Hannibals Massaker im Tempel der Hera Lakinia an zurückbleibenden Italikern

Mich würde noch interessieren welche genauen Begriffe die Quellen für Hannibals angebliche Tat benutzen. Vielleicht kann man daraus was ableiten? Das Wort dezimieren kommt meines Wissens aus dem Latein und der Zahl deka = 10, bedeutet jeden 10. hinrichten. Darüber hinaus muss ich mich für mangelnde Latein oder Griechisch Kenntnisse entschuldigen und in diesem Punkt um Hilfe bitten.
Wenn ich es richtig verstanden habe, weisen die drei Quellen aber stark unterschiedliche Zahlenangaben auf. Wenn es wirklich 20 000 gewesen sein sollen, müßte Hannibal 200 000 gehabt haben, um 20 000 zu dezimieren. Es sollte wohl jedem einleuchten, das dies nicht sein kann und es eine weiteres Indiz für eine freie Erfindung des Vorfalls ist.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das mag sein, aber noch viel mehr stehen sie heute unter dem Druck etwas zu publizieren. Das Interesse Europas an Rom und Griechenland ist nun schon 500 Jahre alt.
Wieviel wirklich spektakuläres Neues findet sich da noch?
Letzlich hilft da nur die Erich von Däniken-Methode: Alles, was man nicht genau versteht, kann nicht gewesen sein und hat daher die Ursache irgendwo im Weltall, resp. es ist halt alles anders gewesen als die Quellen sagen.
So wird man publik.

Als Historiker der Wissenschaftlich vorgeht vielleicht, aber wenn man neue Sachen braucht um ein Buch zu verkaufen, käme da nicht der reisserische Bericht über ein Massaker gerade recht?
Trotzdem hat das meines Wissens keiner gebracht. Ich kenne aber nicht alle Bücher über Hannibal oder die punischen Kriege.
 
Das Wort dezimieren kommt meines Wissens aus dem Latein und der Zahl deka = 10, bedeutet jeden 10. hinrichten.
"deka" ist griechisch, das lateinische Wort für "zehn" lautet "decem". Das Wort "decimare" (dezimieren) ist aber genauer von "decimus" (der zehnte) abgeleitet.

Wenn ich es richtig verstanden habe, weisen die drei Quellen aber stark unterschiedliche Zahlenangaben auf.
Nur Diodor nennt eine konkrete Opferzahl, nämlich ca. 20.000. Dass diese Zahl arg übertrieben ist, dürfte aber klar sein.

Wenn es wirklich 20 000 gewesen sein sollen, müßte Hannibal 200 000 gehabt haben, um 20 000 zu dezimieren.
Wie gesagt, dass die Opferzahl bei Diodor arg übertrieben ist, ist wohl klar. Im Übrigen schreibt er doch gar nicht von einer Dezimierung, auch Livius und Appian nicht.

Livius schreibt: "... multis Italici generis ... in templo ipso foede interfectis" = "... nachdem viele Italischer Herkunft ... im Tempel selbst schimpflich getötet worden waren". Dabei kommt "interfectis" von "interficere"=töten, ermorden.

(Dabei möchte ich noch einmal klarstellen, dass ich sehr wohl Zweifel habe, dass das Massaker in einem Tempel stattfand, da Diodor und Appian nichts davon erwähnen. Nur für Zweifel am Massaker an sich sehe ich keine über "es kann nicht gewesen sein, was nicht gewesen sein darf" bzw. "Hannibal war doch so ein super Typ, der hätte so etwas nie gemacht"* hinausgehenden triftigen Gründe.)

* Unter diesem Aspekt sollte man vielleicht auch einmal an modernen Historikern, die sich allzu intensiv und fasziniert mit Hannibal beschäftigt haben, "Quellenkritik" üben und nicht nur an den antiken Quellen.

Es sollte wohl jedem einleuchten, das dies nicht sein kann und es eine weiteres Indiz für eine freie Erfindung des Vorfalls ist.
Man sollte nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten: Nur weil die Opferzahl übertrieben ist, muss nicht gleich der ganze Vorfall frei erfunden sein. Z. B. ist heute auch allgemein anerkannt, dass die überlieferten Heereszahlen der Perser in den Perserkriegen viel zu hoch angesetzt waren. Daraus wird aber nicht geschlossen, dass die ganzen Perserkriege frei erfunden waren. Ebenso unbestritten ist, dass Caesars Zahlenangabe über das gallische Entsatzheer bei Alesia viel zu hoch ist, ohne dass deswegen die Belagerung von Alesia an sich für erfunden erklärt wird. Oder, um ein anderes Beispiel zu nehmen, heutzutage nennen Veranstalter von Demonstrationen hinterher auch gerne viel zu hohe Teilnehmerzahlen; aber auch wenn die Zahl nicht stimmt, fand die Demonstration an sich sehr wohl statt.
 
Zuletzt bearbeitet:
Nur für Zweifel am Massaker an sich sehe ich keine über "es kann nicht gewesen sein, was nicht gewesen sein darf" bzw. "Hannibal war doch so ein super Typ, der hätte so etwas nie gemacht"* hinausgehenden triftigen Gründe.

Die Zweifel die ich habe, habe weder mit "es kann nicht sein, was nicht sein darf" zu tun, noch damit, dass ich Hannibal für einen übermäßig sympathischen Typ hielte. Ich sehe einfach keinen triftigen Grund für das Massaker, aber einige triftige Gründe für die Römer, ihm dieses zu unterstellen. Naja gut, einen möglichen Grund für das Massaker sehe ich doch: Druck auf möglichst viele der Soldaten auszuüben, mit nach Afrika zu kommen. Aber waren die Römer nicht schon Druck genug? Was hatten diese Soldaten denn von den Römern zu erwarten?
Und was nun Diodor angeht, den kann man durchaus als einigermaßen romfreundlich ansehen. Gut, er mochte Octavian nicht besonders, an dessen Sizilienpolitik er litt, aber er war ein großer Bewunderer des voroctavianischen Rom.
 
