Historische Zahlendreher!?

jschmidt

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lt. Süddeutscher vom Samstag ist der Rhein knapp 100km kürzer als angegeben. In den 30ern hat sich ein Zahlendreher bei Brockhaus/Knaur eingeschlichen, und alle seither haben abgeschrieben.
erschien bereits am 26.01.10 hier:
Der Rhein ist kürzer als gedacht - Kölner Stadt-Anzeiger
Ein Kölner Biologieprofessor behauptet, es habe "irgendwann" einen Zahlendreher gegeben. Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich...

Tatsache ist, dass in der 15. Brockhaus-Auflage (Bd. 15, 1933, S. 675) die Gesamtlänge mit 1320 km angegeben ist, "von Reichenau bis zur Nordsee 1162 km, von der Schweizer bis zur niederländ. Grenze 694 km", und das Stromgebiet mit 224.400 qkm.
Tatsache ist aber auch, dass die Zahl 1320 z. B. bereits in Ritters Geographisch-Statistischem Lexikon (9. Aufl. Bd. 2, 1905, S. 680) enthalten ist, wonach die Hypothese "30er Jahre" verworfen werden müsste.

In diesen wie in anderen Nachschlagewerken sind auch Rhein-Teilstrecken angegeben. Ein Zahlendreher müsste sich naturgemäß auch auf die Teilstrecken auswirken. Schade, dass unser Kölner Gewährsmann dazu nichts sagt.

Antithese: Es liegt kein Zahlendreher vor, sondern das Problem liegt in den Definitionen (was gehört zum Rhein, was nicht?).
 
Die SZ gibts auch online.
Und den Artikel auch.
Auszugsweise:
These::D
Verblüfft äußert sich auch der Geographie-Professor Rüdiger Glaser von der Universität Freiburg. Für ein Hochwasser-Projekt zum Oberrhein habe er die Angaben zur Flusslänge aus Nachschlagewerken entnommen. "So schreiben sich die Fehler dann immer weiter fort", klagt er.
Wie es überhaupt zu dem Fehler kam, ist nicht einfach nachzuvollziehen. Eine Folge der Rheinbegradigungen im 19. und 20. Jahrhundert kann es nicht sein, obwohl der Fluss damals zwischen Basel und Bingen 81 Kilometer und vor dem Bodensee zehn Kilometer kürzer geworden ist. Diese Längenveränderung scheint zwar genau den Fehler zu erklären, doch begannen die Verkürzungen bereits 1817 in der Nähe von Karlsruhe und waren am Oberrhein 1876 abgeschlossen. Erst danach wurden erstmals verlässliche Längenangaben erhoben.

