"Herrenmenschen"- und "Lebensraum"-Ideologie in der NS-Zeit: Zusammenhang mit Verlust der dt. Kolonien?

Gab es die Vorstellung aus der Krim eine deutsche Kolonie zu machen eigentlich bereits im 1. Weltkrieg? I
Ja, die gab es.
Auch Sevastopol auf der Krim soll deutscher Hafen werden. Hillgruber S. 56
Denn die Deutschen hatten diese Ende April besetzt „which Ludendorff, (anticipating Hitler) saw as a terrain for German colonization.“
Stevenson S. 396.
 
Herzog Ferdinand von Anhalt-Köthen gründete 1828 die anhaltinische Kolonie(sic!) Askania Nova in der taurischen Steppe - gleich nördlich der Krim. (Das einst tatarische Gebiet war erst ein paar Jahrzehnte zuvor von Russland erobert.)
Das wird man allerdings kaum als Projekt gewaltsamer rassistisch motivierter Landnahme von deutscher Seite auffassen können, die mit der Lebensraum-Ideologie der Nazis vergleichbar wäre, sondern das lief ja mehr auf ein Kooperationsprojekt mit den russischen Zaren nach dem Muster der "Schwarzmeerkolonien" hinaus.








Dank an @hatl
 
Das wird man allerdings kaum als Projekt gewaltsamer rassistisch motivierter Landnahme von deutscher Seite auffassen können, die mit der Lebensraum-Ideologie der Nazis vergleichbar wäre, sondern das lief ja mehr auf ein Kooperationsprojekt mit den russischen Zaren nach dem Muster der "Schwarzmeerkolonien" hinaus.

Auf eine Gleichsetzung mit der Nazi-Ideologie möchte ich gar nicht hinaus, ein Vergleich ist natürlich möglich, solange man auch die Unterschiede klarstellt.

Die Nazi-Ideologie ist ein Mosaik aus dem "Ideenschutt des 19. Jahrhunderts". Die Traditionslinien sind jedenfalls erkennbar.
Einen deutlichen Unterschied sehe ich allerdings in der totalen Feindschaft mit Sowjet-Russland vor dem Hintergrund einer jüdischen Weltverschwörung. Dieses Zerrbild war im 19. Jahrhundert natürlich noch nicht vorhanden und wurde Motor der Vernichtungskrieges. Hier sind Antisemitismus und Antislawismus und wahrscheinlich noch ein paar Hass-Ideologien miteinander verknüpft worden.

Die russische Oktober-Revolution führt bereits in Ober Ost zu einer Radikalisierung auf deutscher Seite. Im Frühjahr 1918 ordnete der Oberbefehlshaber Ost ist Ausweisung der russischen und jüdischen Bevölkerung an, weil es sich um "unerwünschte Einwohner" und "unnötige Esser" handelte. Soweit ist es aber dann doch nicht gekommen - wahrscheinlich aufgrund von praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Nach der Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg und der November-Revolution wurden die kolonialen Aktivitäten im Baltikum noch einige Monate durch deutsche Freikorps fortgesetzt, bis jene Freikorps zur Rückkehr nach Deutschland gezwungen wurden. Wirkmächtiger als die praktische Politik des Obersten Heeresleitung (unter Hindenburg und Ludendorff!) ist allerdings der von der völkischen Bewegung gepflegte Mythos um das Heldentum der Freikorps, den Verrat durch die Republik, der Ritt nach Riga usw. Ober Ost war vor allem eine völkische Utopie.

Die "Kolonien" am Schwarzen Meer waren als Gegenmodell zur Auswanderung nach Amerika oder Australien. Es gibt jedenfalls einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Kolonisierung in Übersee, in Osteuropa und der inneren Kolonisierung innerhalb des Deutschen Reiches. Gerade wenn man sich Quellen aus jener Zeit durchliest, wird klar, dass das genauso gemeint war, als deutsche Siedlungskolonien, in denen die Angehörigen einer minderwertigen Rasse stören.