Ich sehe einfach keinen triftigen Grund für das Massaker
Wie wäre es mit:
- Disziplinierung seiner Söldner durch Abschreckung?
- Bestrafung der Abtrünnigen?
- Frust, dass sie ihn nach vielen gemeinsamen Jahren verlassen wollten?
- die Erfahrungen seines Vaters mit Söldnern?

aber einige triftige Gründe für die Römer, ihm dieses zu unterstellen.
Die hatten sie natürlich - aber genau das ist es ja: Wenn es den Römern darum ging, Hannibal schlecht zu machen, warum warfen sie ihm dann nur ein Massaker an abtrünnigen Söldnern vor (und dann noch eines an notorisch unzuverlässigen Überläufern)? Für ein Massaker an Fahnenflüchtigen hätte in der Antike jeder Verständnis gehabt, die Römer selbst hätten nicht viel anders gehandelt. So ein Massaker machte Hannibal für römische Leser nicht zum Unmenschen - und schon gar nicht eines an Italikern, die zu Hannibal abgefallen waren, denen also als Verrätern jeder aufrechte Römer ohnehin den Tod vergönnte. Wenn es den Römern darum ging, Hannibal schlecht zu machen, wo sind dann z. B. all die Berichte über römische Kriegsgefangene, die er kreuzigen oder von Elefanten zertrampeln ließ (wie es Hamilkar mit den gefangenen Söldnern machte)? Hannibal hatte 16 Jahre Krieg in Italien geführt - genug Zeit, um ihm diverse Gräueltaten bei diversen Gelegenheiten anzudichten. Und dann soll den Römern nichts Besseres eingefallen sein als ein Massaker an Abtrünnigen? Jedem Schuljungen würde bessere Propaganda einfallen.
Wenn an der Massaker-Geschichte etwas erfunden ist, dann dass es im Tempel stattfand - denn das war in römischen Augen widerlich, nicht das Massaker selbst.

Aber waren die Römer nicht schon Druck genug? Was hatten diese Soldaten denn von den Römern zu erwarten?
Nichts. Aber was hatten sie zu erwarten, wenn sie nach Afrika übersetzten? Die Hoffnung auf Rückkehr - in ihre Heimatorte, wo sie vielleicht auch noch Familie hatten (und Hannibal wird nicht seine wertvollen Pferde geschlachtet haben, um die knappen Transportkapazitäten stattdessen für Frauen und Kinder zu verwenden) - war ihnen dann für immer abgeschnitten.
Ich habe bereits in #6 Beispiele dafür gebracht, dass Menschen nicht immer rational handeln.
Im Übrigen nehmen doch sogar die modernen Historiker, die das Massaker leugnen, offenbar an, dass Hannibal die Italiker gegen ihren Willen folgten (#28).

Und was nun Diodor angeht, den kann man durchaus als einigermaßen romfreundlich ansehen. Gut, er mochte Octavian nicht besonders, an dessen Sizilienpolitik er litt, aber er war ein großer Bewunderer des voroctavianischen Rom.
Interessant. Das mit Octavian war mir glatt entgangen. Wo in seinem Werk (das doch eigentlich nur bis etwa zum Gallischen Krieg reichte) geht er auf ihn ein?

Im Übrigen lebte Diodor in einer Zeit in Sizilien, als man dort nicht unbedingt Grund hatte, die Römer zu mögen - Stichwort Verres.

Außerdem berichtet er so manches, das nicht so toll für die Römer war. Z. B. lavierten die meisten Autoren eher darum herum, wie der Makedonenkönig Perseus in römischer Gefangenschaft starb. Diodor hingegen schreibt offen, dass er durch Schlafentzug getötet wurde, wenngleich er die Schuld dafür nicht unmittelbar den Römern, sondern den Wächtern anlastete. Bei ihm findet sich auch die Geschichte über die grausame Rache, die die Witwe von Atilius Regulus an wehrlosen karthagischen Gefangenen nahm. Und auch wenn er den Griechen selbst die Schuld am Verlust ihrer Freiheit gibt, prangert er dennoch das exzessive Vorgehen der Römer in Griechenland wie umfangreiche Versklavungen an. Zu Beginn des 1. Punischen Krieges lässt er Hieron von Syrakus aussprechen, dass die Römer das Hilfsersuchen der Mamertiner nur als Vorwand genommen hätten und es ihnen in Wahrheit von Anfang an um den Besitz von ganz Sizilien gegangen sei.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wenn es den Römern darum ging, Hannibal schlecht zu machen, warum warfen sie ihm dann nur ein Massaker an abtrünnigen Söldnern vor (und dann noch eines an notorisch unzuverlässigen Überläufern)? Für ein Massaker an Fahnenflüchtigen hätte in der Antike jeder Verständnis gehabt, die Römer selbst hätten nicht viel anders gehandelt.

Verständnis hat man noch heute. In meinem Land steht auf Fahnenflucht immer noch (per Dienstreglement) der Tod.
An Hinrichtungen von Fahnenflüchtigen freut sich zudem auch der Feind. Schliesslich schwächt das auch den Gegner.


Nebenbei: Wer von euch hat Diodor noch im Besitz? Im Buchhandel gibts ihn nämlich nur noch in sehr schlechter Qualität und zu einem hohen Preis bei Books on demand. (inkl. Fraktur und 14 Tage Wartezeit) Dafür taucht bei einer entsprechenden Suchanfrage jede Menge Literatur UEBER Diodor auf.

Vielleicht sollten wir wirklich mal die MODERNE Quellenlage hinterfragen....


Edit: Kann mir jemand kurz angeben in welchem Buch Livius diese Sache beschreibt?
 
Zuletzt bearbeitet:
Livius 30. Buch (20. Kapitel)

Diodor findest Du kostenlos hier, wenngleich auch in Fraktur: Diodor ? Wikisource
Allerdings sind dort nicht alle Fragmente enthalten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Propagandakrieg

Im Kriege ging es immer auch um Propaganda. Hannibal begann ihn mit seiner Behauptung er führe nur Krieg um Italien vom Joch Roms zu befreien. Rom anwortete mit der These dass Hannibal Krieg gegen die Bundesgenossen Roms führe und Rom diese beschütze. Weiterhin wurde Hannibal bei jeder Gelegenheit dämonisiert. Der Propgandakrieg ging weiter nach Hannibals Abzug aus Italien, ja sogar nach dem zweiten punischen Krieg. Die karthagische Seite wurde ab diesem Punkt schwächer, weil man die Römer ja nicht verärgern durfte, nach dem dritten punischen Krieg verstummte Karthago ganz, aber die Römerfreunde texteten munter weiter.
Nicht in erster die Römer sollten mit Greuelgeschichten beeindruckt werden, aber vor allen die überlebenden Italiker, welche offen oder verdeckt Sympatien für Hannibal oder Karthago hatten.
Die Römer haben sich sehr oft des Mittels der Propaganda bedient, dazu gibt es in der Geschichte viel eindeutig belegte Fälle.
Beispielsweise Oktavian bei Aktium. Antonius gelingt der Durchbruch unter Verlusten. Oktivian macht daraus eine vollständige Niederlage, die Propaganda stößt auf ihren Nährboden und Antonius laufen die Soldaten davon.
Im Kontext des Propagandakrieges zur Beeindruckung Hannibal aufgeschlossen gegenüber stehenden Italikern und anderer Mittelmeervölker muss man die Massakergeschichtslüge sehen.

