Nicht-katharische Häresien

Waldenser

Die Waldenser waren mit den Humiliaten verwandt, sie sind übrigens die einzige mittelalterliche Häresie, die heute noch Anhänger hat! (Ihre Homepage: Waldenser - Deutsche Waldenservereinigung e.V.) Im Gegensatz zu ihnen blieben sie allerdings exkommuniziert und erhielten keinen Ordensstatus. Und ebenso im Gegensatz zu den Humiliaten wanderten sie durch die Lande und predigten; ihre Hauptwirkung entfalteten sie im 13. Jahrhundert.

Ihr Gründer war Petrus Waldes, er selbst ein vermögender Kaufmann aus Lyon, der sich von einem Grammatiker das Evangelium übersetzen ließ, um daraufhin 1179 seine Familie zu verlassen. Er verschenkte seinen Besitz und predigte das Evangelium als Wanderprediger. Der Erzbischof von Lyon untersagte das Predigen allerdings - Laien war das nicht gestattet.

Wichtigster Glaubenssatz der Waldenser war: "Geht hin und lehrt alle Völker!" und: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" - woraus man Kirchenkritik ableiten kann.

1179 zog Waldes nach Rom zum 3. Laterankonzil (bei den Humiliaten schon erwähnt), konnte aber nichts ausrichten, das Predigen blieb untersagt. Darüber hinaus erregte auch der Umstand, dass Frauen bei den Waldensern predigen durften, Unmut bei der Kirche. 1184 wurden die Waldenser - im Verein mit Katharern und Humiliaten - verboten. Ab dem 4. Laterankonzil 1215 wurden die Waldenser als Ketzer verfolgt.

Tatsächlich predigten die Waldenser nicht nur gegen bestimmte kirchliche Anmaßungen, sondern vor allem auch gegen die Katharer als ihre Konkurrenz. Die Glaubensinhalte waren viel stärker am katholischen Glauben ausgerichtet, nur das Predigerverbot schien den Stein des Anstoßes zu bilden (so verstehe ich das wenigstens). In der Verfolgungszeit zogen sich die Waldenser in unwegsame Alpenregionen zurück und überlebten bis zur Reformation.

Mehr:
Waldenser ? Wikipedia
Waldenser - Ökumenisches Heiligenlexikon
 
Joachim von Fiore

Joachim war der erste, der eine "Stadienlehre" begründete und hatte somit Einfluss auf alle späteren historizistischen Lehren, etwa die von A. Comte mit seinem Dreistadiengesetz, wo der Positivismus als leuchtendes goldenes Wissenschaftszeitalter die Stelle der Joachimschen Epoche des Heiligen Geistes übernimmt. Man kann seine Lehre nicht als wirklich häretisch bezeichnen, aber sie rückt in deren Nähe und wurde auch teilweise von der Kirche verboten.

Joachim wurde um 1135 in Kalabrien geboren (gest. 1202). Er trat in das Benediktinerkloster von Corazzo ein und wurde dort Abt, 1192 gründete er in San Giovanni di Fiore eine neue Abtei. Er fühlte die Gabe der Deutung von Zeichen und Prophezeiungen in Momenten der Erleuchtung, die ihm von Gott geschenkt worden seien. Und er fühlte die Zahlenmystik: 3 Stadien umfasse die Geschichte.

1. Epoche: die des Alten Testaments; von Gott beherrscht, ihre Religion ist durch die Furcht bestimmt, die die absolute Autorität des Gesetzes bedingt. Beherrscht von den verheirateten Männern. Zeitalter der Arbeit.

2. Epoche: Neues Testament und der durch die Gnade geheiligten Kirche. Der Glaube ist der spezifische Charakterzug ihrer Religion. Diese Epoche wird 42 Generationen (à 30 Jahre) lang andauern - genau wie nach Matthäus 1,1-17 zwischen Abraham und Christus 42 Generationen liegen. D.h. gegen 1260 endet diese Epoche. Beherrscht von den Klerikern. Zeitalter der geistigen Disziplin.

3. Epoche: die des Heiligen Geistes, in der das religiöse Leben die Fülle der Liebe, der Freude und der Freiheit des Geistes erfahren wird. Beherrscht von den geistigen Mönchen. Zeitalter der Kontemplation. Aber: vor dem Beginn des dritten Status wird der Antichrist 3.5 Jahre herrschen.