Wahrscheinlicher ist ein einfacher Zahlendreher, der vor mehreren Jahrzehnten passiert sein muss und bei dem die mittleren beiden Ziffern der Längenangabe vertauscht wurden. Vor hundert Jahren nämlich enthielten große Konversationslexika wie der Brockhaus von 1903, der Herder von 1907 und der Meyer von 1909 noch die korrekte Angabe; auch eine Rheinkunde von 1922 hatte die richtige Zahl. Doch 1932 lag Knaurs Lexikon erstmals falsch und 1933 der Brockhaus – bis heute. Offenbar hat seither niemand die Zahl auf ihre Plausibilität geprüft. Und einzelne Fachbücher mit korrekten Längenmessungen fanden keine Beachtung.
Dabei gab es genügend Hinweise und Gelegenheiten zur Richtigstellung: Seit 1939 gilt eine offizielle Kilometerzählung für den Rhein. Sie beginnt in Konstanz bei Null und zeigt in Hoek van Holland 1033. Sollte also die Zahl von 1320 stimmen, dann müssten Bodensee, der sogenannte Alpenrhein und der längste der Quellbäche oberhalb des schweizerischen Reichenau zusammen knapp 290 Kilometer ausmachen. Eine Blick auf die Karte entlarvt das als falsch.
Auch offizielle Zahlen aus der Schweiz lassen die korrekte Länge erkennen. So gibt das Schweizer Bundesamt für Umwelt an, der Rhein lege auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft 377 Kilometer zurück. Die Strecke reicht von der Quelle durch den Bodensee nach Basel, wo die offizielle Kilometertafel 170 steht. Von dort sind es der weiteren Beschilderung zufolge noch 863 Kilometer nach Hoek van Holland. Macht 1240.
Die Mitglieder der KHR, die sozusagen die höchste Autorität für den Rhein sind, hätten ebenfalls Gelegenheit gehabt, den Fehler zu erkennen. Sie veröffentlichten zum Beispiel 2007 einen 395-Seiten-Bericht über den Strom und seine Nebenflüsse. Dort steht auf Seite 9 die Längenangabe von 1320 Kilometern und auf Seite 10 eine Grafik über das Höhenprofil des Rheins, die jeden genauen Leser hätte stutzig machen müssen. Sie besagt, dass die Quellbäche in den Bündner Alpen 150 Kilometer fließen müssen, um von 2400 auf 670 Höhenmeter zu kommen. Das macht elf Meter pro Kilometer – ein sehr gemächliches, eigentlich nicht zu erklärendes Gefälle für das Hochgebirge. Tatsächlich sind es ja auch im Mittel 26 Meter pro Kilometer.
Dass mit Zahlen rund um den Rhein traditionell schlampig umgegangen wurde, zeigen auch weitere öffentlich verfügbare Quellen. Vieles davon sind Petitessen, die nicht die eklatante Differenz von 90 Kilometern erklären können. Sie lassen aber eine gewisses lais|sez faire der Behörden ahnen und verweisen auf eine mangelnde Kultur der Präzision: Die offiziellen Stromkilometer ab Konstanz übertreiben die Länge um 1,2 Kilometer. An drei Stellen am Hoch- und Oberrhein stehen die Kilometertafeln zum Beispiel zu eng. In Stein, Roxheim und Bingen gibt es "kurze Kilometer", weil dort einzelne deutsche Länder an ihren Grenzen schon mit der Beschilderung angefangen hatten und nicht mehr alles ändern wollten, als 1939 das einheitliche System kam.Etwas Unsicherheit produziert auch die Suche nach der Rheinquelle. Der längste Bach entspringt nämlich nicht am Tumasee in Graubünden, sondern etwas oberhalb des Lago dell’Isra im Tessin, wo der Reno di Medel entsteht. Doch das macht den Rhein nur um etwa fünf Kilometer länger.
Unerklärlich hingegen sind die Differenzen am Alpenrhein. Dort hat eine gemeinsame Regierungskommission von Österreich und der Schweiz eigene Stromkilometer definiert. Sie beginnen mit Null in Reichenau, wo Vorder- und Hinterrhein zusammenfließen und enden am Bodensee in Hard bei Bregenz mit 94; hier geleiten kilometerlange Dämme das graue Wasser des Flusses in den grünen Bodensee, damit das Ufer durch die mitgespülten Sedimente nicht geschädigt wird. Sie schieben das Delta des Rheins um 29 Meter pro Jahr in den See vor. Bruno Kremer ermittelt für diese Strecke aus topographischen Karten 86 Kilometer. Der Brockhausverlag hingegen nennt 102 Kilometer.
Arg kreativ geht der Westermann-Schulbuchverlag mit dem Thema in einem Arbeitsblatt um. Dessen Autoren haben die Differenz zwischen 1230 und 1320 Kilometern, die doch eindeutig auf Fehlern bei den Angaben zwischen Quelle und Bodensee beruht, über den ganzen Fluss verteilt und machen nun alles falsch. So ist Angabe über die Mündung in den Bodensee zehn Kilometer zu groß, die über Schaffhausen 29. In Straßburg summiere sich die Differenz auf 38 Kilometer, in Mainz auf 51, in Bonn auf 62, an der Mündung auf 87.
All das kann jedoch nicht erkären, wie aus ungefähr 1230 Kilometern 1230 wurden. Die Aufräumarbeiten bis in die Details der Nachschlagwerke dürften also eine Weile dauern, wenn Atlanten, Schulbücher, Webseiten und Messingtafeln verändert werden müssen. Allen voraus ist zurzeit das Online-Lexikon Wikipedia: Ein Rentner aus Leutesdorf bei Koblenz hat dort im Januar Bruno Kremers Längenangabe unter dem Stichwort "Rhein" eingefügt.
Gott schütze die Dialektik, den Rheinwein, den teutonischen Tiefdrunk und die teutsche Frau.:devil::scheinheilig::pfeif:
 
Zuletzt bearbeitet:
Gott schütze die Dialektik, den Rheinwein, den teutonischen Tiefdrunk und die teutsche Frau.
JAWOLL!

