Angeregt durch die schöne Diskussion in diesem Faden, habe ich gestern Abend das erste Mal in meinem Leben in der „Kriminalgeschichte“ Deschners gelesen, und zwar im ersten Band namens „Die Frühzeit“ (7. Aufl., 2010). Ich kannte das Werk bisher immer nur vom Hören-Sagen.
Ich habe den ersten Band beileibe nicht ganz gelesen, sondern nur einige Kapitel, was mich halt so interessierte. Wenn es sich auch nur um die Lektüre eines Bandes von zehn Bänden handelt und wenn ich auch aus diesem einen Band, wie gesagt, wiederum nur manche Kapitel gelesen habe, so will ich trotzdem einfach mal auf dieser freilich erweiterungsbedürftigen Grundlage meine Gedanken und meine ganz subjektive Einschätzung zur „Kriminalgeschichte“ loswerden:
1.) Deschners Wiedergabe von historischen Daten und Fakten erscheint mir grundsätzlich in Ordnung.
Ich kann nur bestätigen, dass man beim Lesen eigentlich nirgends auf Stellen stößt, wo man sagen wollte/ könnte: Das ist historisch ganz falsch oder längst widerlegt oder oder oder.
Ich unterstelle Deschner einen guten Überblick über die Geschichte, aus der er Episoden erzählt. Und Deschner gibt auch dem Leser einen recht guten Überblick über ausgewählte Stationen des Christentums in der Geschichte. Das heißt andererseits: Deschner geht freilich nirgends tief ins Detail und hält sich nicht mit wissenschaftlichen Erörterung von historischen Einzelfragen auf. Das muss er natürlich angesichts seines gewählten Ansatzes auch nicht, aber zumindest hat es mich erstaunt, bzw. hätte ich es anders erwartet. Wenigstens lässt Deschner hier und da durchblicken, dass er sehr wohl einschlägige und themenspezifische Titel der historischen Forschungsliteratur kennt und ihre Ergebnisse (was Daten und Fakten anbelangt) auch berücksichtigt hat.
Deschner übernimmt die Ereignisgeschichte und ihre Chronologie brav von den Fachhistorikern; er versucht in dieser Beziehung nicht das Rad neu zu erfinden.
2.) Deschner und die Quellen: Deschner gewinnt seine Thesen und Ansichten nicht aus den Quellen; sondern kleine Zitate aus den Quellen sollen als Statisten das belegen, was Deschner aussagen will.
Nur weil es mir persönlich vorher nicht so klar war: Deschner wartet nicht mit neuen, bisher unbekannten oder vergessenen Quellen auf, ist auch nicht der Typ, der auf dubiosen und zweifelhaften Quellen aufbaut, bietet keine völlig neuen (Um)Interpretationen der Quellen und stellt auch keine nie dagewesenen Bezüge zwischen verschiedenen Quellen her.
Er stellt die einzelne Quelle bzw. den Verfasser oft nur in einem kurzen Satz vor, mittels welchem – so hofft Deschner – die Quintessenz über die Rolle dieses antiken Autors in Bezug auf Deschners Thema ausgesagt ist. Dass Deschner eine Menge an Quellen kennt und auf seine eigene Fragestellung hin auch durchforstet hat, wird man ihm nicht absprechen können. Allerdings beschränkt sich seine Quellenarbeit im engeren Sinne auf das Herauspicken von einzelnen Sätzen und Abschnitten, die er für sein Thema für aussagekräftig hält. Ich will eigentlich nicht behaupten, dass Deschner von Grund auf die Quellen-Aussagen aus dem Zusammenhang reißt, aber er stellt sie so arg in seinen eigenen „Kriminal-Zusammenhang“, dass sie letztlich manches Mal dennoch von ihrem ursprünglichen Zusammenhang losgelöst präsentiert werden (Auch das kann man allerdings wenigstens zum Teil wieder mit der Fülle der Gegenstände entschuldigen, über die sich Deschner in seinen zehn Bänden äußern wollte. Er konnte nicht überall tiefergehende Quellenarbeit betreiben und keine weitergehende, ausgewogene Quellen-Beschreibung liefern, sonst wäre er nie fertig geworden. Vielleicht dachte er auch seinem Lese-Publikum gefällig sein zu müssen, indem er dröge wissenschaftliche Quellenarbeit vermied).
Alles in allem bleibt bei mir jedenfalls der Eindruck zurück, dass Deschner die Quellen nur soweit zu Wort kommen lässt, wie sie ihm nach dem Mund reden (Das ist allerdings ein Vorwurf auf hohem Niveau; denn wir alle suchen und finden oftmals am liebsten Quellen-Aussagen, die das zu bestätigen scheinen, was wir ohnehin denken. Allerdings: Sollte Deschner das durch seine zehn Bände hindurch durchgezogen haben, ist solch eine Art der Quellen-Benutzung und -Einbindung sicherlich zu viel des „Guten“).
