Nun aber stelle man hiergegen eines der charakteristischten Lieder des Dritten Reiches, das aus einer Sondersammlung schon 1934 in den "Singkamerad, Schulliederbuch der deutschen Jugend, herausgegeben von der Reichsamtsleitung des nationalsozialistischen Lehrerbundes" überging und damit also offizielle und allgemeine Bedeutung erhielt. "Es zittern die morschne Knochen / der Welt vor dem roten Krieg. / Wir haben dien Schrecken gebrochen / für uns war`s ei großer Sieg. / Wir werden weitermarschieren, / wenn ales in Scherben fällt, / denn heute gehört uns Deutschland / und morgen die ganze Welt." Das ist unmittelbar nach dem innerpolitischen Sieg im Schwang, nach dem Regierungsantritt des Führers also, der in jeder seiner Reden seinen Friedenswillen betont. Und doch ist gleich vom In-Scherben-Schlagen bis zur Eroberung der Welt die Rede.[...]Als ich im Herbst 1945 zu ersten Mal öffentlich von der LTI sprach, wies ich auf den "Singkameraden" hin, der mir nun zugänglich geworden war, und zitierte das Lied von den zitternden morschen Knochen. Da trat nach dem Vortrag ein gekränkter Hörer an das Podium und sagte: "Warum zitieren Sie so Entscheidendes falsch, warum wollen sie den Deutschen eine Weltgier nachsagen, die sie auch im Dritten Reich nicht besessen haben? Es ist in diesem Lied nicht die Rede davon, dass uns die Welt gehören solle." - "Kommen Sie morgen zu mir", erwiderte ich, "da können Sie das Schulliederbuch einsehen." - "Sie irren sich bestimmt, Herr Professor, ich bringe ihnen den richtigen Text mit." Anderntags kam er, der "Singkamerad" - 6. Auflage 1936, bei Fritz Eher, München, "vom Bayrischen Kultusministerium für den Schulgebrauch genehmigt und angelegentlich empfohlen"; aber das Vorwort ist datiert : Bayreuth im Lenzing 1934" - Das Liederbuch also lag, an der richtigen Stelle aufgeschlagen, bereit. "Heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt" - es ließ sich nicht daran deuteln...
Doch, es ließ sich. Der Mann zeigte mir ein hübsches Miniaturleiderheftchen,mit einem Faden am Knopfloch zu tragen. "Das deutsche Lied. Lieder der Bewegung, herausgegeben vom Winterhilfswerk des deutschen Volk, 1942/43." Sämtliche Embleme des Nazismus: Hakenkreuz, SS-Rune usw., zierten den Umschlag, und unter den Liedern befanden sich auch die morschen Knochen, roh genug, aber doch retuschiert an der entscheidenden Stelle. Der Refrain lautete jetzt: "... und heute, da hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt."
[...] eine vierte Strophe wurde angefügt, in der sich die Eroberer und Unterdrücker als Friedensfreunde und Freiheitskämpfer zu maskieren suchten und über böswillige Auslegung ihres ursprünglichen Liedes klagten. Die neue Strophe hieß: "Sie wollen das Lied nicht begreifen, sie denken an Knechtschaft und Krieg. / Derweil unsere Äcker reifen, du Fahne der Freiheit flieg! / Wir werden weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt. / Die Freiheit stand auf in Deutschland und morgen gehört ihr die Welt!"
[...] Man muss sich das merken. Genau zwischen "gehören" und "hören" läuft der Grenzstrich im nazistischen Selbstbewusstsein. Der Ausfall dieser Silbe bedeutet, in Projektion auf die Ebene des nazistischen Liedes, Stalingrad.