Die "Unbekümmertheit" im Umgang mit Zahlen setzt sich leider auch im SZ-Artikel fort, wo es heißt: "Vor hundert Jahren nämlich enthielten große Konversationslexika wie [...] und der Meyer von 1909 noch die korrekte Angabe".

Ich habe den Meyer vor mir liegen:
1. Der 16. Band ist von 1908. (Oder ist eine andere Ausgabe gemeint?)
2. Auf S. 862 heißt es: "...die Länge beträgt 1225 km..." Da ist es mit einem bloßen Zahlendreher nicht getan...:pfeif:

Übrigens verändert sich auch das "Stromgebiet" des Flusses auf geisterhafte Art: Meyer (1908) nennt 196.303 qkm, Brockhaus (1933) und Ritter (1909) 224.400; letzterer Zahl kommt schon der Pierer (4. Aufl. um 1860: 4080 Quadratmeilen) nahe.
 
Hallo Ihr beiden Helden der Dialektik!:D

Wie ich Euren Beiträgen entnehmen kann, seid Ihr in der Lage zur Rhein-Länge Thesen und Anti-Thesen zu bilden. Aber wie sieht Eure Synthesen-Bildung aus?:pfeif:Und vor allem nach welcher Logik soll die denn erfolgen?:devil: Mittelwert?=)

Mein weiterführender Lesetip zur Dialektik-Kritik: Karl Popper, Was ist Dialektik?, in: Topitsch, Logik der Sozialwissenschaften (1967).:fs:
 
Hallo Ihr beiden Helden der Dialektik!:D
Wie ich Euren Beiträgen entnehmen kann, seid Ihr in der Lage zur Rhein-Länge Thesen und Anti-Thesen zu bilden. Aber wie sieht Eure Synthesen-Bildung aus?:pfeif:Und vor allem nach welcher Logik soll die denn erfolgen?:devil: Mittelwert?=)
In einem demokratischen Gemeinwesen kommt hier natürlich nur eine Mehrheitsentscheidung infrage!

Mein weiterführender Lesetip zur Dialektik-Kritik: Karl Popper, Was ist Dialektik?, in: Topitsch, Logik der Sozialwissenschaften (1967).:fs:
Da ich als Dialektiker gezählt werde, nehme ich diese Rolle probeweise an und verweise vorsorglich auf Habermas' Diktum, wonach "der dialektische Begriff des Ganzes [...] die Grenzen formaler Logik (überschreitet), in deren Schattenreich Dialektik selber nicht anders scheinen kann als eine Schimäre."

Deswegen erstmal heraus aus diesem (Rheinlängen-) Schattenreich hinein in diesen neuen Thread: http://www.geschichtsforum.de/f72/dialektik-und-geschichtswissenschaft-32429/
 
In einem demokratischen Gemeinwesen kommt hier natürlich nur eine Mehrheitsentscheidung infrage!
Das wird es sein ! Der demokratische "aufrundende Kompromiss". Wenn vier Parteien jeweils das größte Stück vom Kuchen haben wollen, kriegt jeder 30 % und alle sind zufrieden (wer zahlt die Differenz ? Wir ahnen es schon). So wurden wahrscheinlich auch die Teilstücke des Rheins höchstdemokratisch zusammengezählt.
 
Hallo Ihr beiden Helden der Dialektik!:D

Wie ich Euren Beiträgen entnehmen kann, seid Ihr in der Lage zur Rhein-Länge Thesen und Anti-Thesen zu bilden. Aber wie sieht Eure Synthesen-Bildung aus?:pfeif:Und vor allem nach welcher Logik soll die denn erfolgen?:devil: Mittelwert?=)

.:fs:


Synthese:
Da, einem alten deutschen Volkslied folgend, das Wasser im Rhein "lauter Wein wär" ist in diesem Fall lediglich zu untersuchen, welche Folgen sich aus der Tatsache der Länge oder Kürze des "Bettes des Vaters Rhein" für den teutschen Tiefdrunk ergeben.
Darüber hinausgehende Fragen sind zunächst als vorläufig irrelevant nicht zu diskutieren.
 