Das Papsttum, die Sakramente, das Opfer, verwarf Joachim zwar nicht, maß ihnen aber eine deutlich bescheidenere Rolle zu. Die Priester werden zwar nicht verschwinden, aber die Leitung der Kirche wird auf die Mönche, die viri spirituales, übergehen.

Im Jahre 1215 wurde seine "Lehre von der Trinität" verurteilt. 1263 verurteilte Papst Alexander IV. die Kernideen des Abtes. Aber es gab auch große Bewunderer Joachims, wie Dante, der ihn ins Paradies versetzte. Direkt oder indirekt hat Joachim von Fiore die Fraticelli, die Begarden und die Beginen beeinflußt, ebenso Arnold von Villanova und die Jesuiten.

JOACHIM von Fiore
 
Flagellanten

Weniger eine Häresie als vielmehr eine Lebensform stellen die Flagellanten dar.

Das 14. Jahrhundert wurde von einer Reihe von Ereignissen und kosmischen Katastrophen heimgesucht: Kometen, Sonnenfinsternisse, Überschwemmungen und hauptsächlich von 1347 an die schreckliche Pestepidemie, der "schwarze Tod". Dazu im religiösen Bereich: Der Aufenthalt der Päpste in Avignon (1309-1377) und das Große Schisma 1378-1417.

Um die Sünden der Welt zu sühnen, traten die Flagellanten in Prozessionen auf. So durchstreiften herumziehende Gruppen von Laien das Land unter der Leitung eines "Meisters". Wenn sie in einer Stadt ankamen, so begaben sie sich zum Teil in großer Zahl (mehrere tausend Personen) zur Kathedrale, sangen Hymnen und bildeten verschiedene Zirkel. Stöhnend und weinend riefen die Büßer Gott, Christus und die Heilige Jungfrau an und begannen, sich mit solcher Kraft zu peitschen, daß ihre Körper eine aufgedunsene Masse blaugeschlagenen Fleisches waren.

Ursprung dieser Bewegung war in Perugia 1260 auf, in dem Jahr, in dem der Prophet Joachim von Fiore den Beginn des siebten Zeitalters der Kirche vorausgesagt hatte. In den folgenden Dezennien breitet sich die Bewegung in Zentraleuropa aus, verschwindet aber, einige periphere Einbrüche ausgenommen, um dann mit außergewöhnlicher Gewalt 1349 wieder einzusetzen.
[Zusammenfassung aus M. Eliade, Geschichte der rel. Ideen]

s. a. Flagellanten ? Wikipedia
 
Beginen und Begarden

Sie erschienen im 13. Jrh. Sie besaßen einen Zwischenstatus zwischen Laien und Orden, wurden von der Kirche jedoch nicht anerkannt. Die Beginen verletzten die Regel, sich wie Ordensleute zu kleiden und Almosen empfangend umherzuziehen, ohne einem Bettelorden anzugehören. Es gab öfters sexuelle Übergriffe von Mönchen gegen die Beginen, die sogar päpstlichen Bullen nach sich zogen. Diese Bewegungen erinnern an das religiöse Ideal der Waldenser: Verachtung der Welt und Unzufriedenheit gegenüber dem Klerus.

Mechthild von Magdeburg (1207-1282), einer der Vordenkerinnen der Beginen, stand den Dominikanern nahe und nannte den hl. Dominikus „meinen vielgeliebten Vater". In ihrem Buch Das fließende Licht der Gottheit verwandte Mechthild die mystisch-erotische Sprache, wenn sie von der Vereinigung des Gatten mit der Gattin spricht. „Du bist in mir, und ich in dir.". Die Einheit mit Gott macht den Menschen von der Sünde frei. Die Beginen selbst versuchten, sich unter den Schutz der Franziskaner oder Dominikaner zu stellen, was jedoch nur teilweise gelang (ausschließlich in der Beichte).

Ein Teil der Beginen lebten oftmals ohne Arbeit und zogen als wandernde Bettlerinnen umher. Sie lebten dadurch in Freiheit. Auch scheinen sie Mittel des 13. Jhr. häretische Ansichten zu verbreiten: sie lesen selbst Volksbibeln und werden religiös aktiv. In der kirchlichen Literatur werden "ehrbare" und "verdorbene" Beginen voneinander abgegrenzt: die "ehrbaren" waren meist Weberinnen, arbeiteten, waren seßhaft (vgl. die vielen Beginenhöfe in Belgien), die "verdorbenen" zogen umher, arbeiteten nicht, trieben es mit Mönchen und Studenten. Hauptsächlich aber zu Beginn des 14. Jahrhunderts haben andere Päpste und Theologen die Beginen und Begharden der Häresie angeklagt und sie verdächtigt, Orgien zu vollziehen, die vom Teufel eingegeben worden seien.

