Offenhalten des orientalischen Geschwürs? Orientkrise/Kissinger Diktat 1877/1878

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Hallo

Ich habe aus Interesse die Kapitel zur Orientkrise/Kissinger Diktat von Hildebrand (Das vergangene Reich) und Canis (Bismarcks Außenpolitik) gelesen, werde aber nicht 100%ig aus der Sache schlau.

1. Thema
Intern hieß es während des Berliner Kongresses, dass man versuchen sollte, das orientalische Geschwür offenzuhalten.

- Der Grund dafür war, die Spannungen zwischen Russland und Großbritannien auf einem, für das Deutsche Reich günstigen Level zu halten. Soweit klar. Hildebrand und Canis bewerten dies als geglückt, sagen also nach dem Berliner Kongress wurde das "Geschwür" offen gehalten, sagen aber nicht wodurch.

Frage:
Wodurch wurde das "Geschwür" denn nach dem Berliner Kongress 1878 offengehalten.
Aber weswegen? Allein aufgrund der Gebeitszuteilungen, die ja eher zugunsten GBs und zuungunsten Rs ausfielen?

Kann mir das jemand bitte einmal ein bißchen erläutern?

2. Thema

Canis sagt: Das Kissinger Diktat am 15. Juni 1877 zeigt die Momentaufnahme der Idealkonstellation zu dem Augenblick, als sie gerade erreicht war.

Ullrich (Die nervöse Großmacht) sagt:

Ohnehin befand sich Deutschland zum Zeitpunkt des Kissinger Diktats von dem darin beschriebenen Idealzustand der europäischen Mächtekonstellation weit entfernt.

Was sagt ihr?

3. Thema

Im Kissinger Diktat ist davon die Rede, dass ein Ausgleich zwischen Russland und Großbritannien wünschenswert wäre. Aber es ging Bismarck doch eigentlich darum, gewisse Spannungen zwischen den beiden aufrecht zu erhalten oder nicht? Oder zielt der Satz im Kissinger Diktat nur auf die Vermeidung eines großen Krieges zwischen den beiden ab, der ja die Parteinahme Deutschlands beinhaltet hätte und weniger kontrollierbar war?

Nach dem Frieden von San Stefano ließ B doch auch verlauten, dass er sich gewünscht hätte, dass der Krieg ohne eine eindeutige Entscheidung versumpft und die noch kontrollierbaren Spannungen zwischen GB/ÖU und R erhalten geblieben wären.

Jetzt bin ich ganz durcheinander.:(

Vielleicht kann jemand ja etwas Licht ins Dunkel bringen.
Lieben Dank schon mal!!!
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Zu 2.) Die Idealkonstellation "einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden.", war insoweit gegeben, als es keinerlei Koalitionen der Großmächte gegen das Deutsche Reich gab. "Unser bedürfen" tat eigentlich nur ÖU, vielleicht noch GB als Gegengewicht vs Russland. Russland brauchte das DR für nichts.
 
Zu (1)

Russland hatte im Dikatfrieden von San Stefano für sich sehr vorteilhafte Regelungen gegen das Osmanische Reich durchgesetzt. Ein wichtiger Bestandteil war, das Bulgarien um Ostrumelien und Makedonien bis an die Ägäis erweitert werden sollte. So hat sich Russland sich den lang ersehnten Zugang zum Mittelmeer verschafft. Des Weiteren hat sich Russland auf dem Balkan ein Art Vormachtstellung verschafft. Das war weder für Großbritannien noch für Frankreich akzeptabel. Auf den Berliner Kongress wurde viele Bestimmungen von San Stefano, vor allem die großzügig gezogenen Grenzen des Fürstentums Bulgarien, wieder rückgänig gemacht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Danke für eure Antworten

2 ist mir jetzt klarer. Also hat im Endefekt keiner der beiden Autoren zu 100% Recht ;)

@Turgot

Indem doch aber mit dem Berliner Kongress, einiges revidiert worden ist, an dem sich GB und F während des Frienden von San Stefano gestoßen haben, wurde das "Gschwür" doch aber wieder verkleinert und nicht offen gehalten, oder?
Oder meinst du dadurch, dass R letzten Endes nicht mit dem Ergebnis des Berliner Kongresses zufrieden sein konnte, blieb der Orient weiterhin ein Pulverfass?
Gab es denn nachwievor Spannungen zwischen den Großmächten im Orient, obwohl ja gerade GB sehr davon profitiert hat?
Leider schweigen sich die Bücher darüber aus und du scheinst das Thema ja gut zu überblicken. Würde mich über eine kurze Antwort sehr freuen :winke:
 
zu 2.

Auf dem Berliner Kongress standen sich auf der einen Seite das Zarenreich und auf der anderen Großbritannien und Österreich-Ungarn gegenüber. Das Deutsche Reich stand in der Mitte und spielte hier durch Bismarck die entscheidende Rolle. Des Weiteren nutzte Bismarck die Gespräche beispielsweise um Frankreich zu signalisieren, das es sich doch ruhig in Tunesien festsetzen solle, das Großbritannien sich Ägyptens bemächtigen solle (1); alles ganz im Sinne des Kissinger Diktats. Unter dem Strich stand ein gewaltiger Prestigegewinn Bismarcks, der seine Rolle als Friedensbewahrer wohl gut verkauft hat. Auf der anderen Seite ist der vorübergehende Bruch der drei Kaiserreiche zu verzeichnen, aber eine militärische Auseinandersetzung, insbesondere zwischen Österreich-Ungarn und dem Zarenreich, war verhindert worden. Unter diesen Gesichtspunkten würde ich Konrad Canis zustimmen.

(1) Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S.282, Berlin 1993
 
Oder meinst du dadurch, dass R letzten Endes nicht mit dem Ergebnis des Berliner Kongresses zufrieden sein konnte, blieb der Orient weiterhin ein Pulverfass?

Russland war mit dem Ergebnis des Berliner Kongresses überhaupt nicht zufrieden. Man fühlte sich um die Früchte seines Sieges betrogen. Bulgarien wurde nicht für die expansive Balkanpolitik des Zarenreichs geöffnet. Russland erhielt "nur" Bessarabien, Ardahan und Batum am Schwarzen Meer, Territorien, deren Wert sich erst später bezahlt machte.

Man war in der leidigen Fragen der Meereingen nur ein ganz kleines Stück weitergekommen, nämlich das fortan der Sultan des Osmansichen Reiches entscheiden durfte, ob und welche Kriegsmarinen passieren durften. Das war gegnüber 1856 schon ein Fortschritt, aber für Russland nicht genug.
 
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