in diesem Fall würde ich mich desolat fragen, wie diese kulminierte allgemeine Zersplitterung so viele Jahrhunderte hatte erfolgreich zusammengehalten werden können...
Ebenso wie Agricola sehe ich sie sogar als Erfolgsfaktor. Die einzelnen Städte und Stämme waren zu schwach, um selbst zu einem Machtfaktor werden zu können, der dem Reich bedrohlich werden konnte.
Umgekehrt aber hatte ein Provinzstatthalter in seiner Provinz infolge der Autonomie seiner Städte und Stämme zu wenig Macht, um sich zu einer Art Provinzfürst, der Rom trotzen konnte, aufschwingen zu können. Wenn ein Statthalter Probleme bereiten konnte, dann nur auf Grundlage der militärischen Macht, die ihm die in seiner Provinz stationierten Truppen verliehen.
Für Rom selbst hatte die Zersplitterung den Vorteil, mit einer kostengünstigen schlanken Verwaltung auskommen zu können. Lokale Angelegenheiten ließ man von den Städten selbst regeln. Einen komplizierten übergeordneten Behördenapparat, der in die Städte hineinregierte, brauchte man nicht. Für Rom war wichtig, dass Ruhe und Ordnung gewahrt wurden und die römischen Bürger überall unbehelligt leben und ihren Geschäften nachgehen konnten, sowie dass die allfälligen Abgaben flossen. Alles andere interessierte Rom nicht.
Die Stadtbewohner wiederum konnten sich dem Gefühl hingeben, trotz der Zugehörigkeit zum römischen Machtbereich doch auch in einer Art Stadtstaat zu leben und selbst mitbestimmen zu können. Denn Mitbestimmung gab es faktisch nur auf städtischer Ebene, nicht im Reich.
Im Großen und Ganzen scheint dieses System lange gut funktioniert zu haben und auch alle Beteiligten recht zufrieden gewesen zu sein.
Erst in der Spätantike wurde es zum Problem, als die Städte immer weniger in der Lage waren, ihre Aufgaben zu erfüllen und ihre Lasten zu tragen und außerdem die städtische Selbstbestimmung immer mehr zur Farce wurde.
müsste in diesem Sinne nicht jedes Königtum, jedes Kaiserreich etc. als "zersplittert" bezeichnet werden?
(mir kommt "zersplittert" übrigens negativ konnotiert vor)
Das hängt wohl davon ab, ob das Reich aus einer Vielzahl kleiner Objekte (Städte, Grafschaften etc.) ohne oder ohne relevante übergeordnete Ebenen besteht und diese kleinen Objekte über reale Autonomie verfügen.
In diesem Sinne wird auch das späte HRR gerne als "zersplittert" bezeichnet.
In Österreich wird von manchen gerne die "Zersplitterung" in zahllose kleine und kleinste Gemeinden mit teilweise nur wenigen hundert Einwohnern beklagt (Anders als in Deutschland gibt es in Österreich zwischen Bundesland und Gemeinde nur die Bezirke als Ebene, wobei diese Bezirke allerdings reine, von oben gesteuerte Verwaltungseinheiten ohne jegliche Mitbestimmungsmöglichkeit der Bürger sind.) und die Zusammenlegung zu einigen wenigen großen Einheiten gefordert.
Interessanterweise schreibt H. Wolfram irgendwo, dass es für den Mann auf der Straße, für den durchschnittlichen römischen Bürger in der Spätantike egal war, ob gerade ein römischer General oder ein Barbarenkönig die militärisch-politische Macht inne hat bzw. dass man kaum Notiz davon nahm, Hauptsache das Leben ging wie gewohnt weiter.
Das mag sein. Aber wohl erst zu einer Zeit, als sich regionale römische Anführer auch nicht mehr viel anders benahmen als Barbarenanführer und sich ihre Truppen ohnehin auch zu einem Großteil aus Barbaren zusammensetzten. Zwischen einem Syagrius und einem Childerich wird es im Alltag tatsächlich kaum einen Unterschied gegeben haben.
Ich befürchte, solange wir der Frage ausweichen, was eine politische Einheit begründet, bringt uns die Diskussion nicht entscheidend weiter.
Was hältst Du von meinem Definitionsversuch in #30?