Menschenopfer auf Kreta
Ja, ja, ich weiß: In fast allen antiken Sagen und Geschichten, sowie auf Abbildungen und in Filmen wird der Minotaurus stets als wildes und menschenfressendes Monster dargestellt.
Aber gerade beim Minotauros (oder Minotaurus) handelt es sich vermutlich um die am allermeisten mißverstandene und mißgedeutete Gestalt aus der griechischen Mythologie, bzw. der minoischen Kultur auf Kreta.
[Zitat=Reinecke]
Mir fällt dabei die Minotaurus-Sage. Jungendliche aus ganz Griechenland, die im Labyrinth (=Palast, Tempel) von einer Bestie gefressen werden...
Wenn da was dran ist hätte die Legende wohl einen ziemlich wahren Kern. [/Zitat]
Der "wahre Kern" jeder Sage bezieht sich wahrscheinlich darauf, dass es eben eine
Sage/Legende und keine dokumentierte und historisch gesicherte Überlieferung ist.
Noch dazu kommt es darauf an, von wem diese Legende stammt. Allein schon die griechiche Bezeichnung "Minotaur
os", bzw, die spätere, römische Bezeichnung "Minotaur
us" dürfte sehr aussagekräftig sein, denn aus minoischer Überlieferung ist lediglich der Name "Minotaur" bekannt, was nichts anderes heißt als "Stier des Minos." Ob es sich dabei um einen Namen oder um einen Titel gehandelt hat, das ist nicht überliefert.
Vermutlich haben also die frühen Griechen, die in spätminoischer Zeit als Besatzer nach Kreta kamen, diese Mär mit dem Monster geschaffen. Da es keinen realen Nachweis dafür gibt, ob es jemals solche Mischwesen zwischen Mensch und Tier gegeben hat, ist wohl eher anzunehmen, dass es sich beim Minotaurus um einen minoischen Priester mit Stiermaske gehandelt hat. Immerhin war der religiöse Stierkult ein zentraler Bestandteil der minoischen Kultur.
[Zitat=Eumolp]
offenbar gab es Menschenopfer, ja sogar Menschenfresserei in minoischer Zeit!
Der erste Beleg stammt von dem Ehepaar Sakellarakis, die einen Tempel in bzw bei Anemospilia ausgruben. Bemerkenswert ist dieser Fund vor allem, weil ein Erdbeben die Insassen in actu erwischt hatte und damit wie in Pompeji ein direktes Abbild des Lebens zu jener Zeit erhalten ist. Man fand also dort einen Raum mit 3 Skeletten: 2 stammen von Priestern, das 3. lag auf einem altarähnlichen Steinpodest, ihm war wohl eine Menge Blut abgezapft worden. Desweiteren befand sich ein riesiger Dolch auf seinem Körper: der Einsturz des Tempels bewahrte den jungen Mann vorm Opfertod, indem er von den herabfallenden Steinen erschlagen wurde.[/Zitat]
Hier muss man die Frage stellen, aus welcher Zeit genau diese Funde stammen. Stammen sie wirklich noch aus minoischer Zeit oder vielmehr aus einer späteren Epoche? Vielleicht aus einer Zeit, als es die minoische Hochkultur schon längst nicht mehr gab.
[Zitat=Eumolp]
... Eine Miniaturamphora war mit vier Doppelschilden bemalt. Im Westraum fand Warren neben 28 vollständigen Gefäßen, meist Kannen und Tassen, 218 menschliche Knochen mit Schabspuren, was als sicheres Zeichen für Anthropophagie (Menschenfresserei) angesehen wird. Die Skelettreste starnmten von Kindern im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren. Da keine Brandspuren beobachtet wurden, kam der Ausgräber zu dem Schluß, daß hier ein Zeugnis für den kultischen Rohverzehr (Omophagie) von Menschenfleisch vorliege. Warren verband diesen Ritus mit dem Kult des Dionysos Zagreus, der als Fruchtbarkeitsgott mit dem auf Kreta geborenem und sterbenden Zeus Kretagenes gleichzusetzen sei.[/Zitat]
Auch hier eine rein subjektive Vermutung von Peter Warren. Die Skelettreste und die Schabspuren deuten nicht zwangsläufig auf Kannibalismus hin. Sie können ihre Ursache ebenso gut in einem religiösen minoischen Bestattungskult aus der späten Bronzezeit haben.
