Kriegsausbruch 1914: Schlieffenplan und Julikrise

Nochmal danke für eure Anregungen! Besonders interessant und detailreich finde ich die Anmerkungen von Silesia über den perzipierten (Nicht)Kriegseintritt Russlands. Danke für die Mühe einer so gründlichen Darstellung!
Hierzu eine Frage zu Russlands Solidarität mit Serbien: Mombauer schreibt (Die Julikrise, S. 58): "... nahm man in Wien das Risiko eines europäischen Krieges willentlich (oder meint sie "wissentlich"?) in Kauf, wusste man doch, dass Russland sich kaum aus einem Krieg zwischen der Donaumonarchie und Serbien heraushalten würde. (...) Ohne eine diplomatische Lösung zwischen Österreich-Ungarn und Serbien war demzufolge ein Krieg zwischen den Großmächten mehr oder weniger vorprogrammiert."
Mombauer bezieht sich hier auf die Zeit nach dem Attentat, aber vor dem Bekanntwerden des Wiener Ultimatums an Serbien, also bevor die anderen Großmächte offiziell reagieren konnten.
War es wirklich von vornherein klar, dass Russland eingreifen würde? Gab es ein entsprechendes Abkommen Russlands mit Serbien? Oder genügten in Russland pan-slawische Solidarität bzw. die Bedrohung russischer Interessen auf dem Balkan als Argumente für einen Kriegseintritt?
 
Zuletzt bearbeitet:
Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.
(Egal, wer es gesagt hat: die Ironie trifft den Kern).

Es war von vornherein klar,
... dass ein wie auch immer kalkuliertes, relevantes Risiko besteht,
... dass Russland eingreifen würde.

Natürlich war dabei nicht "klar", dass es mit Sicherheit zum Krieg kommen würde.

Das Risiko wurde hoch eingeschätzt, wie man bereits am Blankoscheck selbst und seiner offenbar gesehenen Notwendigkeit zur Rückenstärkung ablesen kann.

Ebenso "schlagend" für das gesehene Risiko ist das absichtliche, wohl überlegte "timing" des Ultimatums, um Franzosen und Russen keine Möglichkeit der Abstimmung der politischen Reaktion zu geben.

Schließlich - als sich die Gerüchte über das kommende Ultimatum zur Gewitterwolke verdichteten - sah Sazonow als notwendig an, das Eingreifen Russlands bei einem "lokalen" Krieg ausdrücklich zu "versichern", um ÖU von diesem Krieg abzuschrecken.

Die "Halt in Belgrad"-Strategie - als appeasement gegen Russland zu verstehen, überhaupt in den Krieg einzugreifen - ist ebenfalls ein Beleg, dass man offensichtlich das Kriegsrisiko als hoch ansah.

Dazu kommen dann die zahlreiche Auflistungen der Unkenrufe, die ein Eingreifen Russlands prophezeiten.
 
Sorry, dass ich mich erst jetzt wieder melde! Als Nichtfachhistoriker dauert es bei mir oft etwas länger, etwas zum Thema zu lesen…


Ich komme noch einmal auf Mombauer zurück. Zur österreichischen Reaktion beim Kriegsausbruch schreibt sie: „In Wien löste die Warnung aus Berlin, man solle dort den Krieg gegen Serbien jetzt aufgeben (und stattdessen gegen Russland mobilisieren; Erläuterung von mir), nicht nur blankes Erstaunen, sondern Entsetzen aus.“ (Die Julikrise, S. 106) Wenn das stimmt, wäre die politische und militärische Leitung in ÖU entweder schlecht informiert, naiv oder unkoordiniert gewesen.


So hatte der russische Außenminister Sasonow klar erklärt, Russland werde bei einem Konflikt mit Serbien nicht unbeteiligt bleiben. Das hatte ÖU nicht davon abgehalten, kurz darauf Serbien den Krieg zu erklären und Belgrad zu bombardieren.
Die russisch-französische Allianz war in Wien bekannt, ebenso die Grundzüge des Schlieffenplans. Die Verantwortlichen hätten also wissen müssen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit einen gesamteuropäischen Krieg provozieren würden. Wie konnte man da erstaunt sein?


