Sicher habe ich im Fall Paulus ein moralisches Urteil gefällt. Auch in Bezug auf Religionen und Ideologien habe ich eine Meinung, mit der ich nicht hinterm Berg halte.
Dieses moralische Urteil fällst du aber auf einer ungenügenden Faktenbasis. Du ziehst dir einen Satz raus und ignorierst den Kontext. Auf dieser Basis fällst du dein Urteil. Und da du den Kontext kennst, ist das ein Stück weit unehrlich.
Im konkreten Fall:
Paulus nennt drei Alternativen.
1.) angesichts des nahenden Weltendes ein sex- und eheloses Leben zu führen
2.) zu heiraten und sich seinen Trieben innerhalb der ehelichen Bahnen hingeben
3.) sich außerehelich seinen Trieben hinzugeben.
Die ersten Alternativen hält er beide für licit. Allerdings hält er die erste für das Ideal. Und daher soll der Gläubige, der sich sicher ist, dass er seinen sexuellen Trieben widerstehen kann, auch ehelos bleiben, wie er. Wer aber seinen sexuellen Trieben nicht widerstehen kann, der soll unbedingt heiraten, innerhalb der Ehe aber treu bleiben.
Die dritte Alternative - Sex außerhalb der Ehe - sieht Paulus als Teufelswerk.
Diesen Kontext blendest du aus und auf dieser Ausblendung fälltst du dein Urteil. dementsprechend ist es sachlich unangemessen. Ein sachlich angemessenes Werturteil könnte sagen, dass Paulus deiner Meinung nach falsch liegt. Aber ein sachlich angemessenes Wertzrteil kann nicht ohne vorheriges Sachurteil gefällt werden.
Das ist der Punkt, den ich kritisiere.
Bei religionshistorischen Themen verlässt du das eigentliche Thema, um zu einem Rundumschlag gegen Religion und ihre Institutionen oder ihre Vertreter auszuholen. Das hat schon einen systematischen Charakter.
Ein schön anschauliches Bsp. aus diesem Thread:
Anhand des Paulus-Zitats, dass Frauen sich in der Gemeindeversammlung mit Wortbeiträgen zurückhalten sollten, schiebst du ihm die Schuld am Kastratenwesen zu, welches in der Frühen Neuzeit aufkam und schilderst zwar kurz aber dennoch mit plastischer Brutalität, wie das vonstatten ging, gibst Paulus die Schuld daran, was 1500 Jahre nach seinem Wirken praktiziert wurde. Dass Päpste ab dem 17. Jhdt. die Kastration verboten, kommt in deiner Darstellung nicht vor. Denn "die Kirche" kann ja nichts anderes sein, als abgrundtief böse. In deiner historischen Meistererzählung haben Ambivalenzen - wie die, dass trotz des Kastrationsverbotes - bis 1922 der letzte starb - kastrierte Sänger beschäftigt (bzw. gesungen hat er wohl nur bis 1913) - da keinen Platz.
Man kann letzteres für Doppelmoral halten, aber Paulus am Kastratenwesen anderthalb Jahrtausende nach seinem Tod die Schuld zu geben, ist schon harter Tobak.
in Bezug auf Religionen und Ideologien habe ich eine Meinung,
Im Übrigen scheinst du dich für bar jeder Ideologie zu halten. Diese Selbsteinschätzung verhindert womöglich, dass du dich kritisch mit deiner eigenen ideologischen Positionierung auseinandersetzt. Das gehört aber zum Handwerkszeug des Historikers, Soziologen oder Politologen.
Dies vor allem dann, wenn sich diese Religionen und Ideologie friedlich geben, aber deren Verhalten alles andere als friedlich war und teilweise immer noch ist – jüngstes Beispiel ist die Unterstützung der russisch-orthodoxen Kirche für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Ohne diese Unterstützung oder gar bei einer Ablehnung des Krieges würde Putin es schwerer haben, Zustimmung vom russischen Volk zu diesem Krieg zu erhalten. Also ist die russisch-orthodoxe Kirche mitschuldig an diesem Krieg.