3.) Lesevergnügen und Unterhaltungswert?: Jeder Satz in Deschners „Kriminalgeschichte“ ist in Intention und Ziel zu durchsichtig, als dass die Lektüre nicht ermüdend wirken könnte (Und obendrein schreibt er leider ziemlich humorlos, eher muffelig-ernst).
Deschner drückt sich nicht in trockenem wissenschaftlichen Ton und auch sonst nicht in irgendeiner Weise literarisch langweilig aus. Eigentlich könnte ich aufgrund seines Schreibstils mehr von ihm lesen. Was mich allerdings davon abhält, ist folgendes: Der Leser weiß bereits vor Lese-Beginn eines Deschner-Satzes, worauf dieser Satz hinaus will, nämlich darauf, dass der gleich namentlich genannte Christ oder die gleich benannte Christen-Gruppe schlecht gedacht, geredet oder gehandelt hat und man deshalb angewidert sein sollte. Mich persönlich langweilt und ermüdet dieser Stereotyp, zumal er nirgends mal durch offenherzigen oder netten Humor durchbrochen wird; höchstens wird er hie und da mittels Zynismus gesteigert (Deshalb wundert es mich ein bisschen, dass @dekumatland den Deschner amüsiert gelesen hat; passt doch gar nicht zu unserem offenherzig-humorvollen dekumatland).
4.) Zu Deschners Wertung: Deschner hat m. E. weniger eine „Kriminalgeschichte des Christentums“ geschrieben, als dass er dem Leser streckenweise vielmehr eine „Kriminalisierte Christentums-Geschichte“ vorgelegt hat.
Deschner schreibt selbst in seiner Einleitung, dass es ihm ausschließlich um eine Darstellung der „Verbrechensgeschichte des Christentums“ bzw. einer „negative[n] Christentumsgeschichte“ geht und dass er ansonsten bewusst alle anderen potentiellen Aspekte der christlichen Geschichte ausklammert. Diesem seinem Grundsatz folgt er durchgängig konsequent. Und das ist irgendwie ja auch schon eine Leistung. Mich stört ausdrücklich nicht sein Grundsatz und seine Praxis, nur Negatives über das Christentum zu sammeln und vorzutragen. Natürlich steht es jedem frei, nur diesen einen Aspekt zu bearbeiten. Und alle Handlungen und Reden aus Christentum und Kirche, die sich gemessen an irgendeiner sinnvollen moralischen oder ethischen Messlatte als verbrecherisch und kriminell erweisen, dürfen selbstverständlich auch so genannt werden und publik gemacht werden. Aber mich stört, dass Deschner meinem Verständnis nach nicht nur tatsächlich verbrecherische Taten vorbringt, sondern oft genug irgendwelche Handlungen und Entwicklungen erst mittels Rhetorik und „verbaler Kunstgriffe“ zum „Verbrechen“ macht, sie also kriminalisiert.
Als ein Beispiel: Das frühe Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen. So kommt es, dass der größere Teil der heiligen Schriften der Christen nichts anderes ist als die heiligen Schriften der Juden. Die jüdische Septuaginta galt den frühen Christen als die heilige Schrift. Natürlich meinten beide, Juden wie Christen, dass sie die Schrift richtiger und wahrhaftiger auslegten als die andere Seite. Soweit sind sich alle einig. Wo steckt darin nun das „Kriminelle“? Deschner findet es! (S. 121f): „So entriß man [die Christen] ihnen [den Juden] das Alte Testament und gebrauchte es als Waffe gegen sie: ein ungeheures Betrugsverfahren, interpretatio Christiana genannt“. Mit den Worten Gabriel Laubs verweist Deschner gewissermaßen auf eine Verletzung des Urheberrechts durch die Christen hin. Damit klingt das ganze doch schon beinahe nach einem handfesten Verbrechen im rechtlichen Sinne. Und damit der christliche Gebrauch der Septuaginta so richtig böse erscheint: „Wie gesagt: 'interpretatio Christiana'! Eine Religion raubt – und schmäht, bekämpft, verfolgt dann die beraubte Religion durch zwei Jahrtausende“. Auf diese Art ist es Deschner gewissermaßen gelungen, mittelalterliche und neuzeitliche Judenprogrome (vielleicht sogar den Holocaust? - will ich ihm aber jetzt nicht unterstellen) schon den frühen Christen anzulasten, welche ihre heiligen Schriften von den Juden übernahmen. Meiner Meinung nach ist damit der christliche Gebrauch der Septuaginta um einer angestrebten Kriminalisierung willen in einen völlig unsachgemäßen historischen bzw. anachronistischen Zusammenhang gestellt worden. Solche Beispiele finde ich häufiger in Deschners erstem Band (man siehe auch das folgende Beispiel).