Max Weber u.a. arbeiteten mit dem Schreckgespenst der Polonisierung. Ausschlaggebend waren zwei Faktoren. Zum Einen gab es im 19. Jahrhundert eine starke Auswanderung aus dem ostelbischen Raum nach Amerika. Diese Auswanderer gingen somit dem deutschen Volk verloren. Gleichzeitig kam es zur Zuwanderung polnischer Landarbeiter, die als minderwertige Rasse angesehen wurden. Das deutsche Volk sei daher vom Untergang bedroht.
Als Doppelstrategie gab der Alldeutsche Verband in der sogenannten "Polenfrage" war daher die Empfehlung den Zuzug polnischer Landarbeiter zu beschränken und gleichzeitig die Zuwanderung rassisch einwandfreier deutscher Siedler in dünn besiedelte oder mehrheitlich polnische Teile Preußens zu fördern.
Weber schreibt übrigens ausdrücklich von einer minderwertigen "Rasse" der Polen und vom "züchten" der Bevölkerung.

Die Lobbyarbeit des Alldeutschen Verbandes führte durchaus zu erfolgen. So wurde z.B. der Zuzug weiterer Polen aus Österreich-Ungarn und dem Russischen Reich verboten bzw. auf Saisonarbeiter (Sachsengänger) beschränkt. Aufenthalt und Abschiebung wurden rechtlich geregelt. Bei den preußischen Bürgern polnischer Ethnie bleibt es bei Gängeleien bzgl. der polnischen Sprache und auch der katholischen Konfession (Kulturkampf). Pläne zur gezielten Vertreibung der Polen aus dem Reich sind mit jedenfalls aus dieser Zeit (Ende 19. Jahrhundert) nicht bekannt.

Der antipolnische Diskurs entsteht Mitte des 19. Jahrhundert und wird in Diskussionen des Paulskirchen-Parlaments ablesbar. Bereits damals wurde über eine mögliche Ausdehnung des Deutsches Reiches bis zum Schwarzen Meer diskutiert und über die Minderwertigkeit der Polen gegenüber den Deutschen gefachsimpelt, das ganze blieb allerdings damals nicht unwidersprochen. Einige Redner des Parlaments knüpften noch an die Polenbegeisterung der Vormärz-Epoche an und wollten auch den Polen und anderen slawischen Völkern einen Nationalstaat ermöglichen.

Lese.Tipps:
bpb: Geschichte und Gegenwart des antiosteuropäischen Rassismus und Antislawismus

Freiburg-Postkolonial: Max Weber

Hans-Christian Petersen: Kolonialismus, Rassismus und das östliche Europa. Ein Problemaufriss

Ronn Hellfritzsch: Auf dem Weg zum neuen Ostland. Planung der Kolonisation des Baltikums im Ersten Weltkrieg.
 
Zuletzt bearbeitet:
Gab es die Vorstellung aus der Krim eine deutsche Kolonie zu machen eigentlich bereits im 1. Weltkrieg? Ich meine mich gerade dunkel daran zu erinnern. Sollte das der Fall sein, müsste man sich ggf. auch da mal anschauen, inwiefern das vom angedachten Modell her bereits mit der NS-Politik vergleichbar war.

Ja, Generalmajor Max Hofmann sprach davon, aus der Krim eine "deutsche Riviera" zu machen.
 
Ich wollte, auch von @Maglors Beiträgen inspiriert, noch einmal auf den Begriff "Volk ohne Raum" und "Lebensraum" eingehen.

Das Schlagwort "Volk ohne Raum" basiert vor allem auf einem gleichnamigen Roman von Hans Grimm.

Worum geht es? Der Roman "Volk ohne Raum" beschäftigt sich mit dem Schicksal von Cornelius Friebott, der um 1875 im Weserbergland zur Welt kommt. Das ganze Leben von Friebott, der am Tage des Hitlerputsches stirbt, dreht sich darum, dass D, wenn es nicht untergehen will, mehr Lebensraum braucht.