Zu den Beginen / Begarden: Beginen und Begarden ? Wikipedia Dort auch ein schönes Bild des Beginenhofs in Brügge.
Und hier einiges: Beginen und Begarden
 
Die Beginen und Begarden unter häretische Bewegungen einzuordnen, geht m. E. nicht an. Mir ist nicht bekannt, daß sie als Gruppe häretische Lehren vertreten hätten. Daß einzelne Beginen wegen Häresie verurteilt wurden, rechtfertigt nicht die Einstufung der gesamten Bewegung als "häretisch". (Es würde auch niemand auf den Gedanken kommen, den Dominikanerorden zu den Häresien zu rechnen, obwohl er mit Girolamo Savonarola oder Giordano Bruno sehr prominente Häretiker hervorgebracht hat...)
 
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Die Beginen und Begarden unter häretische Bewegungen einzuordnen, geht m. E. nicht an.
Häretisch bzw. heterodox nennt sie Mircea Eliade, von dem ich das alles abgekupfert habe - allerdings erst zu Beginn des 14. Jh, als Päpste (hier vor allem Clemens V) und deutsche Bischöfe diesen Verdacht geäußert haben. Letztere verurteilten sie 1311 auf dem Konzil von Vienne. 1307 wurden Beginen und Begarden in Toulouse von der Inquisition zum Tode verurteilt, wobei es gleichzeitig ein Angebot der Begnadigung gab. (Angaben nach wikipedia: Beginen und Begarden ? Wikipedia). Das sind also nicht nur einzelne. Die deutschen Beginenhöfe wurden nach 1311 aufgelöst.

Sicher stehen die Beg(in)(ard)en an der Grenze zwischen Hetero- und Orthodoxie. Aber auf dieser Messerschneide standen z.B. die Humiliaten auch.
 
Goliarden

Die letzten beiden Gruppierungen meiner Vorstellungsrunde sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich eher in Richtung Atheismus bewegen als eine Religion neben der orthodoxen Glaubensauffassung zu begründen. Das gilt von den Goliarden in stärkerem Ausmaß als von den Brüdern und Schwestern des Freien Geistes.

Im Milieu der städtischen studierenden Jugend tauchen im 12. Jahrhundert die Goliarden auf, die man als Gruppe nur schwer bestimmen kann: fahrende Leute, gebildet bzw halb gebildet, die Lateinisch sprechen, die manchmal auch als Jongleure oder Possenreißer bezeichnet werden. Ihr Name soll sich von gula herleiten, das Maul, und folglich Maulhelden bedeuten. In ihren Liedern, unter dem Namen Carmina Burana zusammengefasst, greifen sie die religiösen Autoritäten an, geißeln ihre Laster, ihre Lüsternheit, ihre Ausschweifung in absichtlich obszöner Weise und halten blasphemische Reden, die, wörtlich genommen, einen wirklichen Atheismus verraten: »Die Seele ist sterblich, ich kümmere mich nur um meinen Leib!«; ich bin »begierig mehr auf Wollust als auf das ewige Heil«; »ich will in der Taverne sterben, wo die Weine dem Mund des Sterbenden nahe sind«.

Die zunehmenden Verurteilungen, denen sie ausgesetzt sind, zeigen jedenfalls, dass sie als eine nicht zu unterschätzende Gefahr betrachtet werden. Honorius von Antun nennt sie »Gesandte Satans« und verweigert ihnen jede Hoffnung auf Erlösung.

Auch wenn sie im 13. Jahrhundert verschwinden, so bleibt ihr Geist doch erhalten, insbesondere in einer städtischen blasphemischen Tradition, die sich noch Ende des 15. Jahrhunderts beobachten lässt. Dort stößt man bei Prozessen immer wieder auf den Vorwurf des „Goliardismus“.
[Exzerpt aus Georges Minois, Geschichte des Atheismus]

Hier ist noch ein bisschen was: Goliarden - Mittelalter Lexikon
Und etwas mehr: The Real Goliards Dort werden auch „goliardische“ Lieder vorgestellt.
 