Man darf nun nicht denken, dass ich für die Schattenseiten Karthagos oder Hannibals blind sei. Die Römer haben von Karthago auch „Errungensschaften“ wie die Kreuzigung übernommen.
In karthagischen Armeen gab es zweifellos- wie in allen anderen Armeen auch- die Todesstrafe für Deserteure.
Es wurde auf die Perserkriege verwiesen. Die zu hohen Zahlen der gegnerischen Armeen bedeuten in der Tat nicht, dass die Perserkriege unhistorisch wären, aber es bedeutet, die hohen Zahlen wurden aus einen bestimmten Grund übertrieben. Der Grund war laut Robin Lane Fox, dass Alexanders Geschichtsschreiber dessen Siege noch gloreicher erscheinen lassen wollte.
Wenn wir nun mal für einen Moment wie Ravenik annehmen, die Massakergeschichtslüge hätte doch einen wahren Kern:
Was hat nun die Zahl 20 000 bei Diodor zu bedeuten? Wir sind uns alle einig, dass diese Zahl übertrieben sein muss. Ob sie von Diodor oder im Vorfeld von Diodors Quellen verfälscht wurde, läßt sich nicht mehr feststellen. Aber der Grund dafür ist offentsichtlich. Was immer Hannibal auch getan haben mag, soll für die Öffentlichkeit schlimmer dargestellt werden als es eigentlich war. Ob Hannibal nur ein paar einzelne Deserteure hingerichtet hat oder mehr läßt sich nicht feststellen. Sicher ist aber, dass übertrieben wurde mit der Absicht Hannibal zu diskreditieren.
Wie zuverlässig kann eine Quelle sein, die absichtlich Zahlen fälscht mit dem Willen zu diffamieren?

Hannibals Verteidiger hat gesprochen. Diese Rolle muss ich wohl übernehmen, obwohl mir viele Vorraussetzugen wie Sprachkenntnissse um Originalquellen zu lesen, fehlen.

Das Imperium wird wahrscheinlich keine Einsicht zeigen und zurückschlagen.
Der Propagandakrieg geht dann wohl in die nächste Runde.
 
Zuletzt bearbeitet:
Nicht in erster die Römer sollten mit Greuelgeschichten beeindruckt werden, aber vor allen die überlebenden Italiker, welche offen oder verdeckt Sympatien für Hannibal oder Karthago hatten.
Wieso sollten die Römer erst zu einer Zeit, als Hannibal Italien bereits verließ, erfinden, dass Hannibal Italiker massakrieren ließ? Zu diesem Zeitpunkt mussten sie ihre Bundesgenossen nicht mehr abschrecken. Wenn es darum gegangen wäre, Gräuelgeschichten über Hannibal zu verbreiten, um die Italiker vom Seitenwechsel abzuhalten, dann hätten die Römer das in den 15 Jahren davor machen müssen. Möglichkeiten hätte es doch genug gegeben. Z. B. hätten sie verbreiten können, dass Hannibal und seine Mannen in übergelaufenen Städten hausen wie einst die Mamertiner in Messana. Wo also sind alle diese Geschichten?

Beispielsweise Oktavian bei Aktium. Antonius gelingt der Durchbruch unter Verlusten. Oktivian macht daraus eine vollständige Niederlage, die Propaganda stößt auf ihren Nährboden und Antonius laufen die Soldaten davon.
Plutarch schreibt ausdrücklich, dass das Landheer Octavians Botschaften kein Gehör schenkte, sondern mit Antonius' Erscheinen rechnete. Erst als ihr Feldherr Canidius sich aus dem Staub machte, gab das führerlos gewordene Heer auf. So auch Velleius Paterculus.

Es wurde auf die Perserkriege verwiesen. Die zu hohen Zahlen der gegnerischen Armeen bedeuten in der Tat nicht, dass die Perserkriege unhistorisch wären, aber es bedeutet, die hohen Zahlen wurden aus einen bestimmten Grund übertrieben. Der Grund war laut Robin Lane Fox, dass Alexanders Geschichtsschreiber dessen Siege noch gloreicher erscheinen lassen wollte.
Mit den Perserkriegen meinte ich eigentlich die von 490 und 480-479 v. Chr., aber egal.
Dass Zahlen immer absichtlich aus einem bestimmten Grund übertrieben wurden, ist auch wieder eine Unterstellung. In vielen Fällen mag es stimmen, aber es ist schlicht praktisch unmöglich, die Größe eines feindlichen Heeres durch bloßen Augenschein zu schätzen. Wenn man in ein paar hundert Metern Entfernung eine riesige Menschenansammlung sieht, woher soll man wissen, ob das nun 50.000 oder 200.000 Mann sind? Es ist vollkommen natürlich, dass der Soldat oder auch Feldherr die Zahl des Feindes eher zu hoch als zu niedrig schätzen wird. Wie viele es wirklich waren, kann man allenfalls hinterher feststellen, wenn man feindliche Aufzeichnungen erbeutet oder gefangene feindliche Feldherrn verhören kann.
Auffallend ist nämlich auch, dass in der Regel nur "Barbaren"-Armeen viel zu hoch angegeben wurden. Das hatte auch damit zu tun, dass man bei Barbarenvölkern sowieso immer annahm, dass sie sehr volkreich seien - und somit sehr viele Krieger stellen konnten. Und von den Persern dachte man, dass sie, da sie ein großes Reich hatten, Krieger aus dem gesamten Reich zusammentrommeln würden, und so würden etliche hunderttausend zusammenkommen. Noch Caesar war in Gallien offenkundig in derartigen Denkmustern befangen: Aus ganz Gallien eilen Krieger zur Rettung Alesias herbei -> ganz Gallien hatte ein paar Millionen Einwohner -> somit mussten ein paar hunderttausend Krieger zusammengekommen sein. Fazit: Je größer man das Reich bzw. die Bevölkerungszahl des Gegners schätzte, umso größer schätzte man auch sein Heer, weil man annahm, dass er natürlich möglichst viele verfügbare Krieger zusammenholen würde und eine Menge davon hätte. Dass das logistisch nicht ging, wurde in der Antike (und auch danach) noch nicht bedacht. So wirklich änderte sich das erst mit Delbrück.
Wenn aber z. B. zwei Griechenstädte oder zwei Diadochen miteinander kämpften, finden wir in der Regel auf beiden Seiten realistische Zahlen, obwohl natürlich auch hier der Sieger Grund gehabt hätte, die Zahl des besiegten Gegners massiv zu übertreiben. Hier war es aber offenkundig leichter, zuverlässige Zahlen herauszufinden, bzw. schätzte man die Kapazitäten des Gegners realistisch ein. (Wenn z. B. zwei etwa gleich große griechische Städte gegeneinander kämpften und die eine 1.000 Soldaten aufstellen konnte, war klar, dass die andere keine 20.000 Mann haben konnte.)