Und was ist mit der ukrainisch-katholische Kirche?
Wie kann man eine Debatte über Paulus‘ Wirkung auf das Christentum führen, ohne im Detail darauf einzugehen und zu bewerten, was er geschrieben hatte?
Das ist ja auch völlig in Ordnung. Das Problem besteht in Schuldzuweisungen und Cherrypicking (Herausreißen von Halbsätzen aus dem Kontext. Schuldzuweisungen für seltsame Interpretationen von Paulus' Worten im Laufe der Kirchengeschichte:
Aus Paulus
Αἱ γυναῖκες ἐν ταῖς ἐκκλησίαις σιγάτωσαν - die Frauen mögen in der Kirche ruhig sein - was - wenn man den Gesamtkontext berücksichtigt - predigen oder "in Zungen sprechen" meint, wurde im Mittelalter mehr lokal als global ein Gesangsverbot für Frauen und daraus in der FNZ ein "Bedürfnis" für Ersatz geschaffen, der mit Falsettstimmen offenbar nur unzureichend gedeckt werden konnte, weshalb man begann, begabte Jungen zu kastrieren. Wie gesagt, von dir sehr plastisch beschrieben.
Das Thema ist Paulus und seine Bedeutung für das Christentum.
Wir haben jetzt über
- den Hexenhammer und Heinrich Kramer
- die russisch-orthodoxe Kirche und den Ukraine-Krieg
- Kastraten im Kirchendienst (das sie in der Oper auch genutzt wurde, wurde nicht erwähnt)
gesprochen.
Was aber hat das mit Paulus und seinem individuellen Versagen zu tun?
Es ist legitim, seine Worte einer kritischen Betrachtung zu unterziehen....
Selbst verständlich ist das legitim. Nicht legitim sind einseitige Wertungen, die nur die halbe Wahrheit betrachten oder hanebüchende Konstruktionen wie etwa die vom Kastratenwesen des 16. Jhdts. hin zu Paulus' Mahnung, dass die Frauen in der Kirche schweigen sollen. Allein diese Mahnung ist aus heutiger Perspektive schlimm genug und man kann sicherlich bemerken, dass so mancher Misogyniker sich darauf bis heute beruft.
diejenigen, die Paulus Bedeutung für die Morallehre der Kirche für geringhalten, sind eher in der Minderheit.
Hat denn jemand behauptet, dass Paulus' Bedeutung gering gewesen wäre?
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Ich mag ja analoge Betrachtungen:
Schauen wir uns die VR China an. Diese beruft sich auf Marx und Engels. Waren maoistische Aktionen, wie der
Große Sprung nach vorn oder die Kulturrevolution, die beide vielen Millionen Chinesen das Leben kosteten und - im Zweiten Fall - unwiderbringlich Kulturdenkmäler zerstörten irgendwie durch die Ideen von Marx - der gewissermaßen promovierter Kunsthistoriker war - und Engels gedeckt? Trotzdem berief sich Mao auf sie als Ideengeber.
Marx und Engels haben ungefähr 15 Regalmeter an Texten verfasst, von westlichen Antikommunisten wird Marx gerne vorgeworfen, er habe sich bei Engels durchgeschnorrt und sei ein Taugenichts gewesen. tatsaächlich hat Marx nicht viel verdient und sich - neben den Zuwendungen von Engels - mit dem Verfassen von Korrespondenztexten versucht über Wasser zu halten. Die beiden haben zusammmen ungefähr 15 Regalmeter geschrieben, waren "Schreiberlinge". Und dennoch beriefen sich die Roten Khmer als sie auf ihren Killing Fields tausende Menschen ermordeten und schon der Besitz einer Brille als Hinweis darauf galt, dass man ein Intelektueller und somit ein zu vernichtender Bürger sei, auf Marx und Engels. Haben die Schuld am Wahnsinn der Roten Khmer (die uns allesamt, wie wir hier im Forum miteinander argumentieren, umgebracht hätten)?