Ja genau, aber wer spricht denn von Arianern? Die Bogumilen galten als Doketisten, die Christi Leib als "Scheinleib" bezeichnen und dazu als Manichäer (wegen des Dualismus), schließlich als Abkömmlinge der Paulikianer (was umstritten ist). Von der Abkunft als Arianer habe ich noch nix gehört.
Das wäre auch gepflegter Unsinn imho! Aber dergleichen wird immer gerne aufgewärmt im Kontext mit so großen Fragen der Menschheit wie dem "Heiligen Gral" und ich wurde privat kürzlich damit konfrontiert. Bei einem dieser reißerischen Enthüllungsbücher wurde der Bogen zwischen Bogomilen und Katharern über die Goten und deren Arianismus geschlagen. Wenn ich mich jetzt richtig erinnere, spielte natürlich auch der von den Römern geraubte Tempelschatz aus Jerusalem mit eine Rolle, der dem Goten Alarich ja "bestimmt" 410 bei der Plünderung Roms in die Hände gefallen ist und mit den Westgoten seinen Weg nach Südfrankreich fand.
Ich habe den Eindruck es lebt sich recht gut, wenn man Enthüllungsgeschichten mit Weltverschwörung kombiniert und das Ganze garniert mit religiösen Phänomenen und mythischen Gegenständen wie dem Heiligen Gral...


Um wieder zum Thema zurück zu kommen: Eine schöne Übersicht hast du da zusammengestellt! :fs:
Geht es noch weiter? Würdest du die Nestorianer eher als eigenständiges religiöses Phänomen sehen, oder ebenfalls als Ketzer?
 
Würdest du die Nestorianer eher als eigenständiges religiöses Phänomen sehen, oder ebenfalls als Ketzer?
Es kommt immer nur darauf an, ob die Ketzerei groß genug ist :)
Jede Abweichung von "päpstlichen Glauben" ist eine Ketzerei. Modernerweise sind allerdings folgende Konfessionen möglicherweise KEINE Ketzerei:
World Council of Churches - Wikipedia, the free encyclopedia

Das hängt aber etwas von der Interpretation der Unitatis redintegratio und er Enzyklika Ut unum sint ab :)

s.a. Ökumene ? Wikipedia

Doch das geht schon etwas über das Mittelalter hinaus....
 
Häretisch bzw. heterodox nennt sie Mircea Eliade, von dem ich das alles abgekupfert habe - allerdings erst zu Beginn des 14. Jh, als Päpste (hier vor allem Clemens V) und deutsche Bischöfe diesen Verdacht geäußert haben. Letztere verurteilten sie 1311 auf dem Konzil von Vienne.

Ich sehe hier keine Verurteilung als Häresie:

Auf Antrag des rheinischen Prälaten wurde das fahrende Beginentum generell verboten und ihr Ordenshabit unter Androhung der Exkommunikation verbannt. Den übrigen Beginen und Begarden wurden Privilegien wie das Predigtrecht und das Beichthörrecht entzogen, sowie auch die Frauenseelsorge (cura monialium) verboten.

Konzil von Vienne ? Wikipedia

Wenn man von der Gerüchteküche ("Orgien" und dergleichen) mal absieht: Sind Lehren der Beginen/Begarden bekannt, die nach damaliger Kirchenlehre als heterodox/häretisch einzustufen sind?
 
@tejason:
Was ich noch habe, schrieb ich oben schon (http://www.geschichtsforum.de/340273-post20.html). D.h. noch die "Libertins", dann habe ich nichts mehr. Die Nestorianer spielten m.W. im westeuropäischen Mittelalter keine Rolle mehr.

@hyo:
Im großen und ganzen fallen die Beg(in)(ard)en eher durch ihre Lebensweise auf als durch Lehren, da geb ich dir Recht. Doch bei H. Grundmann (Religiöse Bewegungen im Mittelalter) lese ich, dass sie schon ab Mitte 13.Jh. häretische Lehren verbreitet hätten. Der Hintergrund dieser Meinung ist wohl dieser: Oft wurden Beginen und Humiliaten als identisch bezeichnet, behauptet Jakob von Vitry in seiner "Beginenpredigt", so dass ich davon ausgehe, dass auch ähnliche Lehren vorlagen. Auch hat ein Kölner Chronist 1220 das Wort "Beggini" für die verurteilten Amalrikaner verwendet. Ebenfalls geht ein Gedicht des Mönchs Gautiers von Coincy, das 1220 erschien, von solchen Gemeinsamkeiten aus. Offenbar enthalten die Lehren der Beginen ähnliche Punkte wie die der Amalrikaner. Zumindest das Konzil von Vienne sah das so.

