Diese gab es, man hat zum Beispiel verbreitet, Hannibal und seine Männer wären Kannibalen.
Gut, dass Du das vorbringst, es zeigt nämlich sehr schön, wie wenig an Deiner Grundannahme, alle antiken Historiker würden nur römische Propaganda betreiben und Hannibal durch erfundene Geschichten möglichst schlecht machen, dran ist.
Polybios und Cassius Dio berichten, als Hannibal den Marsch von Spanien nach Italien plante und die Versorgung unterwegs als schwierig eingeschätzt wurde, habe einer seiner Unterfeldherren (Polybios nennt ihn Hannibal Monomachos) für unterwegs zu Kannibalismus geraten. Hannibal habe das jedoch verworfen. (!) Polybios schreibt dann noch weiter, dass davon auszugehen sei, dass allfällige Untaten der Karthager in Italien, die dem Hannibal vorgeworfen würden, zum Teil auf diesen Monomachos, vor allem aber die Umstände zurückgehen würden (und somit nicht auf Hannibal). Polybios (der mehr "römischer" Historiker war als Diodor) nimmt Hannibal also ausdrücklich in Schutz, und weder er noch Cassius Dio bezichtigen Hannibal des Kannibalismus.
Welche Situation haben wir 203? Wir wissen dass Hannibal abzog und nicht mehr wiederkam, aber konnten auch die Römer das wissen?
Natürlich nicht. Es erklärt aber nicht, warum es die Römer nicht schon in den 15 Jahren davor für sinnvoll gehalten haben sollten, die Italiker von einem Überlaufen zu Hannibal abzuhalten, indem sie verbreiten, er würde die zu ihm überlaufenden Italiker ohnehin nur massakrieren.
Eine perfekte Propaganda-Strategie wäre übrigens gewesen, Hannibal zu beschuldigen, er würde zu ihm geschickte Gesandte ermorden lassen: Damit hätte man nicht nur versuchen können, die Italiker von der Entsendung von Gesandtschaften abzuhalten, sondern man hätte auch Hannibal selbst damit so richtig schlecht machen können, denn die Verletzung des Gesandtschaftsrechts gehörte nach griechischer und römischer Auffassung zu den schlimmsten Freveln überhaupt - viel schlimmer als Massaker.
Generell stand Rom nach dem zweiten punischen Krieg vor der Aufgabe Gebiete zu romanisieren, die lange unter Hannibals Kontrolle waren und auch verdeckte Anhänger Hannibals wieder zu integrieren. Da eignen sich Greuelgeschichten hervorragend um Hannibals Nimbus zu zerstören.
Allerdings setzte Rom nicht auf eine Reintegration durch Überzeugung, sondern durch Härte. Noch in den Jahren nach Kriegsende wurde Süditalien jeweils einem der Praetoren als "Provinz" übertragen (und somit wie frisch unterworfenes Feindesland behandelt). Städte wurden degradiert oder ganz zerstört, und die Ländereien der Einheimischen wurden in großem Umfang enteignet, um darauf römische Kolonien anzulegen, sie reichen Römern zuzuschanzen oder daraus Gemeinland zu machen. Die Herzen der Italiker gewann man so sicher nicht, stattdessen setzte man auf Strafe und Überwachung. Anti-Hannibal-Propaganda kann man sich sparen, wenn man selber so mit den Italikern umspringt.
Wenn Hannibal im Jahre 203 noch 50 000 Mann gehabt hätte, dann wäre er als Mago in Nord Italien gelandet war sicher nicht inaktiv geblieben. Diese Zahl ist wohl übertrieben.
Ich wollte damit auch nicht sagen, dass ICH von dieser Zahl ausgehe. Aber antike Autoren haben, wenn sie keine brauchbaren Zahlen über die Stärke einer Armee hatten, im Zweifel eher deutlich zu hoch geschätzt. Ich habe das nur angeführt, weil ich darauf mein Beispiel, wie Diodor (oder seine Quelle) auf ca. 20.000 Massaker-Opfer gekommen sein könnten, aufgebaut habe: Je größer man eine Armee schätzt, um so mehr Opfer kann man auch schätzen, wenn ein Teil davon massakriert wird.
Livius der grosse Verteidiger der Ehre Hannibals?