Apropo Bestattungskult: Ich weiß ja nicht, wer von euch schon mal in Hallstatt war. Am dortigen Friedhof findet man massenhaft übereinander gestapelte Knochen mit Schabspuren und sogar bemalte Totenschädel. Trotzdem kommt niemand auf die Idee, daß die bronzezeitliche Hallstattkultur irgend etwas mit Kannibalismus zu tun gehabt hätte. Die Schabspuren sind ganz einfach deshalb entstanden, weil die ausgegrabenen Knochen zuerst gereinigt (abgeschabt) werden mussten, bevor man sie im Gebeinehaus zur weiteren Lagerung aufschichtete.
Hier von Menschenopfern zu sprechen, ginge ziemlich an der Sache vorbei und ebenso dürfte es auch im minoischen Kreta sein. Immerhin gilt die minoische Kultur als die älteste Kultur Europas. Die Minoer verfügten bereits eine hochseetüchtige Flotte und sie haben damit nicht nur das gesamte östliche Mittelmeer beherrscht, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits Kontakte zu Nordeuropa und den britischen Inseln. Die dringend benötigten Zinnlieferungen aus Wales fallen mir dazu ein. Wer sonst - außer den Minoern - wäre zur damaligen Zeit dazu in der Lage gewesen?
[Zitat=Eumolp]
- Dem Kronos wurden Menschenopfer dargebracht; er selbst verschlang seine Kinder, nur Zeus blieb mit Rhea's Hilfe verschont.
- Agamemnon opfert seine Tochter Iphigenie auf Anraten des Kalchas, wobei die Tochter allerdings von Artemis entrückt wurde (hat Jürgen schon gebracht)
- Polyxene, Tochter des Priamos, wurde am Grab des Achill geopfert, um ihm ins Schattenreich zu folgen.
- Beim Kampf des Herakles mit Cacus werden auch Menschenopfen des Stammer der Argei erwähnt. Überhaupt hat ja auch Herakles, von Hera mit Wahnsinn geschlagen, seine 6 Kinder getötet, weshalb er die berühmten 12 Arbeiten erledigen muss.
- auch die Minotaurus-Sage wurde schon von Reinecke erwähnt. Hier sind es 7 Jungs und 7 Mädchen. Theseus hat ihm die Blutsuppe versalzen.
... usw, usw... [/Zitat]
[Zitat=balticbirdy]
Laut Homer opferte Achilles 12 Gefangene am Grab des Patrokles. Es muss also zu minoischer Zeit so etwas gegeben haben.[/Zitat]
Trugschluss abgelehnt! Homer war kein Zeitzeuge der minoischen Kultur auf Kreta, er lebte viel, viel später.
Die Menschenopfer, die in der (späteren) griechischen Mythologie erwähnt werden, beziehen sich nicht auf die minoische, sondern auf die griechische Kultur. Nur zur Erinnerung: Zur Blütezeit der minoischen Kultur gab es auf dem griechischen Festland noch keine Hochkultur. Die dort lebenden Schafhirten wurden von den Minoern als Barbaren betrachtet und ihre Städte zu Tributleistungen (siehe Minotaurussage) verpflichtet.
Aber auch hier darf man die Sage mit den Menschenopfern nicht allzu wörtlich nehmen, denn König Minos dürfte kaum ein Interesse an menschlichem Futter für den Minotaurus gehabt haben, denn sonst hätten dafür auch Bauern und Schafhirten genügt. Vielmehr ging es ihm darum, die Kinder der attischen Oberschicht als Geiseln nach Kreta zu entführen, sie dort nach minoischen Grundsätzen zu erziehen und sie dann letztendlich in seine eigene Gesellschaft einzufügen. Dass von diesen Geiseln später keine in ihre Heimat zurückkehrte, das hat in Athen wahrscheinlich die Sage vom menschenfressenden Monster inspiriert. Außerdem dürfe eine Rückkehr (sogar dann, wenn sie gewollt gewesen wäre) an den technischen Möglichkeiten gescheitert sein. Kreta liegt weit entfernt vom griechischen Festland und die Minoer waren zur damaligen Zeit die einzigen, die über eine hochseetüchtige Flotte verfügten. Nicht einmal die (ebenso hoch entwickelten) Ägypter hatten so eine Flotte und das will etwas heißen.