Ich konnte die Punkte der Verurteilung im Konzil von Vienne auftreiben, da wird schon recht konkret von häretischen Lehren gesprochen:
Irrtümer der Begarden und Beginen über den Stand der Vollkommenheit
(1) Der Mensch kann im gegenwärtigen Leben einen so hohen und so beschaffenen Grad an Vollkommenheit erreichen, daß er zuinnerst sündenlos wird und keine Fortschritte in der Gnade mehr machen kann: denn, wie sie sagen, wenn einer immer Fortschritte machen könnte, könnte man auf einen treffen, der vollkommener als Christus ist. ...
(3) Jene, die sich in dem vorgenannten Grad der Vollkommenheit und dem Geist der Freiheit befinden, sind nicht menschlichem Gehorsam unterworfen und an keine Gebote der Kirche gebunden ...
(8) Beim Emporheben des Leibes Jesu Christi dürfen sie nicht aufstehen und ihm ihre Verehrung erweisen: denn sie behaupten, daß es für sie ein Zeichen von Unvollkommenheit wäre, wenn sie von der Reinheit und Höhe ihrer Kontemplation so weit herabstiegen, daß sie irgendwie an die Ausspendung bzw. das Sakrament der Eucharistie oder an das Leiden der Menschheit Christi dächten.
[Zensur:] Wir verurteilen und verwerfen mit Zustimmung des heiligen Konzils gänzlich die Sekte selbst mitsamt den vorausgeschickten Irrtümern und verbieten strengstens, daß jemand diese künftig festhalte, billige oder verteidige.
(Konzil von VIENNE (15. ökum.): 16.10. - 6.5.1312 Tu es, Petrus)
 
Brüder und Schwester vom freien Geist

Allgemein nimmt man an, die Brüder und Schwester vom freien Geist seien aus der Sekte der Almarikaner entstanden, die ich oben http://www.geschichtsforum.de/338905-post2.html vorgestellt habe. Daran sieht man auch ganz deutlich eine völlig andere theologische Richtung als die der Katharer und verwandter Lehren. In Frankreich gab man ihnen den Spitznamen "Turlupins" (= Schuft, Witzbold). Auch mit den Beginen (zumindest in radikaleren Strömungen) weisen sie Gemeinsamkeiten auf.

Fasten, Kasteiungen, Askese werden verworfen, gleichermaßen die Jungfräulichkeit Marias und ihre unbefleckte Empfängnis, ebenfalls die Transsubstantiation. Albertus Magnus schreibt, daß die Brüder und Schwestern vom Freien Geist nicht an die Auferstehung glauben, die einzig mit dem Ziel gelehrt wird, daß jedermann für ein hypothetisches himmlisches Glück auf seine Wünsche verzichtet. Die Selbstvergottung führte zum Anominalismus (d.i. Morallosigkeit), weil sie ja über der Moral der Welt standen. So ergibt sich auch Promiskuität mit Straflosigkeit aller Sünden.

