Reichsgründung

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Sethos

Gast
Wie hier im Forum wohl bekannt ist wurde das deutsche Kaiserreich, 2.Reich, 1871 gegründet.

Mich interessiert die Meinung anderer wie sie die Art und Weise der Umstände der Reichsgründung betrachten.

Mit dem Sieg über Frankreich stellte das Militär seine Schlagkraft unter Beweis. Der Militarismus konnte sich in der Gesellschaft des Deutschen Reichs manifestieren und Wurzeln schlagen. Wozu die Selbstüberschätzung des Militärs im 20. Jahrhundert führte ist uns ja wohl allen bekannt. Ich will nicht behaupten dass allein durch den Militarismus nach der Reicheinigung spätere Ereignisse ausgelöst wurden, aber er war ein Teil der Gründe.

War es nun richtig von Bismarck und allen Beteiligzen die Reicheinigung auf diese Art durchzusetzen oder hätte nicht auch später unter friedlichen Umständen geschehen können?

schon mal vorab danke für antworten
 
Mich interessiert die Meinung anderer wie sie die Art und Weise der Umstände der Reichsgründung betrachten.

Positiv sind zunächst bekannte Selbstverständlichkeiten hervorzuheben: Das deutsche Kaiserreich war der erste deutsche Nationalstaat mit einer Verfassung, denn der Entwurf der Revolution von 1848 trat nie in Kraft. Wenn auch verspätet erreichten also die Deutschen einen solchen Staat, der seit Beginn des 19. Jh. von vielen liberalen und nationalen Kräften ersehnt worden war, wie es beispielhaft das Wartburgfest 1817 und die Volksfeier 1832 auf dem Hambacher Schloss zeigte, ferner die Jahre 1848/49.

Allerdings war der neue Staat ein Bündnis der Fürsten - also ein "Fürstenstaat" -, und nicht - wie 1848/49 - ein Ausdruck des Volkswillens. Die deutsche Bevölkerung feierte die Reichsgründung, doch war sie an den politisch entscheidenden Stellen der Staatsorgane nicht vertreten. Zwar wurden die Abgeordneten des Reichstags von Männern über 25 Jahren in freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt, was im europäischen Vergleich sehr fortschrittlich war. Doch hatte der Reichstag auf die Regierungsbildung keinen Einfluss, da der Reichskanzler allein vom Kaiser berufen oder entlassen wurde und nur ihm verantwortlich war. Zudem konnte der Kaiser den Reichstag jederzeit auflösen. Dennoch verblieben ihm natürlich einige Kompetenzen wie das Recht der Gesetzesinitiative und ein Zustimmungsrecht bei der Verabschiedung des Haushalts.

Was allerdings schwer wog war die Tatsache, dass z.B. Männer wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht und andere Sozialdemokraten, die sich gegen den nationalistischen Übermut des Sieges über Frankreich geäußert hatten, zur Zeit der Reichsgründung in Gefängnissen saßen. Nationalistischer Überschwang und Hochmut machten sich bemerkbar, während demokratische Ideale in den Hintergrund traten.

Das pompöse Bild Anton von Werners zur Proklamation des deutschen Kaiserreichs in Versailles zeigt es sehr deutlich: Um den Kaiser stehen im Spiegelsaal allein die Fürsten, die Generäle, die Hofbeamten - aber keine Volksvertreter!

Die Reichsgründung hatte die Verbindung von demokratischem Wollen und nationalen Zielen zerrissen. Sie band das deutsche Nationalbewusstsein einseitig an die monarchisch-konservativen Kräfte, die in den Jahrzehnten zuvor dem demokratischen Einheitswillen hartnäckig im Wege gestanden hatten.

Für unsere französischen Nachbarn war es eine tiefe Demütigung, dass unser Nationalstaat in ihrem Lande ausgerufen und ihnen zugleich Elsass-Lothringen weggenommen wurde. Diese Demütigung konnte Frankreich nicht vergessen, sie belastete fortan das Verhältnis beider Staaten schwer und wurde schließlich nach Bismarcks Demission verhängnisvoll.
 
Für unsere französischen Nachbarn war es eine tiefe Demütigung, dass unser Nationalstaat in ihrem Lande ausgerufen und ihnen zugleich Elsass-Lothringen weggenommen wurde.
Für die Franzosen war in erster Linie demütigend, daß sie den Krieg verloren hatten und damit auch die Stellung als wichtigste Kontinentalmacht.

Und diese wiederzugewinnen war auch ihr eigentliches außenpolitisches Ziel bis zum ersten Weltkrieg - der Verlust von Elsaß-Lothringen war weder besonders ungerechtfertigt noch wirklich gravierend.
 
Und diese wiederzugewinnen war auch ihr eigentliches außenpolitisches Ziel bis zum ersten Weltkrieg - der Verlust von Elsaß-Lothringen war weder besonders ungerechtfertigt noch wirklich gravierend.

Das ist sicher richtig für 1871.
Anschließend sah das anders aus, mit der zunehmenden Industrialisierung und der Montanindustrie.
 
Ich denke, es war den Menschen im 19 Jhd. auch wichtig, als Deutschland einen Großmachtstatus in Europa (wieder-)zuerlangen, und nicht nur ein außenpolitisch weitgehend handlungsunfähiger Haufen Kleinststaaten zu bleiben, der die politische Landschaft in den deutschen Landen seit einigen Jahrhunderten ausmachte, ganz von den neuen Errungenschaften wie Demokratie, und verbriefte Rechte einmal abgesehen, die sicher auch eine große Rolle spielten.
Große Staaten werden in großen Schlachten geboren. Das war eine gängige Auffassung, und so hatte man mit dem Sieg über Frankreich einen Gründungsmythos, der wohl auf deutscher Seite sehr positiv aufgenommen wurde. Ich würde auch sagen, er stellte ein großes Integrationsmittel für alle deutschen dar, die sich vorher vlt. nicht so stark einer gemeinsamen Nation verbunden gefühlt hatten.