Was hat nun die Zahl 20 000 bei Diodor zu bedeuten? Wir sind uns alle einig, dass diese Zahl übertrieben sein muss. Ob sie von Diodor oder im Vorfeld von Diodors Quellen verfälscht wurde, läßt sich nicht mehr feststellen. Aber der Grund dafür ist offentsichtlich. Was immer Hannibal auch getan haben mag, soll für die Öffentlichkeit schlimmer dargestellt werden als es eigentlich war. Ob Hannibal nur ein paar einzelne Deserteure hingerichtet hat oder mehr läßt sich nicht feststellen. Sicher ist aber, dass übertrieben wurde mit der Absicht Hannibal zu diskreditieren.
In #22 hast Du noch für "im Zweifel für den Angeklagten" plädiert, jetzt unterstellst Du selbst jedem antiken Autor die schlechtestmöglichen Absichten. Natürlich kann die Zahl absichtlich übertrieben sein. Das kann natürlich mit böswilliger Absicht zu tun haben - oder auch mit der Vorliebe vieler Autoren, im Zweifel (wenn keine zuverlässigen Zahlenangaben vorlagen) lieber spektakuläre Zahlen zu nennen. Oder es war einfach eine danebengegangene Schätzung: In einem früheren Beitrag bist Du selbst davon ausgegangen, dass Hannibals Heer 203 v. Chr. hauptsächlich aus Italikern bestanden haben wird (was ich nicht glaube, aber vielleicht tat es ein antiker Autor). Wenn man jetzt also nicht weiß, wie viele Soldaten Hannibal zu diesem Zeitpunkt eigentlich insgesamt hatte (aber im Zweifel lieber zu viele als zu wenige Soldaten schätzt, also so in etwa 50.000 oder noch mehr), aber davon ausgeht, dass fast alle Italiker waren, und dann noch keine Ahnung hat, wie viele massakriert wurden, sondern nur, dass es ein (unbestimmt großer) Teil war, kann man schon auf etwa 20.000 kommen. Dass Diodor die Zahl nicht exakt meinte - sei es, dass er sie selbst geschätzt hat, sei es, dass er in seinen Quellen unterschiedliche Angaben fand, sei es, dass er die Zahl selbst nicht glaubte - sieht man schon daran, dass er nur von "ungefähr" 20.000 schrieb.
So ganz nebenbei sollte man auch noch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Hannibal selbst eine zu hohe Zahl verbreiten ließ, um die abschreckende Wirkung zu verstärken.
Übrigens: Weder Livius noch Appian nennen eine Zahl. Im Gegenteil: Livius - also ausgerechnet derjenige der drei, dem am ehesten die Verbreitung von Propaganda zuzutrauen wäre - nennt nicht nur keine Zahl, sondern schreibt obendrein vom Massaker im Tempel, was die Zahl der möglichen Opfer von vornherein auf ein paar Dutzend bis maximal wenige hundert (wenn man unter "Tempel" den ganzen Tempelbezirk versteht) reduziert. Ausgerechnet Livius "entlastet" Hannibal also.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wieso sollten die Römer erst zu einer Zeit, als Hannibal Italien bereits verließ, erfinden, dass Hannibal Italiker massakrieren ließ? Zu diesem Zeitpunkt mussten sie ihre Bundesgenossen nicht mehr abschrecken. Wenn es darum gegangen wäre, Gräuelgeschichten über Hannibal zu verbreiten, um die Italiker vom Seitenwechsel abzuhalten, dann hätten die Römer das in den 15 Jahren davor machen müssen. Möglichkeiten hätte es doch genug gegeben. Z. B. hätten sie verbreiten können, dass Hannibal und seine Mannen in übergelaufenen Städten hausen wie einst die Mamertiner in Messana. Wo also sind alle diese Geschichten?
Diese gab es, man hat zum Beispiel verbreitet, Hannibal und seine Männer wären Kannibalen.
Welche Situation haben wir 203? Wir wissen dass Hannibal abzog und nicht mehr wiederkam, aber konnten auch die Römer das wissen? Hannibal hat sich die Option einer Rückkehr vorbehalten und es gab auch Römer, die mit dieser Möglichkeit rechneten. Hannibal hat in seiner Amtszeit als Suffet im Jahre 196 ein paar Gesetze durchgebracht, die einigen einflussreichen Karthagern ein Dorn im Auge waren. Diese schwärzten Hannibal bei den Römern an, er würde zusammen mit König Antiochos einen Krieg gegen Rom planen. Rom sandte 195 eine Delegation um dessen Auslieferung zu fordern. Das obwohl Scipio dagegen war, man hielt die Gefahr also für real.
Nach 202 kämpften die Gallier weiter gegen Rom. Sie hatten eine paramilitärische Abteilung eines karthagischen Offiziers mit dem Namen Hamilkar bei sich. Der kämpfte privat ohne Deckung Karthagos, aber nicht wenige Römer vermuteten, dass er mit Hannibal unter einer Decke steckte.
Generell stand Rom nach dem zweiten punischen Krieg vor der Aufgabe Gebiete zu romanisieren, die lange unter Hannibals Kontrolle waren und auch verdeckte Anhänger Hannibals wieder zu integrieren. Da eignen sich Greuelgeschichten hervorragend um Hannibals Nimbus zu zerstören.


In #22 hast Du noch für "im Zweifel für den Angeklagten" plädiert, jetzt unterstellst Du selbst jedem antiken Autor die schlechtestmöglichen Absichten.
Nun ja, das sind aber hier die Kläger, der Angeklagte ist Hannibal. Man kann nicht gleichzeitig im Zweifel für den Angeklagten und die Kläger sein, das schließt sich aus.
Aber ich habe ja den antiken Autoren zugestanden, dass die Zahlenangaben welche ihnen vorlagen bereits verfälscht gewesen sein können.