Die Radikalität dieser Gruppierung wird in einem Abschnitt aus Norman Cohn, Das neue Paradies, Hamburg 1988, so beschrieben:
Das Geständnis des abtrünnigen Mönches Martin von Mainz, der 1393 in Köln abgeurteilt und als verstockter Ketzer verbrannt wurde, macht das Wesen der Beziehung zwischen Jünger und Schüler klar. Martin, selbst ein Schüler des berühmten, sich als neuen Christus ausgebenden Häresiarchen Nikolaus von Basel, hatte die Lehre des freien Geistes in den rheinischen Städten verbreitet. Nach seiner Auffassung gab es nur einen einzigen Weg zur Erlösung, und der bestand in einem Akt der rückhaltlosen Unterwerfung unter Nikolaus. Diese selbst schilderte Martin als ein schreckliches Erlebnis; aber nachdem er sie einmal vollzogen habe, habe sie ihm eine gewaltige Belohnung gebracht, denn Nikolaus sei der alleinige Träger der Erkenntnis und Autorität. Sein Auslegung der Evangelien übertreffe sogar die der Apostel; und ein Gottesgelehrter, der sich geistig höher entwickeln wolle, brauche nur die Bibel wegzulegen und den Akt der Unterwerfung zu vollziehen. Nur Nikolaus besitze die Kraft, Priester zu weihen, und nur dank seine Weihe vermöge man zu predigen und die Messe zu zelebrieren. Der katholische Klerus, dem diese Weihe fehle, sei hingegen nicht imstande, eine einzige wirksame Handlung vorzunehmen. Am wichtigsten dünkt uns jedoch Martins Behauptung, daß, wer sich an Nikolaus' Befehl halte, nicht sündigen könne und auf seinen Befehl hin ohne Gewissensbisse töten und vergewaltigen dürfe, denn die einzige Sünde sei, ihn zu verleugnen oder ihm nicht zu gehorchen. Mit der Unterwerfung unter ihn trete man "in den Zustand der ursprünglichen Unschuld ein".
Wer nicht sündigen kann, muss sich auch sexuell keinen Beschränkungen unterwerfen: So praktizierten die Jünger des freien Geistes häufig Nacktkultur, somit sind sie IMO nicht für eine Geschichte des Anarchismus, sondern auch des Nudismus bedeutend. Dieser Kult der Nacktheit wurde damit begründet, daß man über Natürliches nicht erröten dürfe: es sei ein wesentliches Kriterium der Vollkommenheit auf Erden, womit man eben im "Stand der Unschuld" lebe. Dieses Prinzip wurde auch auf den Geschlechtsverkehr übertragen. So schreibt auch Albertus Magnus in seiner Untersuchung des neuen Geistes (1259) zu ihnen: "Wer mit Gott vereint ist, darf ungestraft seine Fleischeslust stillen, auf welche Weise und mit welchem Geschlecht auch immer, sogar wenn die Rollen vertauscht werden."

Wilhelm von Egmont berichtet, wie die Brüder und Schwestern vom Freien Geist während parodistischer Messen Jesus und Maria auftreten und die Urszene der Unschuld vor dem Sündenfall spielen lassen. Christus, der den Gottesdienst abhält, ist in kostbare Gewänder gehüllt und trägt ein Diadem. Dann erscheint »ein nackter Prediger und fordert die Versammelten auf, sich zum Zeichen der wiedergefundenen Unschuld zu entkleiden. Ein Gastmahl, welches das heilige Abendmahl nachahmt, mit Gesängen und jauchzen, endet in einer Orgie.«

1332 wurden die Beginen von Schweidnitz und Breslau unter Anklage gestellt, die Unterlagen ihres Inquisitionsprozesses sind erhalten. Dort ist zu lesen: "Alles, was das Auge sieht und begehrt, soll die Hand erhalten! Richtet sich ein Hindernis vor ihm - dem Bettler - auf, so soll er es rechtens beseitigen. Denn wenn ein Mensch dem, was ihm widerstrebt, die Stirn bietet, ist seine Freiheit nicht beeinträchtigt." Diese Reden werden vor Gallus Neuhaus, dem Inquisitor, gehalten. Über einen Mann, der inzestuöse Gelüste hätte, schreibt Johannes Hartmann von Astmannstett (ein Bettelmönch, der 1367 in Erfurt verhört wurde): "Wenn die Natur ihn zum Liebesakt verleitet, kann er sich ihm legitim mit seiner eigenen Schwester oder mit seiner Mutter hingeben, an welchem Ort auch immer, sogar auf dem Altar." Wenn schon eine Kirche, dann ist es besser, sich die heiligste Stelle auszusuchen, denn dort liegen, unter den Händen des Offizianten, im Stein versiegelt, die geweihten Reliquien, die dem geistlichen Fürsprecher eine Seelenzulage ermöglichen.

Man muss allerdings solche Berichte mit Vorsicht genießen, da sie gängigen Klischees über ketzerische Gruppen entsprechen.
(Morgen ein weiterer Teil über diese Gruppierung.)
 
@hyo:
Im großen und ganzen fallen die Beg(in)(ard)en eher durch ihre Lebensweise auf als durch Lehren, da geb ich dir Recht. Doch bei H. Grundmann (Religiöse Bewegungen im Mittelalter) lese ich, dass sie schon ab Mitte 13.Jh. häretische Lehren verbreitet hätten. Der Hintergrund dieser Meinung ist wohl dieser: Oft wurden Beginen und Humiliaten als identisch bezeichnet, behauptet Jakob von Vitry in seiner "Beginenpredigt", so dass ich davon ausgehe, dass auch ähnliche Lehren vorlagen. Auch hat ein Kölner Chronist 1220 das Wort "Beggini" für die verurteilten Amalrikaner verwendet. Ebenfalls geht ein Gedicht des Mönchs Gautiers von Coincy, das 1220 erschien, von solchen Gemeinsamkeiten aus. Offenbar enthalten die Lehren der Beginen ähnliche Punkte wie die der Amalrikaner. Zumindest das Konzil von Vienne sah das so.

