Verblüfft äußert sich auch der Geographie-Professor Rüdiger Glaser von der Universität Freiburg. Für ein Hochwasser-Projekt zum Oberrhein habe er die Angaben zur Flusslänge aus Nachschlagewerken entnommen. "So schreiben sich die Fehler dann immer weiter fort", klagt er.
Wie es überhaupt zu dem Fehler kam, ist nicht einfach nachzuvollziehen. Eine Folge der Rheinbegradigungen im 19. und 20. Jahrhundert kann es nicht sein, obwohl der Fluss damals zwischen Basel und Bingen 81 Kilometer und vor dem Bodensee zehn Kilometer kürzer geworden ist. Diese Längenveränderung scheint zwar genau den Fehler zu erklären, doch begannen die Verkürzungen bereits 1817 in der Nähe von Karlsruhe und waren am Oberrhein 1876 abgeschlossen. Erst danach wurden erstmals verlässliche Längenangaben erhoben.
Wahrscheinlicher ist ein einfacher Zahlendreher, der vor mehreren Jahrzehnten passiert sein muss und bei dem die mittleren beiden Ziffern der Längenangabe vertauscht wurden. Vor hundert Jahren nämlich enthielten große Konversationslexika wie der Brockhaus von 1903, der Herder von 1907 und der Meyer von 1909 noch die korrekte Angabe; auch eine Rheinkunde von 1922 hatte die richtige Zahl. Doch 1932 lag Knaurs Lexikon erstmals falsch und 1933 der Brockhaus – bis heute. Offenbar hat seither niemand die Zahl auf ihre Plausibilität geprüft. Und einzelne Fachbücher mit korrekten Längenmessungen fanden keine Beachtung.
Dabei gab es genügend Hinweise und Gelegenheiten zur Richtigstellung: Seit 1939 gilt eine offizielle Kilometerzählung für den Rhein. Sie beginnt in Konstanz bei Null und zeigt in Hoek van Holland 1033. Sollte also die Zahl von 1320 stimmen, dann müssten Bodensee, der sogenannte Alpenrhein und der längste der Quellbäche oberhalb des schweizerischen Reichenau zusammen knapp 290 Kilometer ausmachen. Eine Blick auf die Karte entlarvt das als falsch.
Auch offizielle Zahlen aus der Schweiz lassen die korrekte Länge erkennen. So gibt das Schweizer Bundesamt für Umwelt an, der Rhein lege auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft 377 Kilometer zurück. Die Strecke reicht von der Quelle durch den Bodensee nach Basel, wo die offizielle Kilometertafel 170 steht. Von dort sind es der weiteren Beschilderung zufolge noch 863 Kilometer nach Hoek van Holland. Macht 1240.
Die Mitglieder der KHR, die sozusagen die höchste Autorität für den Rhein sind, hätten ebenfalls Gelegenheit gehabt, den Fehler zu erkennen. Sie veröffentlichten zum Beispiel 2007 einen 395-Seiten-Bericht über den Strom und seine Nebenflüsse. Dort steht auf Seite 9 die Längenangabe von 1320 Kilometern und auf Seite 10 eine Grafik über das Höhenprofil des Rheins, die jeden genauen Leser hätte stutzig machen müssen. Sie besagt, dass die Quellbäche in den Bündner Alpen 150 Kilometer fließen müssen, um von 2400 auf 670 Höhenmeter zu kommen. Das macht elf Meter pro Kilometer – ein sehr gemächliches, eigentlich nicht zu erklärendes Gefälle für das Hochgebirge. Tatsächlich sind es ja auch im Mittel 26 Meter pro Kilometer.
Dass mit Zahlen rund um den Rhein traditionell schlampig umgegangen wurde, zeigen auch weitere öffentlich verfügbare Quellen. Vieles davon sind Petitessen, die nicht die eklatante Differenz von 90 Kilometern erklären können. Sie lassen aber eine gewisses lais|sez faire der Behörden ahnen und verweisen auf eine mangelnde Kultur der Präzision: Die offiziellen Stromkilometer ab Konstanz übertreiben die Länge um 1,2 Kilometer. An drei Stellen am Hoch- und Oberrhein stehen die Kilometertafeln zum Beispiel zu eng. In Stein, Roxheim und Bingen gibt es "kurze Kilometer", weil dort einzelne deutsche Länder an ihren Grenzen schon mit der Beschilderung angefangen hatten und nicht mehr alles ändern wollten, als 1939 das einheitliche System kam.Etwas Unsicherheit produziert auch die Suche nach der Rheinquelle. Der längste Bach entspringt nämlich nicht am Tumasee in Graubünden, sondern etwas oberhalb des Lago dell’Isra im Tessin, wo der Reno di Medel entsteht. Doch das macht den Rhein nur um etwa fünf Kilometer länger.
Unerklärlich hingegen sind die Differenzen am Alpenrhein. Dort hat eine gemeinsame Regierungskommission von Österreich und der Schweiz eigene Stromkilometer definiert. Sie beginnen mit Null in Reichenau, wo Vorder- und Hinterrhein zusammenfließen und enden am Bodensee in Hard bei Bregenz mit 94; hier geleiten kilometerlange Dämme das graue Wasser des Flusses in den grünen Bodensee, damit das Ufer durch die mitgespülten Sedimente nicht geschädigt wird. Sie schieben das Delta des Rheins um 29 Meter pro Jahr in den See vor. Bruno Kremer ermittelt für diese Strecke aus topographischen Karten 86 Kilometer. Der Brockhausverlag hingegen nennt 102 Kilometer.
Arg kreativ geht der Westermann-Schulbuchverlag mit dem Thema in einem Arbeitsblatt um. Dessen Autoren haben die Differenz zwischen 1230 und 1320 Kilometern, die doch eindeutig auf Fehlern bei den Angaben zwischen Quelle und Bodensee beruht, über den ganzen Fluss verteilt und machen nun alles falsch. So ist Angabe über die Mündung in den Bodensee zehn Kilometer zu groß, die über Schaffhausen 29. In Straßburg summiere sich die Differenz auf 38 Kilometer, in Mainz auf 51, in Bonn auf 62, an der Mündung auf 87.
All das kann jedoch nicht erkären, wie aus ungefähr 1230 Kilometern 1230 wurden. Die Aufräumarbeiten bis in die Details der Nachschlagwerke dürften also eine Weile dauern, wenn Atlanten, Schulbücher, Webseiten und Messingtafeln verändert werden müssen. Allen voraus ist zurzeit das Online-Lexikon Wikipedia: Ein Rentner aus Leutesdorf bei Koblenz hat dort im Januar Bruno Kremers Längenangabe unter dem Stichwort "Rhein" eingefügt.