Friebott, Sohn eines Steinbrucharbeiters räsoniert um 1890 über seine mangelnde Perspektive im Weserbergland. Mit einem Freund geht er zunächst ins Ruhrgebiet, merkt aber schnell, dass auch dort die arbeitende Bevölkerung und die Tüchtigen gelackmeiert sind, solange sie nicht Meistersöhne sind oder Grundbesitz ihr Eigen nennen. Friebott kommt in Kontakt mit Arbeitervereinen und gerät mit dem Gesetz in Konflikt, obwohl er sich mutig und aufrichtig verhält.

Daraufhin entschließt er sich, nach Südwestafrika auszuwandern. In Südwest macht er Bekanntschaft mit Buren und Eingeborenen und entdeckt, dass diese alle einen "Nationalcharakter" besitzen. Friebott nimmt auf Seite der Buren am 2. Burenkrieg teil.

In Afrika haben es die Deutschen schwer. Die weniger begabten und weniger fleißigen Buren neiden den Deutschen den Erfolg, sie haben mit Intrigen der Buren und Briten zu kämpfen.

Friebott baut sich an der Lüderitzbucht eine Farm auf. 1914 wird er von den Briten verhaftet, gelangt aber über Angola nach Europa und heiratet seine Jugendliebe. Auf Kundgebungen der Alldeutschen tritt Friebott als Redner auf, um für sein Projekt zu werben: Auswanderung nach Afrika und Gewinnung neuen Lebensraums für das deutsche Volk. Friebott wird am Tage des Hitlerputsches von einem aufgebrachten Arbeiter mit einem Steinwurf verletzt und stirbt an dieser Verletzung.

 
Ein paar - leider längere - Vorbemerkungen.
In Wirklichkeit kann man - etwas holzschnittartig - zwei Arten von Kolonialisierung unterscheiden:
I.
Im ersten Fall ("klassischer Kolonialismus") wird ein Landstrich von einer europäischen Macht aus vorwiegend ökonomischen Gründen (Monopolisierung von Handelswegen, Gewinnung von Exportmärkten etc.) eingenommen: Die größeren bestehenden politischen und militärischen Strukturen werden (soweit sie für die Landnahme hinderlich sind) zerschlagen und eine aus europäischen Personen bestehende "Herrscherschicht" (Kolonialbeamte, Händler, Militärs und für deren Versorgung und Wohlbefinden benötigtes Personal) über die Einheimischen gesetzt, wobei Kollaboration einheimischer Eliten - sofern diese loyal sind und es für die Kolonialherrn opportun erscheint - nicht selten ist: Der Kral-Chef darf seine Hütte und der Maharadscha seinen Palast behalten; beide dürfen weiterhin Autorität gegenüber ihren bisherigen Untertanen ausüben.
Das Lage der "einfachen" Eingeborenen - abgeschnitten von eigener Entwicklung und zu den bisherigen Mühsalen nun zusätzlich fremden Interssen unterworfen - ist zwar schlecht, aber in "Normalzeiten" nicht katastrophal: Soweit sie nicht unbotmäßig sind, sich ruhig verhalten und ihre neuen Herrn wie Halbgötter behandeln, können sie weiterhin ihr eher tristes Leben fristen. Außer natürlich, es gibt in ihren Ländern wesentliche Bodenschätze/Anbaumöglichkeiten, deren Ausbeutung den neuen Herrn als besonders rentabel und damit dringlich erscheinen: Das Vorhandensein karibischen Zuckers, von Anden-Silber oder kongolesischen Kautschuks war jedenfalls der Lebenserwartung der jeweiligen einheimischen Bevölkerung nicht gerade dienlich. Dennoch wurde auch in diesen Fällen die einheimische Bevölkerung - soweit sie nicht wie in der Karibik direkt ausgestorben wurde und durch afrikanische Sklaven ersetzt werden mußte - nicht absichtlich verdrängt und durch Europäer ersetzt.
II.
Der zweite Fall - in den letzten Jahrzehnten hat sich dafür im Englischen der Begriff "Settler-Colonialism" eingebürgert - unterscheidet sich deutlich vom ersten. Bald nach Anlandung entscheiden die neuen Kolonialisten, dass mit den Einheimischen "kein Staat" zu machen ist: Keine oder wenig Möglichkeit sie in europäische Projekte - landwirtschaftlicher und/oder bergbaulicher Art - einzubinden; keine oder zu wenig politische Stuktur, die vorteilhaft zu übernehmen wäre: Kurzum, die Eingeborenen sind - aus Sicht der Neuankömmlinge - nicht nur sinnlos, sondern sie "stören" und - was besonders sichtbar wird, sobald neue Einwanderer nachströmen - sie sitzen auf Land, das Europäer besser und produktiver verwenden könnten. Von dieser Erkenntnis bis zur letzlich vollzogenen Vertreibung und vielfach auch Ausrottung war es dann nur noch ein weiterer Schritt. Klassisches Beispiel für diese Art der Kolonialisierung ist natürlich Nordamerika, aber auch Australien und Südafrika sind hier zu erwähnen.
III.
Die jeweiligen Kolonisatoren haben es sich natürlich nicht selbst ausgesucht, welcher Weg einzuschlagen war, sondern sich nach den Umständen in den jeweiligen Kolonien gerichtet. Persönlich glaube ich, das Entstehen von Settler-Colonialism wird zumindest durch die folgenden Umstände begünstigt:
• Geringe Anzahl der indigenen Bevölkerung, die schon bei mäßigen Zustrom zahlenmäßig schnell ins Hintertreffen kommt.
• Fehlen größerer politischer indigener Strukturen, die ernsthaften Widerstand ermöglicht hätten.
• Mit Europa vergleichbare klimatische Verhältnisse, die erprobte Anbaumöglichkeiten erlaubten und für Europäer nicht ungewohnt waren.
Besonders der letzte Punkt erscheint mir wesentlich für den starken Zustrom von Einwanderern in diese Gebiete.