Ich konnte die Punkte der Verurteilung im Konzil von Vienne auftreiben, da wird schon recht konkret von häretischen Lehren gesprochen:

(Konzil von VIENNE (15. ökum.): 16.10. - 6.5.1312 Tu es, Petrus)


Vielen Dank, das ist doch recht überzeugend.
 
Weiter mit den Brüdern und Schwestern des Freien Geistes

Marguerite Porete

Im Jahre 1310 wurde in Paris Marguerite Porete verbrannt, die erste, die man als Mitglied der Bewegung der Brüder und Schwestern vom freien Geist ausmachen konnte. (Trotz mancher Ähnlichkeiten muß diese Bewegung von den Gemeinschaften der Beginen und Begharden unterschieden werden.) Wenngleich auch als Häretikerin verbrannt, wurde das Werk von Marguerite Poret Le Mirour des simples âmes oft kopiert und in viele Sprachen übersetzt. In der Tat kannte man die Autorin über lange Zeit nicht (Identifikation erst 1946!); dies aber bewies, daß die Häresie nicht augenfällig war. Der Mirour beinhaltet einen Dialog zwischen der Liebe und der Vernunft, der eine Wendung der Seele zu Gott impliziert. Die Autorin beschreibt sieben „Zustände der Gnade", die zur Einheit mit Gott führen. Im fünften und sechsten „Zustand" wird die Seele „vernichtet" oder „befreit", und sie wird den Engeln gleich. Der siebte Zustand, der der Einheit, wird erst nach dem Tode, im Paradies, vollzogen.

M. Porete ist eine „Häretikerin" aus Passivität. Messe, Predigten, Fasten, Gebete seien unnütz, weil „Gott schon hier ist". Der Mirour aber ist ein esoterischer Text. Er richtet sich nur an Menschen, die „verstehen".

Poret beschreibt die sieben Stadien der Seele auf dem Weg zu ihrer Vollendung:
Der Ausgangspunkt des mystischen Weges bei Marguerite ist das allgemeine Christsein in der Unterworfenheit unter die Gebote der Schrift und der Kirche. Dann beschwört sie das Gespräch zwischen Jesus und dem reichen Jüngling, der den Rat erhält, allen Besitz zu verkaufen, um zur Freiheit der Nachfolge zu gelangen. Damit überschreitet sie die erste Ebene und beschreibt den Aufstieg der Seele zur höheren Vollendung. Die von Sünde frei gewordene Seele gibt auch ihren Tugendschatz von sich, sie lebt im Liebesfrieden und ist "anientie", was eher "genichtet" als "vernichtet" bedeutet. Dieser Zustand wird als "foy sans oeuvres" bezeichnet, ein Allein-Existieren aus der "Divine Amour", so daß es nicht mehr nötig ist, etwas "für Gott" zu tun; es bleibt nichts übrig, das Gott "für die Seele" tun könnte. Gott und solche Seelen sind sich gegenseitig kein Objekt mehr. Das impliziert, daß auch iegliche Vermittlung sich erübrigt.
Marguerite vergleicht den Abstand zwischen jeder der sieben Stufen und der folgenden des spirituellen Weges mit dem Verhältnis eines Wassertropfens zum Meer, womit eigentlich jeder Vergleich aufgehoben ist. Jedoch gewährt erst die fünfte Stufe der Seele die durchgängig beschriebene Freiheit, da die erste mit der Erfüllung der Gebote, die zweite mit der Erfüllung der Evangelischen Räte, die dritte mit dem Aufgeben des Schatzes an guten Werken und des geistigen Eigenwillens belastet ist - eine Art Martyrium höherer Ordnung -, während der Wille des Fleisches schon auf den ersten beiden Stufen hinter sich gelassen werden muß. Die vierte Stufe erscheint als Ebene des Bewußtwerdens dieser Freiheit von äußeren Werken und Gehorsamsbindungen, währenddessen die Seele bereits glaubt, sich in einem in diesem Leben unüberbietbaren Zustand zu befinden. Aber es wartet erst im fünften Stadium auf sie die Erfahrung des "Genichtetseins", "la paix sur paix de paix". Die sechste Stufe wird als Einwirkung der nicht mehr in dieser Welt erreichbaren siebenten Stufe der Glorie beschrieben: das spürbare Wirken der Trinität in der Seele, die daraufhin nicht mehr alle Dinge in sich selbst, sondern in Gott sieht. Dieses "Überwissen" schlägt um in Nichtwissen, das aber genau genommen in einer Koinzidenz beider Zustände besteht. "Wenn Rahel nicht stirbt, kann Benjamin nicht geboren werden." Biblische Typologien für den mystischen Weg mehren sich. Martha bleibt auf dem Stadium der guten Werke, Maria genießt die "pasture" der "vie glorieuse".
Ist die Seele hier angelangt, so wirkt Gott in ihr, ohne sie, für sie (en elle, sans elle, pour elle), wofür Marguerite auch den Ausdruck gebraucht, daß die Seele in Gott ihren Namen verliert, so wie der ins Meer einströmende Fluß. Das häufige Ansprechen der Leserschaft als diejenige, "für die Amour dieses Buch hat schreiben lassen und für die ich es geschrieben habe" - sie bezeichnet sie auch als ihre "disciples" -, bedeutet bei Marguerite jedoch nicht Angewiesenheit der "frei" und "klein" gewordenen Seele auf solche Gefolgschaft. Ihre "humilité" ist auch keine der Tugenden, zu denen sie nicht mehr im Dienstverhältnis steht, sondern ist im Gegenteil jene andere, die Mutter aller Tugenden (und diese bleiben immerhin "meres de Sancteté"!), die wiederum in einem Tochterverhältnis zu Gott selber steht. "Ceste Humilité... est fille de Divine Majesté, et si naist de Divineté. Deité en est mere".