Natürlich nicht. Aber seine Darstellung des Massakers zeigt, dass es nicht darum ging, Hannibal durch bewusste Erfindung einer möglichst großen Opferzahl möglichst schlecht zu machen. (Denn sonst hätte Livius den Tempel unerwähnt lassen und stattdessen eine möglichst hohe Opferzahl nennen müssen.) Wenn überhaupt, dann wollte man ihn schlechtmachen, indem man ihm vorwarf, es in einem Tempel verübt zu haben.
Wenn ich Dich richtig verstehe, kennst Du die Grösse des Tempels und schätzt daraus, dass es nicht mehr gewesen sein können?
Natürlich kenne ich die Größe des Tempels nicht. Aber es ist doch wohl klar, dass in einen Tempel nicht 20.000 Mann passen. Wenn Livius also von einem Massaker im Tempel schreibt, begrenzt das die Zahl der möglichen Opfer auf die Zahl der Menschen, die in den Tempel passen. Somit hat ausgerechnet Livius Hannibal nicht angelastet, zigtausende Italiker abgeschlachtet zu haben.
Livius hat aber an andere Stelle gesagt das Hannibal den Tempel nicht entweiht oder nicht verletzt habe.
Die Diskussion darüber, ob mit "violare" die sakrale Verletzung des Tempels, also seine Entweihung, gemeint war oder seine physische Verletzung, also das Ausrauben bzw. Abdecken des Daches, hatten wir doch schon zur Genüge.
So weit ich weiß, wurden Disziplinarmassnahmen vor der gesamten angetretenen Truppe durchgeführt um deren abschreckende Wirkung zu entfalten, aber dazu war im Tempelbezirk wohl nicht genug Platz.
Das war bei den Römern so, aber nicht unbedingt bei den Karthagern. Den Quellen zufolge handelte es sich aber auch nicht um eine formell organisierte Disziplinarmaßnahme.
Im Übrigen habe ich schon im gesamten Thread immer wieder geschrieben, dass ich nicht unbedingt vom Tempel als Tatort ausgehe, sondern nur vom Massaker an sich.
Aber nehmen wir das mal für einen Moment so hin. Dann handelt es sich aber nicht um ein Massaker, sondern um die Hinrichtung einiger Deserteure oder schlimmstenfalls um eine Dezimierung.
Das wäre im Bereich des Möglichen, aber dann müßten wir den Titel dieses Themas wohl ändern, nicht wahr?
Den Threadtitel habe nicht ich gewählt.
Im Übrigen ist es Ansichtssache, ob man von einem Massaker spricht. Appian schreibt, dass Hannibal die Abtrünnigen unerwartet (also vermutlich zu einem Zeitpunkt, als sie nicht fertig gerüstet dastanden und somit wehrbereit waren) von loyalen Truppen umzingeln ließ und ihnen dann gestattete, zu versklaven, wen sie wollten. Den Rest ließ er niederhauen. Ebenso Diodor. Livius hält sich viel kürzer (auch nicht gerade Zeichen für eine propagandistische Absicht, die es eher nahelegen würde, alles möglichst ausführlich und grauenvoll zu schildern) und erwähnt lediglich in einem Gliedsatz (im Lateinischen in Form eines Ablativus absolutus, den man im Deutschen am besten mit " ..., nachdem ... getötet worden waren" auflöst), dass Hannibal Italiker, die sich in den Tempel geflüchtet hatten, töten ließ.
Aber immerhin stelle ich erfreut fest, dass wir uns einander annähern: Von mehr als ein paar Dutzend bis maximal wenigen hundert Toten bin auch ich nie ausgegangen.
Wenn man aus einer Disziplinarmassnahme mit Todesstrafe ein Massaker macht und die Zahl der Opfer von maximal wenigen hundert auf 20 000 übertreibt, dann hat das schon den Geruch von Diffamierung, Propaganda und absichtlicher Geschichtsfälschung - wer immer das auch getan haben mag- findest Du nicht?
Der Ausdruck "Massaker" (bzw. eine lateinische oder griechische Entsprechung) findet sich doch nicht bei den antiken Autoren, das ist eine moderne Wertung. Livius schreibt "interfectis", das - ganz wertungsneutral - "töten" bedeutet.
Auf die Opferzahl bin ich schon in meinem letzten Beitrag eingegangen.