Dass mit diesem Krieg die deutsch-französische Feindschaft begann, mag ich stark bezweifeln. Dafür hatte schon Napoleon gesorgt.
 
Ich setze als entscheidendes Datum für diese "Erbfeindgeschichte" 1689 an. Durch das Verhalten der französischen Armee im pfälzischen Erbfolgekrieg haben diese in der Kurpfalz und Baden einen tiefen Hass auf Frankreich ausgelöst. Noch heute wird diesem Krieg gedacht, welchem in Südwestdeutschland fast alle Gebäude vor dieser Zeit zum Opfer gefallen sind.
 
Wenn ich mich recht entsinne, hat auch schon Kaiser Maximilian I. vom "Erbfeind" Frankreich gesprochen...
In dem Zusammenhang meinte ich mehr, dass die Reichsgründung in Versailles auch nicht mehr war als eine Retourkutsche auf Napoleons feierlichen Durchmarsch durchs Brandenburger Tor. ^^
 
Wie hier im Forum wohl bekannt ist wurde das deutsche Kaiserreich, 2.Reich, 1871 gegründet.

Mich interessiert die Meinung anderer wie sie die Art und Weise der Umstände der Reichsgründung betrachten.

Mit dem Sieg über Frankreich stellte das Militär seine Schlagkraft unter Beweis. Der Militarismus konnte sich in der Gesellschaft des Deutschen Reichs manifestieren und Wurzeln schlagen. Wozu die Selbstüberschätzung des Militärs im 20. Jahrhundert führte ist uns ja wohl allen bekannt. Ich will nicht behaupten dass allein durch den Militarismus nach der Reicheinigung spätere Ereignisse ausgelöst wurden, aber er war ein Teil der Gründe.

War es nun richtig von Bismarck und allen Beteiligzen die Reicheinigung auf diese Art durchzusetzen oder hätte nicht auch später unter friedlichen Umständen geschehen können?

schon mal vorab danke für antworten

Die Geschehnisse davor sprachen dagegen, dass eine friedliche Einigung im Erreichbaren lag. Schon während der Revolution von 1848 drohten ausländische Mächte wie Rußland mit Intervention.

Für die europäischen Mächte, war ein "Gleichgewicht" immer von Interesse, und in deren Sicht störte ein geeintes Deutschland dieses "Gleichgewicht".

Bereits nach dem Preußisch-Österreichischen Krieg hatte Napoleon III. durch Gebietsforderungen in Westdeutschland deutlich gemacht, dass er von einer Reichseinheit nichts hielt.

Zum Thema Militarismus. Preußen hatte schon vorher Kriege gewonnen, siehe Österreich und Dänemark. Das die Nationenbildung fast immer mit Kriegen einherging, zeigen die Beispiele von Italien und Griechenland.

Klar, wenn man betrachtet, dass den Nachbarländer meistens vieles daran lag, den Status Quo beizubehalten. Siehe die zahlreichen Interventionen ausländischer Mächte auf deutschem Gebiet vor 1871.

Somit muss man, unabhängig davon ob dieser überhaupt im Vergleich mit anderen Nationen, wo das Militär in diesem Jahrhundert sicherlich auch nicht völlig unbedeutend war:pfeif:, so ausgeprägt war, einen Militarismus nicht in einer durch einen Krieg erreichten Konstitution initiiert sehen.
 
Die Reichseinigung hätte auch später durch friedliche Mittel geschehen können, dann eben 1971 und nicht 1871. Für die Zeitgenossen war das natürlich nicht absehbar. Auch die demokratischen Liberalen waren zur Zeit Bismarcks durchaus gewillt, wenn nötig die Reichseinheit per Krieg durchzusetzen. Es hat auch niemand die Dänen, Österreicher und Franzosen gezwungen, sich der Reichsgründung politisch und militärisch entgegenzustellen. Insofern würde ich da Bismarck keinen Vorwurf machen.
Die Annektion von Elsaß-Lothringen war auch im Reichstag nicht umstritten, Bebel musste sich einiges anhören, als er dagegen Stellung nahm.

Kritischer sehe ich da seine Innenpolitik, die Gestaltung des neuen deutschen Reiches. Die Annektion von Hannover, Schleswig-Holstein, usw. Die Festschreibung der Sonderstellung des Militärs "über dem Gesetz". Gerade Bismarck hätte aus eigener Erfahrung wissen müssen, wie gefährlich sowas ist und er hätte den "Primat der Politik" festigen müssen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Kritischer sehe ich da seine Innenpolitik, die Gestaltung des neuen deutschen Reiches.

Kritisch ist vor allem anzumerken, dass das neue "Reich" ein Fürstenstaat war, denn die deutsche Bevölkerung war in den wesentlichen Staatsorganen überhaupt nicht vertreten und hatte weder auf die Regierungsbildung noch auf die Bestellung oder Entlassung des Kanzlers den geringsten Einfluss. Gesetze konnte der Reichstag nur mit Zustimmung des Bundesrats verabschieden, zudem konnte der Kaiser den Reichstag jederzeit auflösen.

Somit bleibt als Bürde, was ich bereits weiter oben sagte: Die Reichsgründung zerriss die Verbindung von demokratischem Wollen und nationalen Zielen. Sie band das deutsche Nationalbewusstsein einseitig an die monarchisch-konservativen Kräfte, die in den Jahrzehnten zuvor dem demokratischen Einheitswillen hartnäckig im Wege gestanden hatten.
 
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