Reaktion der Kirche
Andere Werke von Autoren, die zu der Bewegung des freien Geistes gehören, zirkulierten unter dem Namen Meister Eckharts. Die bekanntesten sind im Opus Sermonum die Predigten Nr. 17, 18 und 3711. Der Traktat Schwester Katrei behandelt die Beziehungen zwischen einer Begine und ihrem Beichtvater, Meister Eckhart. Gegen Ende gesteht ihm die Schwester Katrei: „Herr, erfreut euch an mir, denn ich bin Gott geworden!" Ihr Beichtvater befiehlt ihr, drei Tage lang in der Abgeschiedenheit einer Kirche zu leben. Wie auch im Mirour hat die Einheit der Seele mit Gott keine anarchischen Folgen. Die große Eroberung, die durch die Bewegung des freien Geistes gemacht wurde, ist die Gewißheit, daß die unio mystica hier, auf der Erde, erreicht werden kann.

Die Gruppe war in mehreren Ländern Europas verbreitet. Die Reaktion aus der Kirche kam vor allem von Robert de Courçon und dem Laterankonzil von Innozenz III. Die Bewegung wurde von Papst Clemens V beim Konzil von Vienne (1311-12) als häretisch erklärt.(*) 1310 wurde in Paris Marguerite Poret verbrannt, obwohl sie nicht direkt zu ihnen gerechnet wurde. Ende des 13. Jh, als die Schwester und Brüder vom Freien Geist wieder auflebten (sie waren für ca. 50 Jahre verschwunden) mischten sie sich mit den Begharden. Sie waren im 14. und Anfang 15. Jh wiederholt Verfolgungen ausgesetzt, zuletzt 1458 in Mainz. Ende des 15. Jhs. hört man nichts mehr von ihnen.

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(*) Wenn ich mir den Verurteilungstext im Post #31 anschaue, kommt es mir so vor, als würden die Autoren die Brüder und Schwestern des freien Geistes mit den Beginen/Begarden in einen Topf werfen. Also, diesem Punkt müsste man vielleicht mal genauer nachgehen, hier scheinen die Texte durcheinander zu gehen, vielleicht aber nur auch die Wahrnehmung des Klerus, die beide Gruppen nicht voneinander getrennt hatten. Daher kann es sein, dass die Verurteilung der Beginen auf dem Konzil von Vienne gar nicht die Beginen betraf, sondern die Brüder und Schwestern des freien Geistes bzw. dass sich beide Gruppierungen überlappen.
 
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