Auch nicht ganz klar ist mir die Haltung des deutschen Reichskanzlers Bethmann Hollweg. Zu Beginn der Krise scheint sein Ziel gewesen zu sein, den Konflikt auf ÖU und Serbien zu begrenzen in der Hoffnung, Russland und Frankreich würden nicht eingreifen und sich damit als Großmächte blamieren. Deutschland und ÖU wären als aktiv und handlungsfähig erschienen, das russisch-französische Bündnis geschwächt.
Als klar war, dass diese (hochriskante) Strategie nicht aufging, schien er hauptsächlich versucht zu haben, England im voraussehbaren Krieg neutral zu halten, worin er durch das lange Ausbleiben klarer Signale von englischer Seite vielleicht bestärkt wurde. Diese Hoffnung scheint mir ebenfalls unrealistisch. Auch Bethmann Hollweg kannte die Grundstrategie des Schlieffenplans und musste wissen, dass England den Einmarsch durch Belgien und Luxemburg nicht akzeptieren würde. Gab er sich hier einer Illusion hin?
 
Zum Zitat ist anzufügen, wer "in Wien" gemeint war:

"...Entsetzen aus: «hätte sich D[eutschland] doch nur 24 St[unden] früher erklärt», beschwerte sich Conrad nicht ganz aufrichtig, so hätte er die Maßnahmen gegen Serbien noch ändern können. «Jetzt hat es uns in eine sehr schwierige Lage gebracht.» Und der deutsche Militärattaché notierte: «Zunächst pikierte Stimmung des Chefs, der sich schwer von seinem Operationsplan (8 Korps gegen S[erbien]) abbringen läßt», als der deutsche Wunsch, Österreich-Ungarn möge es «mit seiner ganzen Macht» im Krieg gegen Russland unterstützen, in Wien bekannt wurde.
Aber Franz Joseph sagte dem Verbündeten dennoch zu, man wolle «die überwiegenden Hauptkräfte gegen Russland» versammeln. Conrad indes war nicht bereit, «seinen» Krieg gegen Serbien aufzugeben, und aus Berlin kamen von Moltke, weit seine Kompetenzen überziehend, gleichzeitig ermutigende Nachrichten, dass Deutschland «unbedingt» mitgehen werde. Es wundert deshalb nicht, dass man sich in Wien fragte: «Wer regiert in Berlin? Bethmann oder Moltke?»"

Es ging hier um die Frage, wie der Krieg geführt wird, nicht ob.
 
Mich wundert nur, dass Conrad von der Situation überrascht war. Wenn das wirklich stimmt, kann die strategische Koordination zwischen Wien und Berlin nicht gut gewesen sein. Der deutsche Aufmarschplan geht ja klar von einem gleichzeitigen Konflikt mit Russland und Frankreich aus. Gab es vor dem August 1914 keine Absprache mit Österreich über eine gemeinsame militärische Strategie für diesen Fall?
 
Koordination und Absprachen gab es nur rudimentär, völlig unzureichend vom rein militärischen Standpunkt.

Was Mombauer hier ganz kurz (das ist eine Beck-Kompakt-Ausgabe) darstellt, ist die Irritation in Wien über die deutschen Vorstellungen zum öu-Aufmarsch nach Mobilisierung, zur Strategie.
 
Danke für die Antwort! So ähnlich hatte ich es auch erwartet.
Mombauer liefert eine gute Übersicht, aber es stimmt, sie geht bei vielen Punkten zwangsläufig wenig in die Tiefe. Die Bücher von deutschen Autoren, die ich bisher gelesen habe (I. Geiss und O. Janz), behandeln vor allem Deutschland, ÖU dagegen nur am Rande.
Gibt es gute Literatur zur politischen und militärischen Koordination und den gemeinsamen bzw. widersprechenden Interessen von Deutschland und Österreich-Ungarn vor und während des Krieges?
 
