Potsdamer Protokoll

I. Zitate und ihre Quellen

Ich hatte in #16 u. a. folgende Zitate von Naimark wiedergegeben:
(a) "Schon am 9. Oktober 1944 bemerkte er [Churchill] zu Stalin, sieben Millionen Deutsche würden im Krieg umkommen, damit wäre im Rumpfdeutschland genug Platz für die Deutschen aus Schlesien und Ostpreußen."
(b) Dialog Stalin mit Churchill in Jalta

silesia hatte in #17 "quellenkritische Mutmaßungen" dazu geäußert und in #19 die Einschätzung bezüglich des Dialogs korrigiert.

Bleibt Punkt (a). silesias' Hinweis, dass es ein CWIHP Bulletin vom "Winter 2000" - das ist Naimarks Quellenangabe! - gar nicht gebe, hat mich pflichtgemäß zu weiteren Nachforschungen veranlasst. :winke:
Ergebnis: Naimark hatte bei Verfassen seines Manuskripts angenommen, dass die Quellen in der "Winter 2000"-Ausgabe erscheinen würden, zu der es aber nicht kam. Die Quellen wurden stattdessen als Reader "Stalin and the cold war, 1945-1953" für eine wissenschaftliche Konferenz in Yale am 23.9.1999 zusammengestellt. [1]
In diesem Reader ist das Gespräch am 9.10.1944 auf S. 28-36 wiedergegeben, Churchills zitierte Äußerung (a) auf S. 36: "THE PRIME MINISTER thought the [German] population might be moved from Silesia and East Prussia to Germany. If seven million had been killed in the war there would be plenty of room for them." Als Quelle ist angeben: "Public Record Office".

II. Fortsetzung der Sachdiskussion

Die behauptete Churchill-Äußerung bzgl. der 6-7 Mio. Toten widerspricht mE der britischen Informationslage und den zeitgenössischen Einschätzungen zum Bombenkrieg im Westen. Er hätte Stalin also angelogen (wieso?) und zugleich die Aktionen Stalins einladungsweise forciert.
Ich denke, dass Churchill hier die bis Kriegsende anzunehmenden deutschen Gesamtverluste in einer - zugegebenermaßen hoch gegriffenen - Zahl zusammenfasst. Worin sollte die "Lüge" Stalin gegenüber liegen?

Dass er "Stalins Aktionen einladungsweise forciert" habe, ist eine Interpretation, die man bei Naimark tatsächlich herauslesen könnte: "Churchill behandelte das Thema besonders ungerührt." Insofern will ich mich mit der Bewertung zurückhalten, aber nochmal anmerken, dass Churchill mit dem Plan der Vertreibung seit geraumer Zeit einverstanden war und der polnischen bzw. tschechoslowakischen Exilregierung dafür auch "grünes Licht" gegeben hatte.

Dass sich Churchill um die Deutschen, die vertrieben werden sollten, keine großen Gedanken machte, kann man nach Lage der Dinge auch nachvollziehen; er habe in Potsdam "große moralische Skrupel" geäußert, schreibt Naimark [2]. Wie auch immer - ich bin jedenfalls skeptisch in Bezug auf den Versuch (nicht hier im GF!), ihn als "Schutzmacht" in Anspruch nehmen zu wollen und als guten Antipoden zu dem bösen Stalin.

Noch ein Gedanke des Autors zu den realen Folgen der Potsdamer Anordnung, die Vertreibung "in ordnungsgemäßer und humaner Weise" durchzuführen: "Möglicherweise kostete diese Anordnung mehr Leben, als sie rettete, und schuf mehr Leiden, als sie verhinderte. Der Strom der Flüchtlinge [aus der Tschechoslowakei] wurde an den Grenzen teilweise gestoppt, um sicherzustellen, daß man sich um sie kümmern würde, wenn sie in Deutschland ankamen. Ohne einen Ort, an den sie flüchten konnten, und ohne Aussicht auf Rückkehr waren die Deutschen leichte Beute für die tschechische Vergeltung" [3].

Diese Einschätzung mache ich mir nicht zu eigen, halte sie aber gleichwohl für erwähnenswert.


[1] Warum die objektiv falsche Zitierweise in der Originalausgabe von Naimark (2001) nicht korrigiert wurde, weiss ich auch nicht, und ebenso unverständlich ist es, dass es auch in der bei Beck erschienenen deutschen Ausgabe (2004) unterblieb, von der von mir benutzten BpB-Lizenzausgabe (2009) gar nicht zu reden.
[2] aaO, S. 142
[3] aaO, S. 150

PS: Danke für den letzten Beitrag, silesia! Da hatten wir wohl beide den gleichen Impuls, weiter zu recherchieren.
 
Zuletzt bearbeitet:
I. Zitate und ihre Quellen
silesia hatte in #17 "quellenkritische Mutmaßungen" dazu geäußert und in #19 die Einschätzung bezüglich des Dialogs korrigiert.


Hat sich mit #20 überschnitten, schau mal dort.


Ich denke, dass Churchill hier die bis Kriegsende anzunehmenden deutschen Gesamtverluste in einer - zugegebenermaßen hoch gegriffenen - Zahl zusammenfasst. Worin sollte die "Lüge" Stalin gegenüber liegen?

Diese Mysterium klären die "Bohlen-Minutes": Churchill hat nach seiner (der ausführlichsten) Aufzeichnung von "casualties" gesprochen, also von Kriegsopfern.

Die Zitatediskussion kann man fortführen, da der Zitatschnitt im Kontext des Gespräches steht (ein Vorwurf an Naimark, der den Ausschnitt exponiert, was natürlich "Wirkung" erzeugt).

Ich stimme Deiner Auffassung zu, dass hier ungerührt/emotionslos über die Bevölkerungsverschiebung gesprochen wurde, die Stalin damit einleitete, dass er von einer Populationsverschiebung aufgrund der Flucht vor der Roten Armee als Fakt bereits ausging. Churchill forderte daneben (nur in den Bohlen-Minutes enthalten!) zusätzlich eine Analyse.
 
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