefreiung, in Form der Entschädigung der ehemaligen Grundherren auf die Bauern selbst abgewälzt wurden und diese nicht selten finanziell in den Ruin trieben, kann wenigsten sin der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts von flächendeckendem einigermaßen fairem Wettbewerb nach marktwirtschaftlichen Maßstäben schon überhaupt keine Rede sein.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts änderten sich die Dinge langsam, aber für die ersten 2/3 des 19. Jahrhunderts existierte das allenfalls in Rudimenten.
@Shinigami Der Nationalstaatsgedanke war der Hebel, um Reformen leichter umsetzen zu können. Wo eine Währung existiert, eine Sprache, eine einheitliche Grenze nach außen, ein Wahlrecht, ein Militär, ein Bildungssystem etc. lässt sich ein Land leichter voranbringen.
Grundsätzlich kann man ihn so verstehen, aber wie gesagt, weite den Blick mal auf eine transnationale Betrachtung Europas im 19. Jahrhundert aus.
Die Implikationen wozu das im einzelnen dienen oder auch nicht dienen konnte, waren je nach Land sehr verschieden und für die großen Imperien Osteuropas, war das kein Hebel zum Fortschritt, sondern reines Gift, weil hier sehr heterogene Räume verwaltet und modernisiert werden mussten, die sich nicht ohne weiteres angleichen ließen.
Ein großflächiges inhomogenes Imperium lässt sich nur mit sehr flexiblen Herrschaftsmethoden einigermaßen stabil regieren und genau dieses Bedürfnis, lief den Zentralisierungs- und Homogenisierungstendenzen des Nationalismus und des Nationalstaatsgedankens zuwider.