Taten sie aber nicht!
Während Rom innerhalb von 200 Jahren Europa eroberte, begnügte sich Karthago im Verlauf von 600 Jahren mit einigen Stützpunkten im Mittelmeer und einem kleinen Drittel Siziliens im Westen der Insel. (Die großen spanischen Eroberungen erfolgten erst im Zuisammenhang mit den Punischen Kriegen).
Dass Rom Ende des 6. Jhdts. v. Chr. bereits Europa beherrschte, ist mir neu.
Man sollte beim Vergleich schon fair bleiben: Rom und Karthago wurden der Überlieferung nach nicht allzu weit auseinander gegründet (Karthago 814, Rom 753). In der Realität wurden eventuell beide Städte erst etwas später gegründet.
Rom aber begnügte sich in seinen ersten Jahrhunderten mit einem Dasein als Stadtstaat und strebte lediglich nach der Hegemonie in Latium. Mit Ausnahme der Zerstörung Alba Longas ging es lange Zeit nicht zerstörerisch-aggressiv gegen seine Nachbarn vor. Kriege (die sich, wenn man der Überlieferung folgt, anscheinend häufig aus Grenzzwischenfällen wie Räubereien ergaben) wurden nach gewonnener Schlacht durch einen Vergleichsfrieden ohne große Änderungen am Status quo wieder beigelegt. Sogar die ersten (latinischen) Kolonien erhielten formell den Status souveräner Städte (Römer, die sich dort niederließen, verloren sogar ihr römisches Bürgerrecht), hatten auch faktisch weitreichende Autonomie und entstanden anfangs als latinische Gemeinschaftsprojekte, können also nur sehr bedingt als Anzeichen eines römischen Expansionsstrebens interpretiert werden. Erst Anfang des 4. Jhdts. v. Chr. brachte Rom mit der Zerstörung von Veii wenigstens den Tiberlauf unter Kontrolle. Erst in der 2. Hälfte des 4. Jhdts. v. Chr. brachte es Latium endgültig unter seine Kontrolle und expandierte kurz darauf nach Kampanien. Erst mit dem 1. Punischen Krieg expandierte es über Italien hinaus.
Karthago hingegen war spätestens im 6. Jhdt. v. Chr. auf Sizilien präsent (wohl kaum auf Einladung der Einheimischen) und ging aktiv gegen Griechen, die im westlichen Mittelmeerraum Kolonien gründen wollten, vor. (Hatte Karthago mehr Recht auf Kolonien als die Griechen?) Auch am Untergang von Tartessos soll Karthago nicht unbeteiligt gewesen sein. Im 6. Jhdt. machte sich Karthago auch auf Sardinien militärisch breit.
Spätestens zur Zeit des Feldzugs des Agathokles war auch das Landesinnere Tunesiens unter karthagischer Kontrolle.
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch die Verträge zwischen Rom und Karthago:
Im ersten wurde lediglich Latium als römische Interessensphäre anerkannt, während Karthago bereits ausdrücklich Sizilien als von ihm beherrschtes Gebiet bezeichnete und auch Libyen und Sardinien als seine Interessensphäre beanspruchte.
Im zweiten Vertrag nahm Karthago dann das Recht für sich heraus, auch für Utica zu sprechen, während für Rom nach wie vor nur sein Anspruch auf Latium anerkannt wurde.
Ganz zweifellos waren die Römer von einem starken Expansionsdrang beseelt, einem Hunger nach großen Territorien, was für die Regierung Karthagos nie eine große Rolle spielte. Karthago hätte bereits im 5. Jh. v. Chr. seine Armee aufrüsten und Italien, Südspanien und Südfrankreich besetzen können, woran offensichtlich kein Interesse bestand. Rom tat das dann an seiner Stelle.
Rom war von einem starken Drang nach Hegemonie beseelt - ganz wie Karthago. Dazu kam bei Rom noch ein starker Drang nach Sicherheit. Einen starken Expansionsdrang kann man den Römern aber nicht unterstellen. Eroberungen der Eroberung willen war die Ausnahme (z. B. Caesar in Gallien). Ganz im Gegenteil versuchte Rom lange Zeit tunlichst zu vermeiden, Gebiete direkt kontrollieren zu müssen, und ging erst wenn eine indirekte Kontrolle nicht klappte zur direkten Herrschaft über. Schon in Italien begnügte sich Rom großteils damit, den Städten einen Bundesgenossenstatus aufzuzwingen, übernahm aber nur die (verstreuten) Gebiete direkt, auf denen es (römische) Kolonien anlegte. Ein gutes Beispiel sind auch Griechenland und Kleinasien: Nach dem 2. Makedonischen Krieg war Rom die Hegemonialmacht Griechenlands, beschränkte sich aber darauf, den einzelnen Städten und Staaten bei Bedarf Weisungen zu erteilen bzw. als Schiedsrichter bei innergriechischen Streitigkeiten aufzutreten. Erst als sich sogar der lange Zeit zuverlässige Achaische Bund als unberechenbar erwies, ging Rom zur direkten Herrschaft über, beließ den Städten aber freilich ihre innere Autonomie. Bereits nach dem Syrischen Krieg gegen Antiochos III. hätte Rom die Herrschaft über den Großteil Kleinasiens übernehmen können, überließ die ehemals seleukidischen Gebiete aber seinen regionalen Verbündeten, insbesondere Pergamon und Rhodos. Kurz nach dem Syrischen Krieg eroberte Rom erstmals Galatien - zu einer Provinz machte es das Gebiet aber erst unter Augustus. Als Pompeius den Großteil des Nahen Ostens unter römische Kontrolle gebracht hatte, machte er trotzdem nur Syrien (das in seinen letzten Jahrzehnten als unabhängiger Staat von permanenten Bürgerkriegen zwischen zeitweise einem halben Dutzend gleichzeitigen Königen heimgesucht worden war, weswegen Rom die Hoffnung aufgegeben hatte, dass sich dort ein zuverlässiger Vasall würde halten können) zur Provinz, nicht aber den Großteil Kleinasiens, Armenien oder Iudaea. Es kam sogar vor, dass römische Provinzen wieder in Klientelstaaten rückgewandelt wurden. (Übrigens war Rom bei seinem Hegemoniestreben auch der Schutz italischer Geschäftsleute stets ein großes Anliegen.)
Andere Gebiete eroberte Rom, um seine Gegner zu schwächen (z. B. Spanien), wieder andere im Sinne einer Vorfeldsicherung, um römisches Territorium gegen Raubzüge angrenzender "Barbaren" zu schützen (z. B. Norditalien, Balkan) - was freilich oft ein Fass ohne Boden war, weil jenseits der neuerworbenen Gebiete wiederum Barbaren hausten. Sogar der Angriff auf Karthago im 3. Punischen Krieg war innenpolitisch heftig umstritten, weil es massive Bedenken gab, selbst nach Nordafrika zu expandieren, man das karthagische Gebiet aber auch nicht Massinissa überlassen wollte. Ein weiteres Motiv war das Streben einzelner Feldherrn nach Ruhm und Triumphzügen, z. B. die zahlreichen Feldzüge römischer Konsuln in Ligurien im 2. Jhdt. v. Chr., in denen sie eine Schlacht schlugen und ein bisschen plünderten und dann triumphierten, aber ohne Ligurien wirklich erobern zu wollen. Auch Caesars Gallienkrieg fällt von der Motivation her eher in diese Kategorie, auch wenn er Gallien dauerhaft besetzte.