Zitat aus der "Presse", Ausgabe vom 30. 10. 10: Rangordnung der Herrscher DiePresse.comMan las gestern in mehreren hiesigen Blättern, „daß Se. Majestät Freitag Früh wohlbehalten in Warschau eingetroffen, und vom Kaiser von Rußland mit besonderer Auszeichnungaufgenommen wurden.
Was uns in dieser Phrase auffällt, ist der Ausdruck „besondere Auszeichnung“. Wir dächten, wenn der Kaiser von Österreich, der Chef des ältesten und angesehensten Regentenhauses der Christenheit, den Boden seines Nachbars betritt, so wäre auch der glänzendste Empfang nur eine natürliche und den Verhältnissen angemessene Sache. Von einer„besonderen Auszeichnung“ für einen Monarchen wie der unsrige kann also durchaus keine Rede sein. Als Erbe der Traditionen der römisch-deutschen Kaiserkrone, als Enkel Rudolphs, Maximilians und Karl V., kann der junge Kaiser von Oesterreich, wenn einmal schon in unsern Zeiten solche Etiquettestreitigkeiten besprochen werden sollen, wahrhaftig Niemand den Vortritt gestatten.
Der Czaar von Rußland mag noch hunderttausend Quadratmeilen mehr seinem Reiche einverleiben, er wird damit die historische Erinnerung nicht verwischen können, daß man vor nicht viel über hundert Jahren einem seiner Vorfahren zu Wien noch ganz ernstlich den Titel Majestät verweigern wollte. Der österreichische Kaiser kann infolge dessen innerhalb der dem Scepter des Czaaren unterworfenen Länder mit Herzlichkeit und Zuvorkommenheit, niemals aber mit „Auszeichnung“ empfangen werden.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 30. Oktober 1850 und beleuchtet recht originell das Thema "Rangstreitigkeiten europäischer Länder". Wir sind zeitlich noch vor dem Silvesterpatent von 1851 welche konstitutionelle Phase von 49-51 beendete, dh. dieser Artikel erschien in einer Zeit der Pressefreiheit und war nicht "von oben" gesteuert.
Was mir bei diesem Artikel gut gefällt ist das darin zum Ausdruck kommende österreichische Selbstbewusstsein:
Man findet solche "Etiquettestreitigkeiten" zwar etwas absurd, aber trotzdem kann niemand den jungen Kaiser den Vortritt bestreiten, schließlich ist er der Erbe des heiligen römischen Reichs. Und die russischen "Czaaren" werden ohnehin als Noveaux Riches hingestellt (da nutzen ihm die "hunderttausend Quadratmeilen mehr" gar nix).