Kinderarbeit in Napoleons Frankreich?

Caro1

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Bei der Suche nach Belegen/Zeitzeugen zur Kinderarbeit bin ich auf folgende Notiz gestossen
Ganz anders klingt eine von französischen Beamten verfasste statistische Landesaufnahme des Großherzogtums Berg im Jahr 1809: "Die große Mehrzahl der Einwohner des Arrondissements Elberfeld [zu dem auch Solingen zählte] befindet sich in einer äußerst jämmerlichen Verfassung. Dieser Zustand der Degeneration ist wohl auf die Gewohnheit in dieser Gegend zurückzuführen, daß man zu früh die Kinder in den Fabriken arbeiten läßt. In großer Zahl in den Werkstätten zusammengepfercht, an eine sitzende Beschäftigung gefesselt, die sie zwingt, lange Zeit in gekrümmter Haltung zu verharren, kann sich ihr Körper nicht ausreichend entwickeln." [Huck/Reulecke 1978 S. 213]
aus http://www.zeitspurensuche.de/02/kinder1.htm

Das hört sich für mich so an, als wären dem Beamten solche Verhältnisse aus Frankreich nicht bekannt. Wisst ihr mehr über die Industrialisierung, oder vielmehr Kinderarbeit in Frankreich?
 
Das hört sich für mich so an, als wären dem Beamten solche Verhältnisse aus Frankreich nicht bekannt. Wisst ihr mehr über die Industrialisierung, oder vielmehr Kinderarbeit in Frankreich?

"Auch in Frankreich beriefen sich die Unternehmer, wenn sie um Privilegien nachsuchten, darauf, daß sie selbst bei ungünstigen Arbeitsverhältnissen ihre Arbeiter im Alter von 6 bis 90 Jahren beschäftigten. In den zentralisierten Werkstätten von Angersound Beaufort arbeiteten im 18. Jh. Kinder vom zartesten Alter an. In der französischen Hausindustrie waren überall zahlreiche Kinder beschäftigt. In der Wollenindustrie zu Sedan zählte man im dritten Jahr der Republik ca. 10.000 Kinder im Alter von 4 Jahren an..."

(Joseph Kulischer: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Bd. 2. München 1929, S. 188 f.)
 
Interessant wære mal zu erfahren, ob der vielgeruehmte Code Civil vielleicht dazu etwas sagt, und ob es auch Æusserungen von ihm dazu gibt.

Ich habe nicht viel Hoffnung, weil ja auch halbe Kinder in den Krieg geschickt wurden, aber wer weiss...

Gruss, muheijo
 
Interessant wære mal zu erfahren, ob der vielgeruehmte Code Civil vielleicht dazu etwas sagt, und ob es auch Æusserungen von ihm dazu gibt.

Ich habe nicht viel Hoffnung, weil ja auch halbe Kinder in den Krieg geschickt wurden, aber wer weiss...

Gruss, muheijo
Ich hätte am wenigsten an ihn gedacht. Stattdessen hätte ich eher angenommen, dass die Bildungsoffensive der Revolutionszeit eine Rolle gespielt hätte. Aber en Detail kenne ich mich da leider auch nicht aus. Ich kann mich bloß entsinnen, dass Robespierre etwas für eine bessere Bildung der Kinder tun wollte, was zwar Kinderarbeit nicht ausschlösse, aber zumindest begrenzt hätte.
 
@all

Ich bin kein Rechtshistoriker und habe den Code civil im "Schnelldurchlauf" überflogen. Ich habe da nichts in Bezug auf "Kinderarbeit" gefunden. Die Rechtssprechung mit Bezug auf den Code civil ist so umfangreich, daß sie in einem Forum kaum diskutierbar erscheint. Hinsichtlich Altersbegrenzung habe ich nur die "Volljährigkeit" gefunden, ein klassisches Thema der Zivilgesetzgebung. Vllt. findet ein geneigter Mitdiskutant mehr.

