Das wird man allerdings kaum als Projekt gewaltsamer rassistisch motivierter Landnahme von deutscher Seite auffassen können, die mit der Lebensraum-Ideologie der Nazis vergleichbar wäre, sondern das lief ja mehr auf ein Kooperationsprojekt mit den russischen Zaren nach dem Muster der "Schwarzmeerkolonien" hinaus.
Auf eine Gleichsetzung mit der Nazi-Ideologie möchte ich gar nicht hinaus, ein Vergleich ist natürlich möglich, solange man auch die Unterschiede klarstellt.
Die Nazi-Ideologie ist ein Mosaik aus dem "Ideenschutt des 19. Jahrhunderts". Die Traditionslinien sind jedenfalls erkennbar.
Einen deutlichen Unterschied sehe ich allerdings in der totalen Feindschaft mit Sowjet-Russland vor dem Hintergrund einer jüdischen Weltverschwörung. Dieses Zerrbild war im 19. Jahrhundert natürlich noch nicht vorhanden und wurde Motor der Vernichtungskrieges. Hier sind Antisemitismus und Antislawismus und wahrscheinlich noch ein paar Hass-Ideologien miteinander verknüpft worden.
Die russische Oktober-Revolution führt bereits in Ober Ost zu einer Radikalisierung auf deutscher Seite. Im Frühjahr 1918 ordnete der Oberbefehlshaber Ost ist Ausweisung der russischen und jüdischen Bevölkerung an, weil es sich um "unerwünschte Einwohner" und "unnötige Esser" handelte. Soweit ist es aber dann doch nicht gekommen - wahrscheinlich aufgrund von praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Nach der Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg und der November-Revolution wurden die kolonialen Aktivitäten im Baltikum noch einige Monate durch deutsche Freikorps fortgesetzt, bis jene Freikorps zur Rückkehr nach Deutschland gezwungen wurden. Wirkmächtiger als die praktische Politik des Obersten Heeresleitung (unter Hindenburg und Ludendorff!) ist allerdings der von der völkischen Bewegung gepflegte Mythos um das Heldentum der Freikorps, den Verrat durch die Republik, der Ritt nach Riga usw. Ober Ost war vor allem eine völkische Utopie.
Die "Kolonien" am Schwarzen Meer waren als Gegenmodell zur Auswanderung nach Amerika oder Australien. Es gibt jedenfalls einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Kolonisierung in Übersee, in Osteuropa und der inneren Kolonisierung innerhalb des Deutschen Reiches. Gerade wenn man sich Quellen aus jener Zeit durchliest, wird klar, dass das genauso gemeint war, als deutsche Siedlungskolonien, in denen die Angehörigen einer minderwertigen Rasse stören.
Max Weber u.a. arbeiteten mit dem Schreckgespenst der Polonisierung. Ausschlaggebend waren zwei Faktoren. Zum Einen gab es im 19. Jahrhundert eine starke Auswanderung aus dem ostelbischen Raum nach Amerika. Diese Auswanderer gingen somit dem deutschen Volk verloren. Gleichzeitig kam es zur Zuwanderung polnischer Landarbeiter, die als minderwertige Rasse angesehen wurden. Das deutsche Volk sei daher vom Untergang bedroht.
Als Doppelstrategie gab der Alldeutsche Verband in der sogenannten "Polenfrage" war daher die Empfehlung den Zuzug polnischer Landarbeiter zu beschränken und gleichzeitig die Zuwanderung rassisch einwandfreier deutscher Siedler in dünn besiedelte oder mehrheitlich polnische Teile Preußens zu fördern.
Weber schreibt übrigens ausdrücklich von einer minderwertigen "Rasse" der Polen und vom "züchten" der Bevölkerung.
Die Lobbyarbeit des Alldeutschen Verbandes führte durchaus zu erfolgen. So wurde z.B. der Zuzug weiterer Polen aus Österreich-Ungarn und dem Russischen Reich verboten bzw. auf Saisonarbeiter (Sachsengänger) beschränkt. Aufenthalt und Abschiebung wurden rechtlich geregelt. Bei den preußischen Bürgern polnischer Ethnie bleibt es bei Gängeleien bzgl. der polnischen Sprache und auch der katholischen Konfession (Kulturkampf). Pläne zur gezielten Vertreibung der Polen aus dem Reich sind mit jedenfalls aus dieser Zeit (Ende 19. Jahrhundert) nicht bekannt.
Der antipolnische Diskurs entsteht Mitte des 19. Jahrhundert und wird in Diskussionen des Paulskirchen-Parlaments ablesbar. Bereits damals wurde über eine mögliche Ausdehnung des Deutsches Reiches bis zum Schwarzen Meer diskutiert und über die Minderwertigkeit der Polen gegenüber den Deutschen gefachsimpelt, das ganze blieb allerdings damals nicht unwidersprochen. Einige Redner des Parlaments knüpften noch an die Polenbegeisterung der Vormärz-Epoche an und wollten auch den Polen und anderen slawischen Völkern einen Nationalstaat ermöglichen.
Lese.Tipps:
bpb:
Geschichte und Gegenwart des antiosteuropäischen Rassismus und Antislawismus
Freiburg-Postkolonial: Max Weber
Hans-Christian Petersen: Kolonialismus, Rassismus und das östliche Europa. Ein Problemaufriss
Ronn Hellfritzsch: Auf dem Weg zum neuen Ostland. Planung der Kolonisation des Baltikums im Ersten Weltkrieg.