Nur um das klarzustellen: Ich selber vertrete nicht die Thesen von Seibert. Das einzige, was auch ich für wahrscheinlich halte, ist, dass die Verluste Hannibals bei der Alpenüberquerung wesentlich geringer ausgefallen sein müssen als bei L. oder P. geschildert.
Seibert postuliert genau das Aufrechterhalten von Nachschubrouten als Grund für Hannibals Kontingente. Er ignoriert aber, dass sich Hannibal später beim Vordringen nach Süditalien sich selber von diesen Routen abschnitt. Auch schickte Hannibal im Jahre 215 seinem Bruder Mago nach Karthago und bittet um Verstärkung. Später ist klar, dass diese nicht kommt, sondern nach Spanien geht. Warum holt Hannibal, da er Verstärkungen braucht, jetzt nicht die nutzlos gewordenen Kontigente zu sich? Weil er für Hasdrubal den Weg offen halten will (Seibert)?
Seibert ist bemerkenswert. Er bringt gleichzeitig das ausführlichste Quellen- und Literatur Verzeichnis, geht aber auch weit über Quellenkritik hinaus und stellt vieles als gezielte Geschichtsfälschungen durch römische Fraktionen dar.
Im Falle der Alpenüberquerung nennt er sie Scipio Familie. Deren innenpolitische Gegner hätten diese massiv angegriffen, weil diese nichts gegen Hannibals Zug über die Alpen unternommen hätten. (Dabei geht es nicht darum, was die Scipios tatsächlich hätten tun können, sondern um die Diffamierung des im Nordabschnitt befehlshabenden Konsuls).
Daher hätten die Scipios Hannibals Verluste übertrieben und den Alpenzug als Unternehmen eines Hasardeurs dargestellt, der bereit ist, die Hälfte seiner Armee zu opfern. Das hätte Konsul Scipio nicht voraussehen können und er wäre daher unschuldig.
Beweise für die Geschichtsfälschung durch die Scipios bringt Seibert jedoch nicht. Seine Methode ist, das für wahr zu halten, was ein schlüssigeres Bild für die Ereignisse gibt als die Quellen, zumindest dann, wenn er Fehler und Ungereimtheiten in den Quellen findet.
Viele Quellen sind leider nicht erhalten, die gelehrte Fehde um deren Glaubwürdigkeit wurde durch gegensätzliche Überlieferung bei Livius
und Polybius ausgelöst. Der jahrzehntelange Streit über die Route, hat immer wieder durchaus interessante Impulse von Hannibal-begeisterten Laien wie dem britischen Arzt Marc de Lavis-Trafford, der jahrzehntelang das betreffende gebiet durchwanderte. Livius hat man klare Irrtümer nachweisen können, so dass im allgemeinen Polybius Darstellung als die authentischere gilt.
Die Frage, weshalb Hannibal so hohe Verluste erlitt- fast die Hälfte seiner Armee blieb buchstäblich auf der Strecke- ist interessant. Sein Bruder Hasdrubal überquerte 10 Jahre später ebenfalls mit einer Armee die Alpen und hatte dabei nur einen Bruchteil der Verluste zu verbuchen hatte. Das Argument Seiberts, Polybius und andere Autoren als Kostgänger der Scipionen habe die Verluste Hannibals übertrieben überzeugt mich nicht.
Polybius Bericht basiert vermutlich auf der Schilderung eines Teilnehmers, da nur ein solcher so ins einzelne gehende Detailkenntnisse über Topographie, Wetterlage und Atmosphäre verfügen konnte. Erstaunlicher finde ich, dass es Hannibal gelang, bei solchen Verlusten und Entbehrungen die Motivation und Kampfkraft seiner überaus heterogenen Armee aufrecht zu erhalten. Solche Verluste ähneln in ihren Dimensionen fast schon denen der Grande Armee bei ihrem Rückzug aus Moskau oder der Wehrmacht im Sommer 1944 bei Operation Bagration.
Dass antike Verlustzahlen oft übertrieben sind, ist bekannt. Es spricht aber doch einiges dafür, dass Hannibal tatsächlich empfindliche Verluste erlitt. Er hatte seiner Truppe seit dem Aufbruch 218 v. Chr. von Carthago Nova praktisch keine Ruhe gegönnt. Mitten aus Kämpfen in Nordspanien war er zu seinem großen Marsch angetreten. Nirgendwo hat er einen längeren Aufenthalt eingelegt, nicht mal angesichts der Alpen im Rhônetal. Die Armee war also schon durch Gewaltmärsche erschöpft, bevor sie überhaupt die Alpen erreicht hatte. Es gab Gründe, die Hannibal zu schnellem Handeln zwangen. Die Zeit arbeitete gegen ihn. Er durfte auf keinen Fall den Römern Zeit lassen, bis die ihren Aufmarsch beendet hatten und mit einem Expeditionskorps in Nordafrika landen konnten. Dass die Kämpfe mit Anrainern, Hunger, Erschöpfung, Strapazen, Unfälle und Krankheiten auf diesem Gewaltmarsch Hannibals Armee zusetzen mussten, hat schon Wilhelm Hoffmann 1962 in seiner Hannibal-Biographie betont. Dass Zahlenangaben antiker Autoren durchaus mit Vorsicht zu genießen sind, ist bekannt, ich halte aber wenig davon, Livius und Polybius grundsätzlich zu misstrauen.
Andererseits wusste Hannibal aber auch, dass die Gegend um die Poebene fruchtbar war und die dort ansässigen Kelten nicht gerade Freunde der Römer waren und bereit, sich mit Hannibal zu verbünden. Es klingt logisch, wenn Hannibal in einem gewagten Manöver Anfang August bis zum Wintereinbruch über die Westalpen zu marschieren und die Pläne der Römer vereiteln, die einen Angriff entlang der Küstenstraße der Gallia Narbonensis erwarteten. So logisch, dass man sich fragt, weshalb die Römer mit dieser Möglichkeit nicht rechneten.
Es war aber durchaus ein Zug ins Unbekannte, dem Alexanderzug vergleichbar. zwar lag das Ziel nicht irgendwo am Ende der Welt, es war aber bis dahin noch keiner mit einer Armee von Spanien nach Italien marschiert. Eine Offensive über die Pyrenäen und Alpen ins Herzland eines Gegners vom Kaliber der Römer überhaupt zu planen und den Mut, einen solchen gewagten Plan dann auch durchzuziehen, wobei das Unerhörte noch nicht mal die große Distanz war, sondern Hannibals fast völliger Verzicht auf rückwärtige Verbindungen.