Dabei haben die Minoer immer schon herausragende Persönlichkeiten aus anderen Kulturen in ihre eigene Gesellschaft integriert. Erinnern wir und doch ganz einfach mal an den genialen Erfinder und Tüftler Daidalos und seinen Sohn, die ebenfalls keine Minoer, sondern attische Griechen waren. Ob sie freiwillig oder gezwungenermaßen auf Kreta lebten, das wissen wir nicht mit letzter Sicherheit, aber König Minos hat die Fähigkeiten Daidalos' für seine eigenen Zwecke zu nutzen gewusst, denn genau dies sicherte der minoischen Kultur den technischen Vorsprung gegenüber ihren Nachbarn in der östlichen Ägäis.
Warum also sollte man die kulturelle Elite eines feindlichen Volkes an ein blutrünstiges Monster verfüttern? Dafür gibt es keinerlei nachvollziehbare Gründe. Eher schon wurden diese Geiseln von einem minoischen Priester in den Gebräuchen der minoischen Kultur unterrichtet, was man natürlich ebenso als ein "Menschenopfer" ansehen könnte, wenn man das möchte.
Dass es in anderen, späteren Kulturen noch solche rituellen Menschenopfer gegeben hat, das steht völlig außer Frage. Ogrim hat es bereits sehr deutlich ausgedrückt, was davon zu halten ist.
[Zitat=Ogrim]
Das ist eines meiner Lieblingsthemen: "Meine Kultur ist aber höher als deine".
Ich befürchte mal, dass du da einem Denkfehler aufsitzt: Alles, was jünger/näher an unserer Gegenwart ist, muss auch höher entwickelt sein.
Reine Kulturarroganz ist das. [/Zitat]
Richtig! Genau derselben Ansicht bin auch ich.
[Zitat=Theresia]
Habe einen Roman geschrieben über die minoische Eruption. Würde gerne folgendes wissen: Gab es die Blutopfer auch auf Thera? Bislang habe ich nur von Kreta gehört.[/Zitat]
Nun, in einem Roman ist so ziemlich alles erlaubt, was dem jeweiligen Autor gerade mal so durch den Kopf geht.
Wenn es aber ein historischer Roman werden sollte, so sollte er nicht nur in sich schlüssig sein, sondern historisch gesicherte Erkenntnisse weitestgehend richtig darstellen. Nur zu leicht kommt man sonst als Autor in den Verdacht des Realitätsverlustes und das kann für die weitere, schriftstellerische Karriere tödlich sein. Zumindest dann, wenn der Leser diese Widersprüche bemerkt und die meisten Leser sind nicht dumm.
Um zu Deiner Frage zurückzukommen: Nein, es gab zur Zeit der minoischen Hochkultur weder auf Thera (heute Santorin), noch auf Kreta solche "Blutopfer."
Zwei sehr treffende Beiträge zum Thema "historische Romane" kamen zum Beispiel von Dieter und Luziv.
[Zitat=Dieter]
In einem Roman hast du ohnehin jede Freiheit - fragt sich nur, ob dir der Leser bei exotischen Verortungen folgen will.[/Zitat]
[Zitat=Luziv]
Hoffentlich tragen die Leute in Deinem Roman keine Stiefel, Hemden, unter denen sie Survivaltaschen verstecken, und essen Tomaten, wie ich es in einem anderen Roman über den Vulkanausbruch auf Thera ca. 1620 v. Chr. (Datum umstritten) lesen durfte. Nach den Tomaten habe ich das Lesen eingestellt.[/Zitat]
Genau das meinte ich damit! :rofl:
Fazit: Es gibt keinerlei historisch gesicherte Indizien für Menschenopfer in der minoischen Kultur auf Kreta. Ja, schlimmer noch: es gibt nicht einmal in sich schlüssige Vermutungen, die eine solche Behauptung belegen könnten.
historisch "gesicherte" Grüße vom Mino.