Napolon <France, Empereur, I.> Code Napolon

Ich neige sehr der Auffassung von Brissotin zu, daß Kinderarbeit im Untersuchungszeitraum nicht als ethisches und dann davon abgeleitetes juristisches Phänomen angesehen wurde, sondern vielmehr als ein "praktisches" - gesundheitliche Folgen etc.

M.
 
Ich neige sehr der Auffassung von Brissotin zu, daß Kinderarbeit im Untersuchungszeitraum nicht als ethisches und dann davon abgeleitetes juristisches Phänomen angesehen wurde, sondern vielmehr als ein "praktisches" - gesundheitliche Folgen etc.
Dem würde ich auch zustimmen.

Man darf ja nicht vergessen: Allgemein war Kinderarbeit völlig normal und akzeptiert. Bei der Landarbeit, im Haus oder bei den Handwerkern war es schon immer völlig selbstverständlich, daß Kinder mithelfen mußten, so früh sie konnten.

Nur waren diese Arbeitsbereiche allgemein nicht so arbeitsintensiv wie die Fabrikarbeit. Gerade auf dem Land (und da lebte und arbeitete auch zur Zeit Napoleons die große Masse der Bevölkerung) wechselten sich Phasen intensiver Tätigkeit (Erntezeit) und recht "faule" Zeiten ab. Kinder mußten zwar voll mithelfen, konnten sich aber zwischendurch erholen.

Und es wird erst im Laufe der Zeit bewußt geworden sein, daß das bei der Industriearbeit nicht so ist und deswegen bleibende Schäden entstehen können.
 
Nun ja, man kann schon sagen, dass die verschiedenen Zeitzeugen mehr oder weniger sensibilisiert waren, bzw. andere Prioritäten und deshalb Sichtweisen hatten.

Nur zwei Auszüge, siehe Link "Zeitspurensuche" oben.
Noch deutlicher wurde der Buchhändler Friedrich Perthes (1772-1843), der im Juni 1816 über seine Beobachtungen in Barmen und Elberfeld schrieb: "Vom achten, ja vom sechsten Jahre an arbeiten schon die Kinder, werden Krüppel und zeugen Krüppel".

Perthes nahm auch sonst kein Blatt vor den Mund: "Elberfeld hat mir einen unheimlichen Eindruck hinterlassen; die Gegensätze auf diesem Menschenmarkte sind gar zu groß: kaufmännische Großhänse mit Schmerbäuchen und ausgearbeiteten Freßwerkzeugen, ausgehungertes Lumpengesindel, abgemagerte Gestalten mit Gesichtern, bleich von innerer sectiererischer Arbeit, und dabei Nachts auf den Straßen ein so roher Lärm liederlicher und betrunkener Menschen, wie mir selten vorgekommen ist." [Huck/Reulecke 1978 S. 216 f]

1821 schrieb Carl Julius Weber voller Bewunderung über die Industrie des Bergischen Landes: "Ganz Berg ist nur Eine Fabrik, ..., und gewiß kommen vier Millionen Thaler jährlich ins Land, so nachtheilig auch die Revolution auf den Absatz gewirkt hat - hier ist das deutsche Manchester, Birmingham, Sheffield und Newcastle, wo wahrer Ameisenfleiß herrschet, und schon 5-6jährige Kinder ihr Brod verdienen." [Huck/Reulecke 1984 S. 118]
 
Zuletzt bearbeitet:
Man darf ja nicht vergessen: Allgemein war Kinderarbeit völlig normal und akzeptiert. Bei der Landarbeit, im Haus oder bei den Handwerkern war es schon immer völlig selbstverständlich, daß Kinder mithelfen mußten, so früh sie konnten.

Nur waren diese Arbeitsbereiche allgemein nicht so arbeitsintensiv wie die Fabrikarbeit.

Guter Hinweis, zu 1793:
"Bezeichnend ist, dass die Verwendung von Frauen- und Kinderarbeit in der Großindustrie [gemeint sind: Fabriken], die in Frankreich noch ganz in den Anfängen steht, in England schon frühzeitiger eingesetzt hatte."

Sée verweist auf eine Ausarbeitung von Schmidt, Le travail des enfants dans les manufactures pendant la Rèvolution. Das ist hier ein Übergangszeitraum.
 
