Ein ganz ausgezeichnetes Buch zum Thema habe ich während meines Aufenthaltes in Hünfeld in der dortigen Bücherei entdeckt:
Michael de Ridder, Heroin vom Arzneimittel zur Droge.
De Ridder bearbeitete für seine Studie eine Fülle von zeitgenössischen Quellen und Dokumenten, und er berichtigt eine ganze Reihe von Vorurteilen und "Urban Legends", die sich auch in populärwissenschaftlichen Werken niedergeschlagen haben.
Heroin wurde teilweise sehr aggressiv beworben, und es wurden Proben an niedergelassene Ärzte verteilt. Nicht richtig ist aber, dass Heroin von einer skrupellosen oder völlig unkritischen Ärzteschaft und Pharmaindustrie unkontrolliert weitergegeben wurde. Das Abhängigkeitspotenzial war im Prinzip bekannt, es gab Ärzte, die fast wie moderne Substitutionsärzte Heroin als Entzugsmedikament oder Substitutionsmittel einsetzten, um Patienten zu behandeln, die Morphinisten waren, wobei sich herausstellte, dass auch Heroin körperliche Abhängigkeit erzeugt.
In Europa gab es anscheinend noch wenig Probleme mit Heroin, von Süchtigen wurde in der Regel Morphium oder alte "Hausmittel" und Klassiker wie Opiumtinktur bevorzugt. Auch im Weltkrieg war das am meisten vergebene Medikament, das in Lazaretten verwendet wurde nach wie vor Morphium. De Ridder korrigiert hier Hans Georg Behr (Weltmacht Droge), der vermutete, Heroin sei im Weltkrieg in großem Umfang eingesetzt worden.
Einzelne Ärzte vermuteten, dass Heroin ein noch größeres Abhängigkeitspotenzial habe, die Erfahrungen mit Heroin sprachen aber zunächst dagegen. Das lag daran, dass Heroin in Medikamenten, die Diacetylmorphin enthielten, relativ niedrig dosiert war, und dass H- Pillen, -Tropfen oder Hustenbonbons fast ausschließlich oral genommen wurden. Wird Heroin retardiert und über die Magenschleimhäute resorbiert, ist das Abhängigkeitspotenzial weitaus geringer, als bei nasaler und intravenöser Zuführung, zumal wenn dabei noch niedrige Dosen aufgenommen werden. Retardiertes Morphin hat auch einen niedrigeres Abhängigkeitspotenzial. Substitutionspatienten können oft jahrelang die Dosis halten ohne Toleranzentwicklung und Dosissteigerung. Heroin hat zu Morphin den Vorteil, dass es verträglicher ist. Morphin reizt das Brechzentrum im Gehirn, Schmerzpatienten, die daran nicht gewöhnt sind, wird oft zu Beginn einer Einstellung schlecht. In der Palliativmedizin wäre Heroin ein Segen.
Man kann die Medizin und die Mediziner des ausgehenden 19. Jahrhunderts kritisieren, wenn man Literatur aus dieser Zeit ließt und sieht, bei welchen Indikationen und Beschwerden Morphium oder Kokain verordnet oder in Selbstmedikation angewendet wurde, kann man feststellen, dass der Umgang damit zumindest wenig kritikempfindlich und teils recht leichtsinnig war. Es war aber die Berichterstattung im Tenor positiv, es waren Morphin, Kokain und Heroin das modernste, was es auf dem Markt gab, die potentesten Analgetika und Lokalanästhetika, die es damals gab. Kokain war das erste Lokalanästhetikum überhaupt, und es nahm einem Zahnarztbesuch seinen Schrecken. Thomas Buddenbrook muss eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung über sich ergehen lassen und fällt danach auf der Straße tot um, Gottfried Benn geriet dagegen beim Zahnarztbesuch schon fast ins Schwärmen wegen dem Kokain und Robert Louis Stevenson schrieb während er mit Kokain behandelt wurde in nur 10 Tagen das Manuskript für Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Mit der Erfindung der Injektionsspritze und der Entdeckung des Morphins war es möglich geworden, schwerste Schmerzen in einer Sekunde neutralisieren zu können und leichter eine Optimaldosis zu verabreichen. Opium ist zwar seit Jahrtausenden bekannt, und Opium kann sehr effektiv Schmerzen, Husten und Durchfall ausschalten, gegen Diarrhöe hilft es sogar noch mehr, als Morphin, da es auch Codein enthält, aber es musste zuerst gegessen oder getrunken werden und es dauert ca. 15-20 Minuten bis nach oraler Aufnahme die Wirkung einsetzt. Oral genommenes Opium hält länger an, als gerauchtes Opium, aber der Morphingehalt schwankte je nach Qualität und Herkunft des Opiums, und so war es schwieriger, einen Verwundeten zu dosieren. Wenn es bei schweren Kriegshandlungen zu einer Menge an en Verwundungen kam, ließ es sich kaum vermeiden, dass entweder Verwundete immer noch Schmerzen litten, weil zu wenig Laudanum gegeben wurde oder aber auch schon mal der ein oder andere Verwundete überdosiert wurde.