In einem früheren Beitrag bist Du selbst davon ausgegangen, dass Hannibals Heer 203 v. Chr. hauptsächlich aus Italikern bestanden haben wird (was ich nicht glaube, aber vielleicht tat es ein antiker Autor). Wenn man jetzt also nicht weiß, wie viele Soldaten Hannibal zu diesem Zeitpunkt eigentlich insgesamt hatte (aber im Zweifel lieber zu viele als zu wenige Soldaten schätzt, also so in etwa 50.000 oder noch mehr), aber davon ausgeht, dass fast alle Italiker waren, und dann noch keine Ahnung hat, wie viele massakriert wurden, sondern nur, dass es ein (unbestimmt großer) Teil war, kann man schon auf etwa 20.000 kommen. Dass Diodor die Zahl nicht exakt meinte - sei es, dass er sie selbst geschätzt hat, sei es, dass er in seinen Quellen unterschiedliche Angaben fand, sei es, dass er die Zahl selbst nicht glaubte - sieht man schon daran, dass er nur von "ungefähr" 20.000 schrieb.
Wenn Hannibal im Jahre 203 noch 50 000 Mann gehabt hätte, dann wäre er als Mago in Nord Italien gelandet war sicher nicht inaktiv geblieben. Diese Zahl ist wohl übertrieben.
Ja, wenn man von 6% Verlusten pro Jahr ohne grosse Schlachten ausgeht, dann rechnet man 0,94 hoch 15 und kommt auf etwa 30% der originalen Stärke. Die Verluste in den Schlachten wären zusätzlich. Die 6% sind von Armeen, deren jährliche Verlustzahlen wir kennen, wie etwa die Potomac Armee im Armerikanischen Bürgerkrieg.
Daher ist wahrscheinlich, dass in Hannibals Armee von 24 000, die laut Dodge 203 nach Afrika gingen eine Mehrheit Italiker war. Aber ich habe auch keine überlieferten Zahlen, daher ist meine Projektion zu ungenau um mehr zu sagen.


Übrigens: Weder Livius noch Appian nennen eine Zahl. Im Gegenteil: Livius - also ausgerechnet derjenige der drei, dem am ehesten die Verbreitung von Propaganda zuzutrauen wäre - nennt nicht nur keine Zahl, sondern schreibt obendrein vom Massaker im Tempel, was die Zahl der möglichen Opfer von vornherein auf ein paar Dutzend bis maximal wenige hundert (wenn man unter "Tempel" den ganzen Tempelbezirk versteht) reduziert. Ausgerechnet Livius "entlastet" Hannibal also.

Livius der grosse Verteidiger der Ehre Hannibals?
Wenn ich Dich richtig verstehe, kennst Du die Grösse des Tempels und schätzt daraus, dass es nicht mehr gewesen sein können?
Livius hat aber an andere Stelle gesagt das Hannibal den Tempel nicht entweiht oder nicht verletzt habe.
So weit ich weiß, wurden Disziplinarmassnahmen vor der gesamten angetretenen Truppe durchgeführt um deren abschreckende Wirkung zu entfalten, aber dazu war im Tempelbezirk wohl nicht genug Platz.
Aber nehmen wir das mal für einen Moment so hin. Dann handelt es sich aber nicht um ein Massaker, sondern um die Hinrichtung einiger Deserteure oder schlimmstenfalls um eine Dezimierung.
Das wäre im Bereich des Möglichen, aber dann müßten wir den Titel dieses Themas wohl ändern, nicht wahr?
Wenn man aus einer Disziplinarmassnahme mit Todesstrafe ein Massaker macht und die Zahl der Opfer von maximal wenigen hundert auf 20 000 übertreibt, dann hat das schon den Geruch von Diffamierung, Propaganda und absichtlicher Geschichtsfälschung - wer immer das auch getan haben mag- findest Du nicht?
 
Zuletzt bearbeitet:
Diese gab es, man hat zum Beispiel verbreitet, Hannibal und seine Männer wären Kannibalen.
Gut, dass Du das vorbringst, es zeigt nämlich sehr schön, wie wenig an Deiner Grundannahme, alle antiken Historiker würden nur römische Propaganda betreiben und Hannibal durch erfundene Geschichten möglichst schlecht machen, dran ist.
Polybios und Cassius Dio berichten, als Hannibal den Marsch von Spanien nach Italien plante und die Versorgung unterwegs als schwierig eingeschätzt wurde, habe einer seiner Unterfeldherren (Polybios nennt ihn Hannibal Monomachos) für unterwegs zu Kannibalismus geraten. Hannibal habe das jedoch verworfen. (!) Polybios schreibt dann noch weiter, dass davon auszugehen sei, dass allfällige Untaten der Karthager in Italien, die dem Hannibal vorgeworfen würden, zum Teil auf diesen Monomachos, vor allem aber die Umstände zurückgehen würden (und somit nicht auf Hannibal). Polybios (der mehr "römischer" Historiker war als Diodor) nimmt Hannibal also ausdrücklich in Schutz, und weder er noch Cassius Dio bezichtigen Hannibal des Kannibalismus.

Welche Situation haben wir 203? Wir wissen dass Hannibal abzog und nicht mehr wiederkam, aber konnten auch die Römer das wissen?
Natürlich nicht. Es erklärt aber nicht, warum es die Römer nicht schon in den 15 Jahren davor für sinnvoll gehalten haben sollten, die Italiker von einem Überlaufen zu Hannibal abzuhalten, indem sie verbreiten, er würde die zu ihm überlaufenden Italiker ohnehin nur massakrieren.
Eine perfekte Propaganda-Strategie wäre übrigens gewesen, Hannibal zu beschuldigen, er würde zu ihm geschickte Gesandte ermorden lassen: Damit hätte man nicht nur versuchen können, die Italiker von der Entsendung von Gesandtschaften abzuhalten, sondern man hätte auch Hannibal selbst damit so richtig schlecht machen können, denn die Verletzung des Gesandtschaftsrechts gehörte nach griechischer und römischer Auffassung zu den schlimmsten Freveln überhaupt - viel schlimmer als Massaker.

Generell stand Rom nach dem zweiten punischen Krieg vor der Aufgabe Gebiete zu romanisieren, die lange unter Hannibals Kontrolle waren und auch verdeckte Anhänger Hannibals wieder zu integrieren. Da eignen sich Greuelgeschichten hervorragend um Hannibals Nimbus zu zerstören.
Allerdings setzte Rom nicht auf eine Reintegration durch Überzeugung, sondern durch Härte. Noch in den Jahren nach Kriegsende wurde Süditalien jeweils einem der Praetoren als "Provinz" übertragen (und somit wie frisch unterworfenes Feindesland behandelt). Städte wurden degradiert oder ganz zerstört, und die Ländereien der Einheimischen wurden in großem Umfang enteignet, um darauf römische Kolonien anzulegen, sie reichen Römern zuzuschanzen oder daraus Gemeinland zu machen. Die Herzen der Italiker gewann man so sicher nicht, stattdessen setzte man auf Strafe und Überwachung. Anti-Hannibal-Propaganda kann man sich sparen, wenn man selber so mit den Italikern umspringt.

