Der Zeitpunkt der Kollektivierung war nicht beliebig gewählt worden.
Von E. H. Carr stammte die Vermutung, dass sich das "sozialistische Experiment" in Richtung einer sozialen Marktwirtschaft bewegt hätte, wenn der "Great Retreat" der KP und der zu NEP führte, ausgelöst durch die gravierenden wirtschaftlichen Probleme am Ende der "Kriegskommunismus", nicht durch die stalinistische Revolution "von Oben" beendet worden wäre.
Und damit die teilweise privatwirtschaftliche Ökonomie im Rahmen von "NEP" beendet wurde. Die Gründe für diese Entwicklung sind in der Tat sehr komplex.
Durch die Entwicklung von NEP (vgl. Nove S. 78 ff) ist es in der Sovietunion während dieser Phase zu einer Differenzierung in den Schichten gekommen, die eine Ausbildung von "ärmer" und "reicher" zuließen. Zumindest ein Aspekt, der ein gewisses "ideologisches" Unbehagen in der KP auslöste.
Es kam zudem zu einer Situation, die ebenfalls ideologisch aus der Sicht des ML mehr als problematisch war, indem es zu der Beschäftigung von Arbeitskraft durch einen Arbeitgeber kam. Volkswitschaftlich zwar keine bedeutsame Größe, aber Ansatzpunkt für die Kritik an der damit zusammenhängenden Ausbeutung des "Mehrwerts" der Arbeitsleistung durch den Arbeitgeber.
Und es kam nicht zuletzt, und das war ein zentraler Aspekt, zu der Ausbildung von wirtschaftlichen Organisationen, die ein Teil der privatwirtschaftlichen Unternehmen organisierte. Mit dieser qualitativen Veränderung sah sich die KP in ihrem politischen Führungsanspruch potentielle gefährdet.
Obwohl durch NEP eine gewisse Liberalisierung im ökonomischen Bereich einsetzte, war damit absolut keine politische Liberalisierung verbunden (vgl. beispielsweise die Darstellung bei Cohen zur Sicht von Bukharin).
Das Jahr 1927 war ein politisch sehr schwieriges Jahr für die UdSSR. So hebt beispielweise Brandenberger hervor, dass die mangelnde Legitimation des sowjetischen Systems während der Zehnjahresfeier mehr als deutlich wurde. Der politische Konflikt mit GB und die damit zusammenhänge Wahrnehmung einer Kriegsgefahr (War Scare) war dramatischer inszeniert als sie real war, aber sie erzeugte die Form von "Kriegsstimmung", die ein kennzeichnendes Merkmal des Stalinismus werden sollte.
Innenpolitisch kam es 1927/28 zur "Getreide-Krise", für die beispielsweise Stalin in seinen Briefen an Molotow (beispielsweise Letter 41, 10. August 1929) die "Termingeschäfte" von Zwischenhändlern verantwortlich machte. Und somit in dieser Gruppe, neben den Kulaken, die "Feinde" des sowjetischen Volkes meinte erkennen zu können.
Dabei war die Definition, wer als "Kulak" eingstuft werden sollte sehr widersprüchlich. Von "Narkomfin" (Finanzministerim) kam dabei die erste offizielle Definition, die als Grundlage für die damit zusammenhängende Besteuerung dienen sollte (vgl. Lewin, S. 126). Sie bildete innerhalb der Bauernschaft eine separate Gruppe von ca. 3.9 Prozent.
Die eigentlich Kampagne gegen die "Kulaken" begann in der zweiten Hälfte des Jahres 1929 (vgl. Viola, S. 66). Die "Dekulakisierung" lief über mehrere Phasen und dauerte bis ca. 1934.
Folgt man sowjetischen Schätzungen, so sind alleine in 30/31 ca. 600.000 Farmen umgewandelt worden und ca. 240.000 davon sind deportiert worden. Diese Deportationen, als "Special Settlers" bezeichnet veränderten die Zusammensetzung der urbanen und ländlichen Bevölkerung, wie Fitzpatrick beispielsweise zeigt, und führte vor allem auch zu der Besiedelung von zukünftigen industriellen Zentren, wie Kotkin für Magnitogorsk zeigt.
Die Diskussion über die Behandlungen der Kulaken im Rahmen der forcierten Industriealisierung war innerhalb der Politbüros sehr konträr diskutiert worden und die Entwicklung war bei weitem nicht so gradlinig wie bei einzelnen Beiträgen im GF suggeriert wird. Stalin war in 1929 erst am Beginn des Ausbaus seines "Stalinismus".
Interessant ist jedoch die Weiterentwicklung dieser Geschichte der "Dekulakisierung" bis in der Mitte der dreißiger Jahre, über die Amnestien und das allgemeine Wahrecht im Rahmen der "Stalin-Verfassung" (1935/36) und führt zu den Säuberungen in 1937/38.
1. Brandenberger, D. (2011). Propaganda state in crisis : Soviet ideology, indoctrination, and terror under Stalin, 1927-1941. Stanford, Calif.
New Haven, Hoover Institution, Yale University Press.
2. Cohen, S. F. (1975). Bukharin and the Bolshevik Revolution: a political biography, 1888-1938. New York,, Vintage Books. (vor allem: Bukharin and the Road to Socialism, S. 160 ff)
3. Fitzpatrick, S., The Great Departure. Ruaral-Urban Migration in the Soviet Union, 1929-33, S. 15 ff in: Rosenberg, W. G. and L. H. Siegelbaum (1993). Social dimensions of Soviet industrialization. Bloomington, Indiana University Press.
4. Kotkin, S. (1995). Magnetic mountain : Stalinism as a civilization. Berkeley, University of California Press.
5. Lewin, M.: Wo was the Soviet Kulak?, S. 121 ff in: Lewin, M. (1985). The making of the Soviet system : essays in the social history of interwar Russia. New York, Pantheon Books.
6. Nove, A. and A. Nove (1992). An economic history of the USSR, 1917-1991. London, England ; New York, N.Y., USA, Penguin Books.
7. Siegelbaum, L. H. (1992). Soviet state and society between revolutions, 1918-1929. Cambridge England ; New York, NY, USA, Cambridge University Press.
8. Stalin, J., et al. (1995). Stalin's letters to Molotov, 1925-1936. New Haven, Yale University Press.
9. Viola, Lynne; The second coming. Class enemies in the Soviet Country Side, 1927 - 1935, S. 65 ff. in: Getty, J. A. and R. T. Manning (1993). Stalinist terror : new perspectives. Cambridge ; New York, Cambridge University Press.