Die ärztliche Versorgung war schlecht im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die wenigsten Leute konnten es sich leisten, im Krankheitsfall einen Arzt zu konsultieren. Die alten Hausmittel und der lokale Drugstore verschafften Abhilfe, und Laudanum oder Paregoric (eine Lösung aus Opium und Kampfer, deren Morphingehalt 10 mal schwächer war, als Opiumtinktur) verschafften spürbare Erleichterung. Trotz der omnipräsenten Verfügbarkeit von (harten) Drogen dürfte die Zahl von Süchtigen im Vergleich zu heute nicht wesentlich größer gewesen sein. Natürlich würde man heute kein Heroin als Kinderhustensaft verwenden, aber die Präparate die es damals auf dem Markt gab, waren wie gesagt sehr niedrig dosiert, sie wurden oral aufgenommen und sie wurden in der Regel nur einige Tage angewendet. Moderne Hustenpräparate, auch für Kinder, enthalten Codein, und das ist zwar ein nur schwach wirksames Opiat, ein Codein-Entzug dauert weitaus länger und verursacht schmerzhaftere Entzugssymptome als ein H- Entzug.
Das späte 19. Jahrhundert war im Umgang mit Drogen sehr experimentierfreudig und teilweise mindestens leichtsinnig, das lässt sich aus heutiger Sicht nicht anders sagen, aber: Es war dieser Umgang nicht verantwortungslos. Drogen/Medikamente wie Morphin, Kokain und Heroin wurden jahrelang im Tierversuch und damals Usus im Selbstversuch getestet, bevor sie als Arzneimittel zugelassen wurden. Als ein Problem wurden Drogen und ihre Konsumenten in dieser Zeit noch nicht betrachtet. Das Abhängigkeitspotential von Opiaten war im Prinzip bekannt, und man suchte nach Alternativen. Als großes gesellschaftliches Problem wurde allerdings Alkoholismus betrachtet. Solange Heroin noch legal gehandelt wurde, war das Missbrauchspotenzial in Europa anscheinend relativ gering. Von Süchtigen wurde das Mittel nicht übermäßig verlangt, dominierend blieb Morphium in Präparaten in denen Heroin enthalten war, war es relativ niedrig dosiert, und es wurden diese Pillen, Tabletten Kapseln oral genommen. Ins Gerede kam Heroin zuerst in den USA. Es war dort erfahrenen Morphinisten aufgefallen, dass sich Herointabletten zerreiben und schnupfen ließen, und Heroin und Kokain als "Cocktail" "Speedball" gemischt nasal und mehr noch intravenös ein enormes Gefühl von Euphorie verursachen. 1914 trat in den USA die Harrison Act in Kraft. Die Kennzeichnungspflicht, die Produzenten zwang, die genauen Bestandteile und ihre Dosierung zu nennen war zweifellos noch vernünftig, und auch Morphin, Kokain und Heroin unter Rezeptpflicht zu stellen, in vielem war aber die Harrison Act schon symptomatisch für die repressive Drogenpolitik, die die USA auch anderen Nationen aufzwang oder aufzuzwingen versuchte. Diese Politik war gekennzeichnet von einer extremen Doppelmoral, einer extremen Tabuisierung und Stigmatisierung von Drogenkonsumenten und von rassistisch-fremdenfeindlichen Verschwörungstheorien. In den USA war der Kampf den man den Drogen ansagte auch ein Kampf gegen die chinesischen Einwanderer. Heroin und Kokain waren made in Germany, und mit Deutschland waren die USA seit 1917 im Krieg. Heroin wurde damals allerdings schon längst nicht mehr ausschließlich von Bayer produziert. Diacetylmorphin wurde u. a. in Belgien, Bulgarien, Frankreich und anderen Staaten hergestellt. Der Öffentlichkeit wurde aber ein Bedrohungsszenario suggeriert, als ob sich finstere Mächte verschworen haben, die amerikanische Gesellschaft mit Drogen zu "verseuchen".
Man kann den sehr freizügigen Umgang mit Drogen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert kritisieren,
Sicher ist aber, dass die Prohibition seit fast 100 Jahren zu keinem Zeitpunkt Angebot und Nachfrage von Drogen eindämmen geschweige denn kontrollieren konnte. Was die Drogenprohibition allerdings geschafft hat, war es Gefängnisse und Psychiatrien zu füllen. Als 1971 das neue BtMG verabschiedet wurde, war die Drogenkriminalität marginal, es gab sie praktisch nicht. Es waren in der ganzen Bundesrepublik weniger als 100 Fälle, in denen wegen Rezeptfälschung oder auch mal wegen eines Apothekeneinbruchs ermittelt wurde. Heute haben sich Gerichte jedes Jahr um 50.000 Fälle zu kümmern, nur wegen Cannabis.