Wenn Hannibal im Jahre 203 noch 50 000 Mann gehabt hätte, dann wäre er als Mago in Nord Italien gelandet war sicher nicht inaktiv geblieben. Diese Zahl ist wohl übertrieben.
Ich wollte damit auch nicht sagen, dass ICH von dieser Zahl ausgehe. Aber antike Autoren haben, wenn sie keine brauchbaren Zahlen über die Stärke einer Armee hatten, im Zweifel eher deutlich zu hoch geschätzt. Ich habe das nur angeführt, weil ich darauf mein Beispiel, wie Diodor (oder seine Quelle) auf ca. 20.000 Massaker-Opfer gekommen sein könnten, aufgebaut habe: Je größer man eine Armee schätzt, um so mehr Opfer kann man auch schätzen, wenn ein Teil davon massakriert wird.

Livius der grosse Verteidiger der Ehre Hannibals?
Natürlich nicht. Aber seine Darstellung des Massakers zeigt, dass es nicht darum ging, Hannibal durch bewusste Erfindung einer möglichst großen Opferzahl möglichst schlecht zu machen. (Denn sonst hätte Livius den Tempel unerwähnt lassen und stattdessen eine möglichst hohe Opferzahl nennen müssen.) Wenn überhaupt, dann wollte man ihn schlechtmachen, indem man ihm vorwarf, es in einem Tempel verübt zu haben.

Wenn ich Dich richtig verstehe, kennst Du die Grösse des Tempels und schätzt daraus, dass es nicht mehr gewesen sein können?
Natürlich kenne ich die Größe des Tempels nicht. Aber es ist doch wohl klar, dass in einen Tempel nicht 20.000 Mann passen. Wenn Livius also von einem Massaker im Tempel schreibt, begrenzt das die Zahl der möglichen Opfer auf die Zahl der Menschen, die in den Tempel passen. Somit hat ausgerechnet Livius Hannibal nicht angelastet, zigtausende Italiker abgeschlachtet zu haben.

Livius hat aber an andere Stelle gesagt das Hannibal den Tempel nicht entweiht oder nicht verletzt habe.
Die Diskussion darüber, ob mit "violare" die sakrale Verletzung des Tempels, also seine Entweihung, gemeint war oder seine physische Verletzung, also das Ausrauben bzw. Abdecken des Daches, hatten wir doch schon zur Genüge.

So weit ich weiß, wurden Disziplinarmassnahmen vor der gesamten angetretenen Truppe durchgeführt um deren abschreckende Wirkung zu entfalten, aber dazu war im Tempelbezirk wohl nicht genug Platz.
Das war bei den Römern so, aber nicht unbedingt bei den Karthagern. Den Quellen zufolge handelte es sich aber auch nicht um eine formell organisierte Disziplinarmaßnahme.
Im Übrigen habe ich schon im gesamten Thread immer wieder geschrieben, dass ich nicht unbedingt vom Tempel als Tatort ausgehe, sondern nur vom Massaker an sich.

Aber nehmen wir das mal für einen Moment so hin. Dann handelt es sich aber nicht um ein Massaker, sondern um die Hinrichtung einiger Deserteure oder schlimmstenfalls um eine Dezimierung.
Das wäre im Bereich des Möglichen, aber dann müßten wir den Titel dieses Themas wohl ändern, nicht wahr?
Den Threadtitel habe nicht ich gewählt.
Im Übrigen ist es Ansichtssache, ob man von einem Massaker spricht. Appian schreibt, dass Hannibal die Abtrünnigen unerwartet (also vermutlich zu einem Zeitpunkt, als sie nicht fertig gerüstet dastanden und somit wehrbereit waren) von loyalen Truppen umzingeln ließ und ihnen dann gestattete, zu versklaven, wen sie wollten. Den Rest ließ er niederhauen. Ebenso Diodor. Livius hält sich viel kürzer (auch nicht gerade Zeichen für eine propagandistische Absicht, die es eher nahelegen würde, alles möglichst ausführlich und grauenvoll zu schildern) und erwähnt lediglich in einem Gliedsatz (im Lateinischen in Form eines Ablativus absolutus, den man im Deutschen am besten mit " ..., nachdem ... getötet worden waren" auflöst), dass Hannibal Italiker, die sich in den Tempel geflüchtet hatten, töten ließ.

Aber immerhin stelle ich erfreut fest, dass wir uns einander annähern: Von mehr als ein paar Dutzend bis maximal wenigen hundert Toten bin auch ich nie ausgegangen.

Wenn man aus einer Disziplinarmassnahme mit Todesstrafe ein Massaker macht und die Zahl der Opfer von maximal wenigen hundert auf 20 000 übertreibt, dann hat das schon den Geruch von Diffamierung, Propaganda und absichtlicher Geschichtsfälschung - wer immer das auch getan haben mag- findest Du nicht?
Der Ausdruck "Massaker" (bzw. eine lateinische oder griechische Entsprechung) findet sich doch nicht bei den antiken Autoren, das ist eine moderne Wertung. Livius schreibt "interfectis", das - ganz wertungsneutral - "töten" bedeutet.
Auf die Opferzahl bin ich schon in meinem letzten Beitrag eingegangen.
 
Gut, dass Du das vorbringst, es zeigt nämlich sehr schön, wie wenig an Deiner Grundannahme, alle antiken Historiker würden nur römische Propaganda betreiben und Hannibal durch erfundene Geschichten möglichst schlecht machen, dran ist.
Aber die Römer machten das! Was sagt es Dir dass schon Polybius Hannibal gegen Kannibalismus Vorwürfe verteidigen mußte? Ich weiß Du hälst es für Allgemeinplätze, wenn ich sage dass die Werke, moderner Historikern voll davon sind, aber man kann es da überall nachlesen auch ohne Latein oder altgriechisch beherrschen zu müssen. Seibert (und er ist nur ein Beispiel von vielen, die eine Einleitung über ihre verwendeten Quellen schreiben) beklagt die einseitige Primärquellenlage, dem schon antike Historiker ausgesetzt waren und die es diesen erschwert hat, den tatsächlichen Wahrheitsgehalt herauszuarbeiten. Polybius wird als zuverlässigste Quelle eingestuft, aber auch für romfreundlich gehalten.
Seibert gibt ausdrücklich viele Beispiele für römische Propaganda, aber auch für die Hannibals.

Eine perfekte Propaganda-Strategie wäre übrigens gewesen, Hannibal zu beschuldigen, er würde zu ihm geschickte Gesandte ermorden lassen: Damit hätte man nicht nur versuchen können, die Italiker von der Entsendung von Gesandtschaften abzuhalten, sondern man hätte auch Hannibal selbst damit so richtig schlecht machen können, denn die Verletzung des Gesandtschaftsrechts gehörte nach griechischer und römischer Auffassung zu den schlimmsten Freveln überhaupt - viel schlimmer als Massaker.