Abschließend möchte ich das Wesentlichste meiner vorgebrachten Einschätzung an einem Beispiel verdeutlichen:
Sein Kapitel „Die Judenfeindschaft des Neuen Testaments“ (S. 124ff) beginnt Deschner mit einer Einordnung des Apostels Paulus als jenem, der den „Kampf gegen die Juden“ „eröffnete“:
Paulus „förderte […] ungeheuerlichsten Haß“, war „ein Klassiker der Intoleranz“ und „ein so engstirnig-rechthaberischer Agitator, daß christliche Theologen der Nazizeit von seinen Gemeinden Parallelen zogen zu den 'Standarten der braunen Hitler-Armee' und von einer 'SA Jesu Christi' schwärmten“.
Manchem wird diese Charakterisierung des Paulus vielleicht etwas verkürzt vorkommen, aber Deschner meint offensichtlich den Paulus treffend charakterisiert und eingeführt zu haben. Denn abgesehen von einer Erwähnung des Paulus in einem Nebensatz i. d. Einleitung wird Paulus an dieser Stelle dem Leser tatsächlich erstmals vorgestellt.
Dass Paulus nicht für die Ansichten und Äußerungen von irgendwelchen Theologen in der Nazizeit verantwortlich war/ist, weiß der Leser natürlich, aber Deschner lässt offen, ob auch er selbst es weiß. Zumindest erscheint Deschner dieser anachronistische Verweis offensichtlich als probates Mittel, um Paulus' Bosheit und Gefährlichkeit zu verdeutlichen.
Die große Judenfeindschaft des Paulus belegt Deschner quellenmäßig nun mit einigen Wörtchen und Halbsätzen aus den Paulusbriefen und der Apostelgeschichte. Als erstes zitiert er nur das einzelne Wort „Fall“ der Juden aus Röm. 11, 11. Hört sich an, als hätte Paulus die Juden restlos und unwiderruflich aufgegeben. Deschner hätte das Wort „Fall“ freilich auch in seinem Kontext zitieren können: „Nun frage ich: Sind sie [die Juden/ Israeliten] etwa gestrauchelt, damit sie zu Fall kommen? Keineswegs! Vielmehr kam durch ihr Versagen das Heil zu den Heiden, um sie selbst eifersüchtig zu machen. Wenn aber schon durch ihr Versagen die Welt und durch ihr Verschulden die Heiden reich werden, dann wird das erst recht geschehen, wenn ganz Israel zum Glauben kommt […] Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen“. Im Kontext ist der „Fall der Juden“ also gar nicht so eindeutig judenfeindlich, ist nicht im Rahmen einer verdammenden Aussage über die Juden, sondern einer heilsgeschichtlichen Aussage über Israel gemacht.
Das handfesteste und abschreckendste Paulus-Zitat, mittels welchem Deschner die unerhörte Judenfeindlichkeit des Apostels beweisen will, stammt aus Apg. 18, 6: „Euer Blut komme über euer Haupt“. Das scheint in der Tat eindeutig zu sein. Aber im Kontext ergibt sich doch wieder ein anderes Bild: In den Versen unmittelbar davor, predigt Paulus in den Synagogen Korinths; in den unmittelbar folgenden Versen kommt ein jüdischer Synagogenvorsteher samt seinem ganzen Haus durch Paulus zum Glauben. Warum hat Paulus diesen Juden nicht 'zum Teufel gewünscht', wenn er – wie Deschner impliziert – allen Juden das Verderben wünschte? Paulus Worte „Euer Blut komme über euer Haupt“ waren ganz offensichtlich an jene bestimmten Juden gerichtet, die gegen Paulus' Predigt von Jesus dem Messias lästerten, nicht gegen das Volk der Juden insgesamt oder gegen alle Juden. Deschner gibt seine Quellen verkürzt wieder und beraubt sie somit ein Stück weit ihrer eigentlichen Aussage. Hätte Deschner in seiner Paulus-Einführung wenigstens erwähnt, dass Paulus selbst gebürtiger Jude war (auch wenn Chan anderer Ansicht ist
), hätte sich Deschners Zerrbild vom Judenfeind Paulus ohnehin von selbst relativiert. Dass Paulus' Judenbild etwas differenzierter war, als Deschner seinem Leser weismachen möchten, bezeugen die Paulusbriefe unzweideutig. Man könnte in Deschner-Manier auch Paulus-Zitate aneinanderreihen, die Paulus dem Leser dann als ausgemachten Juden-Fan vorstellen sollen: „[...] Jude ist, wer es im Verborgenen ist, und Beschneidung ist, was am Herzen durch den Geist, nicht durch den Buchstaben geschieht. Der Ruhm eines solchen Juden kommt nicht von Menschen, sondern von Gott“ (Röm. 2, 29) - „Ich frage also: Hat Gott sein Volk verstoßen? Keineswegs! Denn auch ich bin ein Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamm Benjamin“ (Röm. 11, 1) – usw.
Deschner lässt die Quellen nicht für sich selbst sprechen und lässt sie nicht ihr eigenes Anliegen vorbringen, sondern er missbraucht Wörtchen und Sätzchen aus den Quellen für sein eigenes Anliegen. Das mache ich ihm zum Vorwurf. In anderen Hinsichten mag er ein tolles Werk geschaffen haben.