Lässt das den Umkehrschluß zu, dass die Entwürfe aus Frankreich kamen, die Produktion jedoch vornehmlich z.B. im Bergischen Land erfolgte?
 
Zuletzt bearbeitet:
Bei der Industrialisierung lag allein England vorn. Deutschland hatte keinen Vorsprung vor Frankreich.
Relevant für die Kinderarbeit war die Einführung der Gewerbefreiheit und die Aufhebung der traditionellen Schutzvorschriften (nicht nur für Kinder) während der Revolution. Unter Napoleon gab es wieder Einschränkungen der Gewerbefreiheit.
 
Bei der Industrialisierung lag allein England vorn. Deutschland hatte keinen Vorsprung vor Frankreich.
Relevant für die Kinderarbeit war die Einführung der Gewerbefreiheit und die Aufhebung der traditionellen Schutzvorschriften (nicht nur für Kinder) während der Revolution. Unter Napoleon gab es wieder Einschränkungen der Gewerbefreiheit.

Das verstehe ich nicht :confused:

Es kommt doch weniger auf einen Ländervergleich an, sondern auf den genannten Standort (Solingen-Elberfeld). In Frankreich war die Industrialisierung nicht weit fortgeschrittten, daher wird das Problem Kinderarbeit in Fabriken kaum wahrgenommen worden sein.

siehe zB hier:
IHK24 - Das Service-Center für die bergische Wirtschaft - Industriegeschichte aus dem Bergischen Land
 
Wie meinst Du das?

Der Raum Solingen ist doch für die metallverarbeitende Industrie bekannt.
Ich bezog das auf den Vergleich mit Manchester, Birmingham, Sheffield und Newcastle.
In mehreren dieser Städte spielte auch die Textilindustrie eine große Rolle. Newcastle z.B war für seine Wollstoffe bekannt.
Da Frankreich für viele Europaer führend in der Modewelt war, lag für mich der Gedanke nahe, dass vielleicht auch im Bergischen Land für Frankreich produziert wurde.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Raum Solingen ist doch für die metallverarbeitende Industrie bekannt.

Wobei gerade in Berg und an den Orten an der Wupper, die heute zu Wuppertal zusammengefasst sind, die Textilindustrie vorherrschend war.

Aber zurück zur Ausgangsfrage:

Bei der Suche nach Belegen/Zeitzeugen zur Kinderarbeit bin ich auf folgende Notiz gestossen

Ganz anders klingt eine von französischen Beamten verfasste statistische Landesaufnahme des Großherzogtums Berg im Jahr 1809: "Die große Mehrzahl der Einwohner des Arrondissements Elberfeld [zu dem auch Solingen zählte] befindet sich in einer äußerst jämmerlichen Verfassung. Dieser Zustand der Degeneration ist wohl auf die Gewohnheit in dieser Gegend zurückzuführen, daß man zu früh die Kinder in den Fabriken arbeiten läßt. In großer Zahl in den Werkstätten zusammengepfercht, an eine sitzende Beschäftigung gefesselt, die sie zwingt, lange Zeit in gekrümmter Haltung zu verharren, kann sich ihr Körper nicht ausreichend entwickeln." [Huck/Reulecke 1978 S. 213]
aus "Zeitspurensuche: Kinderarbeit"

Das hört sich für mich so an, als wären dem Beamten solche Verhältnisse aus Frankreich nicht bekannt. Wisst ihr mehr über die Industrialisierung, oder vielmehr Kinderarbeit in Frankreich?

Also ganz grundsätzlich ist das Problem bei übersetzten Quellen immer, dass man zum Original zurück muss, um kleinere Fehler oder Nuancen, die man interpretieren muss, auszuschließen bzw. bewusst zu machen. Nehmen wir aber als gegeben, dass die Übersetzung korrekt ist, so ist die Gradpartikel zu doch ein Beleg dafür, dass Kinderarbeit in Frankreich nicht verpönt oder ungewöhnlich war, sondern nur dafür, dass Kinder erst ein wenig später für die Fabrikarbeit rekrutiert wurden, als im Bergischen.
 
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