Dass die Römer nicht die perfekt denkbare Strategie in der Propaganda betrieben haben, bedeutet nicht, dass keine Propaganda stattfand. Die Römer hatten wohl noch keinen Reichspropagandaminister. Vielmehr ist noch nicht mal klar ob es überhaupt eine Koordiantion der Propaganda durch den Senat gab. Es sieht viel mehr so aus dass einzelne einflussreiche römische Familien das eigenständig betrieben haben. Sie haben es auch gegeneinander betrieben, beispielsweise im Vorfeld der Konsulatswahlen.

Allerdings setzte Rom nicht auf eine Reintegration durch Überzeugung, sondern durch Härte. Noch in den Jahren nach Kriegsende wurde Süditalien jeweils einem der Praetoren als "Provinz" übertragen (und somit wie frisch unterworfenes Feindesland behandelt). Städte wurden degradiert oder ganz zerstört, und die Ländereien der Einheimischen wurden in großem Umfang enteignet, um darauf römische Kolonien anzulegen, sie reichen Römern zuzuschanzen oder daraus Gemeinland zu machen. Die Herzen der Italiker gewann man so sicher nicht, stattdessen setzte man auf Strafe und Überwachung. Anti-Hannibal-Propaganda kann man sich sparen, wenn man selber so mit den Italikern umspringt.

Auch bei den Etruskern und denen, die zwar mit Hannibal symphatisierten, sich aber nicht getraut haben, die Seiten zu wechseln? Es gab wie gesagt keine zentrale Koordinationsstelle für Propaganda, wer sagt einer mächtigen römische Familie dass sie nicht über Hannibal "lästern" soll, weil der römische Staat sich ja schon um das Problem kümmert?


Natürlich nicht. Aber seine Darstellung des Massakers zeigt, dass es nicht darum ging, Hannibal durch bewusste Erfindung einer möglichst großen Opferzahl möglichst schlecht zu machen. (Denn sonst hätte Livius den Tempel unerwähnt lassen und stattdessen eine möglichst hohe Opferzahl nennen müssen.) Wenn überhaupt, dann wollte man ihn schlechtmachen, indem man ihm vorwarf, es in einem Tempel verübt zu haben.
Vielleicht Livius nicht, aber denen die die Opferzahl übertieben haben schon.



Den Threadtitel habe nicht ich gewählt.
Im Übrigen ist es Ansichtssache, ob man von einem Massaker spricht. Appian schreibt, dass Hannibal die Abtrünnigen unerwartet (also vermutlich zu einem Zeitpunkt, als sie nicht fertig gerüstet dastanden und somit wehrbereit waren) von loyalen Truppen umzingeln ließ und ihnen dann gestattete, zu versklaven, wen sie wollten. Den Rest ließ er niederhauen. Ebenso Diodor. Livius hält sich viel kürzer (auch nicht gerade Zeichen für eine propagandistische Absicht, die es eher nahelegen würde, alles möglichst ausführlich und grauenvoll zu schildern) und erwähnt lediglich in einem Gliedsatz (im Lateinischen in Form eines Ablativus absolutus, den man im Deutschen am besten mit " ..., nachdem ... getötet worden waren" auflöst), dass Hannibal Italiker, die sich in den Tempel geflüchtet hatten, töten ließ.
Die Historiker Appian, Diodor und Livius hatten aber nur das- nicht nur meiner Meinung nach- überwiegend durch Propaganda entstellte Quellenmaterial zur Verfügung auch wenn Diodor angibt noch eine Pro Karthagische Quelle zu Verfügung gehabt zu haben. Daher bleibt für mich sehr zweifelhaft, ob der Vorfall tatsächlich historisch war. Ich gestehe Dir aber zu einige gute Argumente gebracht zu haben.

Aber immerhin stelle ich erfreut fest, dass wir uns einander annähern: Von mehr als ein paar Dutzend bis maximal wenigen hundert Toten bin auch ich nie ausgegangen.
Gut in diesem Punkt stimmen wir dann überein. Ich würde daraus den Schluss ziehen wollen, (falls der Vorfall tatsächlich historisch war), dass Hannibal wie andere auch Deserteure hinrichten liess und offenbar die Dezimierung oder ein ähnliches Verfahren in Karthagischen Armeen ebenfalls üblich war.
 
Zuletzt bearbeitet:
Was sagt es Dir dass schon Polybius Hannibal gegen Kannibalismus Vorwürfe verteidigen mußte?

Polybios tut es de facto, und sagt es selbst.

Was spricht eigentlich dagegen, wenn jeder sich auf seine Sicht der Dinge beruft? Jede der beiden ist aus meiner Sicht (und, was wichtiger ist, aus der von publizierten Historikern) vertretbar, und die Argumente drehen sich doch immer wieder im Kreis... Mittlerweile liegt ihr in den Hauptpunkten doch sogar recht nah beieinander...?
 
Aber die Römer machten das! Was sagt es Dir dass schon Polybius Hannibal gegen Kannibalismus Vorwürfe verteidigen mußte?
Also eigentlich berichtet Polybios nur, dass einer von Hannibals Leuten Kannibalismus vorgeschlagen habe - und auch das nur als Lösung für eine Notsituation. Polybios schreibt dort aber nicht, dass die Römer Hannibal vorgeworfen hätten, tatsächlich Kannibalismus zu betreiben - und schon gar nicht generell, weil er eben so ein grausamer Barbar sei und so gerne Menschenfleisch esse. Somit verteidigt Polybios Hannibal auch nicht gegen Kannibalismusvorwürfe, da er gar nicht erwähnt, dass sie gegen ihn erhoben worden seien. Er entlastet ihn lediglich allgemein von allfälligen Untaten im Laufe des Krieges, wobei eigentlich klar sein sollte, dass es im Laufe eines 16-jährigen Krieges zu Missständen und Untaten gekommen sein muss, ganz ohne dass das die römische Propaganda erfinden musste. Einen "sauberen" Krieg hat es nie gegeben und wird es vermutlich auch nie geben.
(Eine interessante Parallele bietet übrigens Caesars "Gallischer Krieg": Auch da schlägt im belagerten Alesia ein führender Gallier Kannibalismus vor, was die anderen allerdings ablehnen. => Caesar, der doch am meisten Grund gehabt hätte, den Vercingetorix schlecht zu machen, behauptet also nicht, dass Vercingetorix und seine Krieger tatsächlich Kannibalen gewesen seien.)

Seibert (und er ist nur ein Beispiel von vielen, die eine Einleitung über ihre verwendeten Quellen schreiben) beklagt die einseitige Primärquellenlage, dem schon antike Historiker ausgesetzt waren und die es diesen erschwert hat, den tatsächlichen Wahrheitsgehalt herauszuarbeiten. Polybius wird als zuverlässigste Quelle eingestuft, aber auch für romfreundlich gehalten.
Polybios kannte zumindest die Werke der beiden prokarthagischen, explizit über Hannibal schreibenden, Historiker Chaireas und Sosylos. In Zusammenhang mit dem 1. Punischen Krieg erwähnt er auch Philinos.