Während des Krieges soll Conrad Deutschland als "heimlichen Feind" von ÖU bezeichnet haben, das spricht auch nicht für gemeinsame Ziele und gute Zusammenarbeit...
 
Danke für die Antwort! So ähnlich hatte ich es auch erwartet.
Mombauer liefert eine gute Übersicht, aber es stimmt, sie geht bei vielen Punkten zwangsläufig wenig in die Tiefe. Die Bücher von deutschen Autoren, die ich bisher gelesen habe (I. Geiss und O. Janz), behandeln vor allem Deutschland, ÖU dagegen nur am Rande.
Gibt es gute Literatur zur politischen und militärischen Koordination und den gemeinsamen bzw. widersprechenden Interessen von Deutschland und Österreich-Ungarn vor und während des Krieges?

Unter der Diskussion zum Schlieffenplan ist hier im Forum auch die Zuber-Kontroverse zu finden, die eigentlich auch nur am Rande behandelt, wie gering die Koordination bis auf ein paar Besuche, Manöverbesichtigungen und grobe Hinweise auf strategische Schwerpunkte gewesen ist.

Mombauers Moltke-Darstellung zum Kriegsausbruch (ihre Dissertation, auch auf Ethos zu finden) klaubt eigentlich alles zusammen, was an "Abstimmung" greifbar ist: also wenig.:pfeif:
 
... Mombauer liefert eine gute Übersicht, aber es stimmt, sie geht bei vielen Punkten zwangsläufig wenig in die Tiefe. Die Bücher von deutschen Autoren, die ich bisher gelesen habe (I. Geiss und O. Janz), behandeln vor allem Deutschland, ÖU dagegen nur am Rande.
Gibt es gute Literatur zur politischen und militärischen Koordination und den gemeinsamen bzw. widersprechenden Interessen von Deutschland und Österreich-Ungarn vor und während des Krieges?

Für die ansprochene Koordinationsfrage ist Mombauer (auch in der umfangreicheren englischen Fassung) nicht einschlägig. Eine ernsthafte Befassung mit dem Thema müsste mindestens auch die österreichische Literatur heranziehen.

Den Standard markiert (der von silesia in anderen Threads mehrfach erwähnte) Manfred Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918 (Böhlau 2013), der auf die militärischen Absprachen S. 68 ff. eingeht und auf weitere interessante Beiträge verweist. [1]
Das Wenige, was Moltke selbst berichtet, müsste ergänzt werden durch Conrad von Hötzendorfs Memoiren und durch das, was der Verbindungsoffizier August von Cramon berichtet. Auch an dem offiziellen mehrbändigen Werk "Österreich-Ungarn letzter Krieg" (1930) wird man, trotz Mängeln, nicht vorbeikommen.

Der Tenor bleibt davon unberührt: Die Kommunikation zuwischen den beiden Kaiserreichen war unzureichend, und zwar auf beinahe allen Ebenen.


[1] Beispiele:
Hans Meier-Welcker, Strategische Planngen und Vereinbarungen der Mittelmächte für der Mehrfrontenkrieg (1964)
Lothar Höbelt, Schlieffen, Beck, Potiorek und das Ende der gemeinsamen deutsch-österreichisch-ungarischen Aufmarschpläne im Osten (1984)
 
Bei der Lektüre von"Und wir verrosten im Hafen" bin ich auf eine eigentlich für mich unerklärliche Sache gestossen. Dort schreibt Nicolas Wolz, das der Generalstab nicht mit der Admiralität geredet hat und den anderen diversen Marineämtern. Eine folge davon ist gewesen, das das Britische Militär ungehindert in Nordfrankreich landen konnte und so die Franzosen helfen konnte, die Front zum Halten zu bekommen. Wie kann eigentlich so etwas passieren? Dilettantismus auf Preussischer Seite oder Snobismus von Seiten des Heeres oder gar beides?