Wie sieht es eigentlich mit einem Fazit aus? Mein Eindruck beim einmal durchlesen eurer Beiträge, jschmidt & Repo: es liegt doch schon bald mehr als eine Handvoll Schlamperei vor? Auf jeden Fall danke, daß ihr darauf aufmerksam macht.
 
Wie sieht es eigentlich mit einem Fazit aus? Mein Eindruck beim einmal durchlesen eurer Beiträge, jschmidt & Repo: es liegt doch schon bald mehr als eine Handvoll Schlamperei vor?

Nun ja, eines ist beim Fazit noch zu klären: wer ist für die Schlamperei verantwortlich?

Nehme ich mir die Statistischen Jahrbücher des Deutschen Reiches oder preußische Statistiken zur Hand, ist der Fall klar: die Schweizer oder Holländer sind schuld.:devil:

Erklärung: das Deutsche Reich hat schon vor 1900 die knapp 700 (-> 698 so aus der Erinnerung :D -> Staatslexikon) km in deutscher Gründlichkeit abgezählt. Das Problem liegt natürlich von der Quelle bis zum Bodensee (-> Schweiz), der anschließenden Durchmessung desselbigen und den anschließenden niederländischen Manipulationen der Rheinmündung =)

Ursi ist übrigens bemerkenswert still in dieser Diskussion.:p
 
Synthese:
Da, einem alten deutschen Volkslied folgend, das Wasser im Rhein "lauter Wein wär" ist in diesem Fall lediglich zu untersuchen, welche Folgen sich aus der Tatsache der Länge oder Kürze des "Bettes des Vaters Rhein" für den teutschen Tiefdrunk ergeben.
Darüber hinausgehende Fragen sind zunächst als vorläufig irrelevant nicht zu diskutieren.
Womit bewiesen wäre, dass mit Hilfe der "dialektischen Methode" der grösste Unsinn als "Synthese" präsentiert werden kann.:p
 
Nun ja, eines ist beim Fazit noch zu klären: wer ist für die Schlamperei verantwortlich?
Bisher steht für die "1320er" Angabe mein "Ritter 1909". Hat jemand etwas Früheres zu bieten?

Erklärung: das Deutsche Reich hat schon vor 1900 die knapp 700 ... km in deutscher Gründlichkeit abgezählt.
Das ist natürlich richtig; es war schon deswegen notwendig, um der Rheinschifffahrt verläßliche Grundlagen für Frachtraten usw. zu liefern.

Meidinger [1] stützt sich auf sehr sehr präzise aussehende Daten der Central-Kommission für Rheinschiffahrt:
In der Rheinschiffahrts-Convention vom 31. März 1831 wurde eine neue geometrische Festsetzung der Stromlänge festgesetzt, die aber erst im Jahre 1839 vollendet wurde. Nach dieser Messung beträgt der ganze Lauf des Rheins von Basel bis zur Mündung des Lecks (Krimpen) 900069 Metres..."
Davon liegen 129027 Metres hinter der niederländischen Grenze, so dass auf "uns" entfallen 771042 Metres. Die späteren Verkürzungen um 81 km abgezogen, ergibt die bekannte Zahl von ca. 690 km innerhalb der deutschen Grenzen.

Das Problem liegt natürlich von der Quelle bis zum Bodensee (-> Schweiz), der anschließenden Durchmessung desselbigen ...
Für den Rhein-Oberlauf vor Basel hat der frühere Schifffahrts-Inspektor Ockhart 1816 aus eigener Anschauung eine Länge von 95 Stunden = 47,5 deutschen Meilen = 351,8 km angegeben.

900-81+352 km = 1171 km!


[1] Die deutschen Ströme in ihren Verkehrs- und Handelsverhältnissen, 2. Abt.: Der Rhein, Frankfurt 2/1861, S. 6 ff.
 
Während hier im GF die Fackel der Aufklärung & Wahrheit aufopferungsvoll weitergetragen wird, ist die andere Seite auch nicht müßig. In einem vermutlich zu Zehntausenden verbreiteten Produkt eines bekannten Augsburger Buch-Großkonzerns von 2007 heißt es (S. 93 f.):
"Der Rhein windet sich 867 Kilometer weit an deutschen Ufern entlang. ... um nach 1320 Kilometern in einem weiten Delta in die Nordsee zu münden."
Buchtitel: Stimmt's? Irrtümer der Allgemeinbildung. :aua:
 
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