Auch bei den Etruskern und denen, die zwar mit Hannibal symphatisierten, sich aber nicht getraut haben, die Seiten zu wechseln?
Welchen Grund sollte es gegeben haben, Völker, die während des gesamten Krieges treu geblieben waren, danach noch propagandistisch zu bearbeiten? Es wird doch wohl niemand ernsthaft befürchtet haben, dass sie, nachdem sie, solange Hannibal in Italien stand, treu geblieben waren, zu ihm abfallen würden, als er wieder in Afrika war.
Im Übrigen verblasst eine Geschichte über die Ermordung von Abtrünnigen im fernen Süditalien verglichen mit dem, wie die Römer mit den abtrünnigen Städten und Stämmen umsprangen. Das musste wesentlich abschreckender (oder auch empörender) wirken.
 
Polybios schreibt dort aber nicht, dass die Römer Hannibal vorgeworfen hätten, tatsächlich Kannibalismus zu betreiben - und schon gar nicht generell, weil er eben so ein grausamer Barbar sei und so gerne Menschenfleisch esse.
Das habe ich von Gavin du Beer, der gibt aber nur Polybius an der Hannibal rechtfertigt, nicht woher der Kannibalismus Vorwurf kommt. Ich habe es an anderer Stelle ausführelicher gelesen, erinnere mich aber nicht wo.

Einen "sauberen" Krieg hat es nie gegeben und wird es vermutlich auch nie geben.
Genau meine Meinung.

Im Übrigen verblasst eine Geschichte über die Ermordung von Abtrünnigen im fernen Süditalien verglichen mit dem, wie die Römer mit den abtrünnigen Städten und Stämmen umsprangen. Das musste wesentlich abschreckender (oder auch empörender) wirken.

Das stimmt wohl. Jedoch sagst Du selber, dass bei den Römern bezüglich Hannibal und Karthago viel Irrationalismus im Spiel war. Wir haben von übertriebenen Zahlen gesprochen aber Seiberts Zahl, dass etwa 300 000 getöte römische Soldaten (incl, Verbündete) auf Hannibals Konto gingen scheint zu stimmen. Das war fast die Hälfte der römischen wehrfähigen Bevölkerung. Auch wurde Italiens Landwirtschaft wurde sehr langfristig geschädigt. Daher ist nur verständlich, das für viele Römer Hannibal als Ungeheuer erschien, dem man alle nur erdenklichen Greueltaten zutraute.

Ich will das jetzt nicht weiter ausführen. Eichelhähers "Friedensangebot" erscheint mir sinnvoll, weil das eigentliche Thema von beiden Seiten erschöpfend behandelt.
Das übrige müßte man in einem gesonderten Thema über Propaganda im zweiten punischen Krieg abhandeln. Ich habe aber gerade im Dezember wenig Zeit. Ich werde es wohl auch in einigen Jahren nicht auf über 6000 Beiträge bringen.
 
Hier eine Beobachtung von Martin Hose:

Für Polybios 11,19 zählte Hannibals Fähigkeit, seine bunt zusammengewürfelte Söldner-Armee während der zahlreichen Wendungen im Kriegsglück in Disziplin zu halten, zu dessen großen Leistungen. Er vergleicht den Karthager dabei mit einem guten Steuermann (§3) [FN: Polibios' Bewunderung hat ihre Entsprechung in Livius 28,12,2-9...]. Das Faktum, dass Hannibal sein Heer unangefochten kommandierte, bleibt auch bei Appian unbestritten. Doch in der Beschreibung, auf welche Weise Hannibal mit seinem Heer umgeht, wird ein deutlich anderer Akzent gesetzt: Er misstraut seinen Söldnern (Hann. 77 – 129 ) und ist schließlich, als er Italien räumen muss, so skrupellos, dass er diejenigen seiner Soldaten, die zurückbleiben wollen oder müssen, versklaven oder umbringen lässt (Hann. 247-9). […] Aus Polybios' gutem Steuermann ist hier ein kalt berechnender Machiavellist geworden.
Hose, Martin: Erneuerung der Vergangenheit. Die Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Dio. Stuttgart/Leipzig 1994, S. 184 f.
 
Polybios und Appian unterscheiden sich aber nur in der Wertung bzw. Analyse. Das Faktum, dass Hannibal sein Heer zusammen und unter Kontrolle halten konnte, ist bei beiden gleich. Polybios lobt Hannibal dafür, schreibt an der zitierten Stelle aber nichts darüber, wie Hannibal das geschafft hat. In Hannibal hineinblicken konnte ohnehin keiner der beiden Autoren.

Mit Zuckerbrot allein kann man ein Heer nicht zusammenhalten. (Wer Wehrdienst geleistet hat - oder auch bloß zur Schule gegangen ist oder in einer hierarchisch strukturierten Abteilung gearbeitet hat - wird wissen, dass Vorgesetzte, die immer nur nett sind, von manchen aufrührerisch veranlagten Untergebenen irgendwann nicht mehr richtig ernst genommen werden und somit die Kontrolle verlieren.) Zumindest gelegentlich lässt sich hartes Durchgreifen leider nicht vermeiden, um die Ordnung zu wahren.

Hannibal wird aber freilich zugute gekommen sein, dass seine Männer kaum eine andere Wahl hatten als bei ihm zu bleiben, weil sie nicht einfach mitten im Feindesland ihre Sachen packen und abhauen konnten. Erst als er die Italiker nach Übersee mitnehmen wollte, werden manche von ihnen Panik bekommen haben, als sie realisierten, dass das höchstwahrscheinlich bedeuten würde, dass sie niemals mehr nach Italien zurückkehren würden können.
 
Polybios und Appian unterscheiden sich aber nur in der Wertung bzw. Analyse. Das Faktum, dass Hannibal sein Heer zusammen und unter Kontrolle halten konnte, ist bei beiden gleich.

Damit liegst du mit M. Hose auf einer Wellenlänge:

Das Faktum, dass Hannibal sein Heer unangefochten kommandierte, bleibt auch bei Appian unbestritten. Doch in der Beschreibung, auf welche Weise Hannibal mit seinem Heer umgeht, wird ein deutlich anderer Akzent gesetzt:
 
Das Hannibal sein Heer unangefochten kommandierte wird auch in der modernen Geschichtsschreibung so gesehen, der Schwerpunkt liegt hier aber in Hannibals Charisma, das heißt in Richtung Polybius, der grundsätzlich von modernen Historikern als glaubwürdigste Quelle gesehen wird.
Meine wichtigsten "Quellen" sind Seibert, Huss, Barcelo, Dodge, Du Beer.
 
Zurück
Oben