Apvar
 
Dieses Problem wurde in Diskussion im Forum bereits schon benannt und wird bei Craig entsprechend als Problem thematisiert(vgl. Craig: The Politics of the Prussian Army).

http://www.geschichtsforum.de/f62/der-kult-der-offensive-48746/index2.html #136

Es gab, soweit mein Kenntnisstand, keine Planungen zwischen der Marine und dem Heer.

Die Ursache ist das Planungs-Chaos im DR, das im wesentlichen, so Röhl (Wilhelm II), auch auf das "Persönliche Regiment" zurück zu führen war.

In diesem Sinne war der "Schlieffen-Plan" als Blaupause für den "Moltke-Schlieffen-Plan" zwar relevant, aber es war im wesentlichen ein rein militärischer Plan für die Durchführung der Eröffnungsphase des Krieges. Ein Plan für eine Schlacht!

Es gab im DR keine übergeordnete Institution, wie in GB das "Comittee of Imperial Defence" oder in Frankreich das "Conseil Superieur de la Guerre", das militärische, politische und ökonomische Aspekte koordinierte.

In diesem Sinne spiegeln die "Kriegsspiele" im Winter 1913/14 (vgl. Röhl: Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund, S. 1055-1061) für die Marine die relativ eigenständige Rolle der Marine wider. Von einer Koordination mit den Anforderungen des Heers kann man nicht sprechen.

Die Ursache für die mangelhafte Koordination lag in der Struktur der obersten Befehlsführung, also in der Person von KW2. (vgl. dazu H. Aflerbach: Wilhelm II as supreme warlord in the First World War, in: Mombauer & Deist: The Kaiser: New Research on Wilhelm II`s role in Imperial Germany)

Es wäre an ihm gewesen, die entsprechenden Planungs- und Entscheidungsstrukturen für eine politisch, militärische und ökonomische Gesamtplanung einzufordern. (Wir - Turgot und ich - hatten vor einiger Zeit in einem Thread das Problem der mangelhaften Vorbereitung der Industrie und der Beschaffung von Rohstoffen am Beispiel von Stresemann diskutiert)

In diesen Kontext hätte eine koordinierte Abstimmung gehört wie die Marine die - kritischen - Planungen der Armee (Generalstab) in Belgien und Nordfrankreich hätte optimal unterstützen können.

Dennoch ist auch anzumerken, dass zwischen dem Oberbefehlshaber und dem Chef des Generalstabs formal der Preußische Kriegsminister stand. Mit dem Ergebnis, das beispielsweise Schlieffen sehr selten direkt und alleine einen Kontakt zum Monarchen hatte und auch nicht gesucht hatte.

Die Ursache für dieses strukturelle Problem lag vermutlich auch in der Person von KW II begründet, der im traditionellen Sinne die persönliche und direkte Kontrolle über den Oberbefehl behalten wollte. In diesem Kontext sind natürlich auch die persönlichen Bindungen zwischen dem Monarchen und einzelnen Militärs relevant und Gunstbeweise haben die Loyalität direkt an das Herrscherhaus gefördert.

Diese Vorgehensweise war dann 1914 antiquiert, wie Apvar zu Recht kritisch anmerkt.
 
Zuletzt bearbeitet:
Eine realistische Chance, die Kanaltransporte zu stören, bestand nicht. Jellicoe war mit der gesamten Kernflotte auch bereits im August "unterwegs".
Das hatten wir hier im Detail:

http://www.geschichtsforum.de/483850-post19.html

Wenn man an diese Koordination der Marine mit dem Schlieffen-Plan im weitesten Sinne denkt, wäre wohl eher die hypothetische Gleichung "5* Dreadnoughts = 3 Armeekorps" anzubringen, was im Kern hieße, diese fehlende Abstimmung bereits in den Vorjahren in Bezug auf die immense Marinerüstung zu bedenken.

* ob 4, 5 oder 6 machte da wohl keinen Unterschied. 5 = 250 Mio. plus Zusatzkosten
 
Klar, nur hätte man nicht mit den Torpedobootzerstörern an der Belgischen Küste zumindest den Aufmarsch stören können? Oder Minenlegern? Aber, klar nachher ist man immer klüger.
 
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