Zur Ausgangsfrage:
a.
Die deutschen Kolonien waren - nach obiger Einteilung - "klassische Kolonien", die überwiegend in den Tropen angesiedelt waren (man mußte halt nehmen, was noch frei war) und für kleinräumige agrarische Nutzung (das was ein deutscher Bauer von altersher halt kann und weiß - Bananen und Kokusnüsse zu ernten gehört halt nicht dazu) denkbar ungeeignet. Plantagenartiger Anbau wäre vielleicht partiell möglich gewesen, einen Finanzrahmen um sich derartiges aufzubauen, hatten jedoch die wenigsten. Zudem hat die damalige Regierung wohl auch kaum versucht (meine unbegründete Annahme), Anreize für eine solche Siedlerbewegung bereitzustellen.

b.
Die NS-"Lebensraumideologie" erinnert eigentlich mehr an ein Projekt des "Settler-Colonialism": Eine "ausgedünnte" Bevölkerung und die Zerschlagung politischer Strukturen, die eine effektive Neubesiedelung verhindert hätte, wären primär militärisch und/oder genozidial hergestellt worden. Natürlich war unter diesem Umständen eine bäuerliche Ansiedlung in diesen neuen Gebieten - soweit man keine moralischen Skrupel hegte - ein attraktives Angebot, auf das auch manche (ich denk jetzt v.a. an die Südtiroler Bauern, die "optierten") hineinfielen: Mehr Boden mit klimatisch bekannten Bedingungen, auf denen man mit traditionellen und bekannten Methoden guten Ertrag erwarten konnte, (vermeintlich) politisch abgesichert durch den NS-Staat, günstigst erworben mit politischen Beihilfen und eventuell mit der Erwartung auch noch "günstige" indigene Arbeitskräfte zur Aushilfe vorzufinden, ist - rein ökonomisch betrachtet - verlockend.

Angesichts der großen Fläche solcherart "freigemachter" Flächen zweifle ich allerdings daran, dass die bäuerlichen Ressourcen des dritten Reiches ausgereicht hätten, zeitnah - und nicht erst in einem Jahrhundert - eine effektive Flächennutzung zu gewährleisten...
 
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