Religionsfreiheit in Europa im 15. Jh.

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Um die mangelnde Religionsfreiheit des Mittelalters zu verstehen, kann man auch mal einen Blick auf die vier-Reiche-Lehre werfen und auf die dahingehende Auslegung das das HRR, das ersehnte Gottesreich sein sollte und in einem Gottesreich kann es doch keinen andersgläubigen Bürger geben. Insofern waren Staat und Religion so sehr verflochten, das ideologisch, das scheitern des einen auch das scheitern des anderen bedeutet hätte.
 
Das ist sicher ein guter Ansatz, was das HRR betrifft. Dazu könnte man vielleicht noch anmerken, dass viele Gelehrte in SMA und FNZ sehr optimistisch waren, was die mehr oder minder objektive Beurteilung "ewiger Wahrheiten" angeht. Da aber die Wahrheit nicht dasselbe Recht wie die Lüge/Unwahrheit beanspruchen kann, lag es nahe, falschen Religionen und Konfessionen nicht zu viel Spielraum zu gewähren, wenn es nicht aus politischen Gründen unbedingt nötig war.

Man merkt ja etwa am französischen Beispiel, dass institutionalisierte religiöse Toleranz meist als Notmaßnahme in einer Krisenzeit verstanden wurde, die in gesicherten Verhältnissen möglichst keinen Bestand mehr haben sollte.
 
Dass die Angst vor der Hölle keine Urmenschliche Eigenschaft ist und dass diese Angst gerne von den Klerikern ausgenutzt wurde ist denke ich klar. Ich denke aber dass man die Angst vor einer Göttlichen Strafe in den meisten Religionen findet, gerade die Germanischen Religionen werden da wohl keine Ausnahme gemacht haben. Die Untertanen tauschten also lediglich die Angst vor dem einen, gegen die Angst vor dem anderen Gott.
Auch wenn diese Angst, wie das meiste in unserem Leben, nur anerzogen ist, so war sie, denke ich, tief in den Menschen verwurzelt, weil, der Glaube an die Existenz eines Gottes ebenso tief verwurzelt war. Dran sieht man, dass ein Mittelalter ohne Gott, im großen, wie im kleinen, einfach nicht denkbar ist.

Dem ersten Teil Deiner Ausführungen stimme ich weitgehend zu. Allerdings: Das Mittelalter gab es auch ohne Gott. Es ist ein Zeitabschnitt, den es objektiv gab. Ob es Gott gab oder gibt oder nicht, ist nicht bewiesen. Ob jeder Mensch im Mittelalter gläubig oder spirituell war, wage ich zu bezweifeln, möglich wäre es, das ist aber mehr eine philosophische Frage, die historisch nicht zu beantworten ist, schon deshalb, weil sich die wenigsten Menschen schriftlich geäußert haben, also heute auch über ihr Denken nichts mehr vorliegt.

Die Überlieferung des Mittelalter ist ganz überwiegend eine klerikale, in untergeordnetem Maße eine adelige, ganz selten eine bürgerliche, vielleicht gab es auch die einen oder anderen bäuerlichen Aufzeichnungen. Unser Bild vom Mittelalter ist also, sieht man von den wenigen Zeugnissen unterer bzw mittlerer Schichten und archäologischen Funden ab, dasjenige, was uns die damaligen Eliten hinterlassen haben -- oder sogar hinterlassen wollten.

@Caro: Objektive "Wahrheit" gibt es mE nicht. Es gibt Naturgesetze, eine Summe von Annahmen, ansonsten v.a. Meinungen. Damals -- wie heute. Nur, dass in der Vormoderne von gewissen Personen/Institutionen, v.a. der Kirche, beansprucht wurde, zB die allein selig machende "Wahrheit" zu kennen. Das unterscheidet aus meiner Sicht am stärksten die verschiedenen Zeiten.
 
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@Caro: Objektive "Wahrheit" gibt es mE nicht. Es gibt Naturgesetze, eine Summe von Annahmen, ansonsten v.a. Meinungen. Damals -- wie heute. Nur, dass in der Vormoderne von gewissen Personen/Institutionen, v.a. der Kirche, beansprucht wurde, zB die allein selig machende "Wahrheit" zu kennen. Das unterscheidet aus meiner Sicht am stärksten die verschiedenen Zeiten.

Die historische Frage ist ja nicht, ob es im religiösen Bereich objektive, erkennbare Wahrheiten geben kann, sondern ob ein relevanter Teil der Menschen einer bestimmten Zeit davon ausging. Und das traf in der FNZ und im SMA eben nicht nur auf Kirchenleute zu, sondern auf sehr viele Menschen, selbst auf die sehr kirchenkritischen Denkern unter den Humanisten und später auch unter den Aufklärern. Es ist also für eine historische Betrachtungsweise unerlässlich, ein solches verbreitetes Denkmuster zu kennen und zu berücksichtigen, wenn man sich mit einer bestimmten Zeit befasst.

Die wenigsten Althistoriker dürften Horoskope, Auspizien oder Orakeldeutungen für sinnvolle Methoden der Zukunftsforschung halten. Dennoch werden sie sich im Rahmen ihrer Tätigkeit zum Teil auch damit beschäftigen, was die Menschen der Antike darunter verstanden und welche Bedeutung viele von ihnen diesen Dingen zumaßen.
 
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Man sollte die Quellen nicht allein auf den Bereich der schriftlichen Quellen reduzieren. Auch Sachquellen sind Quellen und mitunter sogar recht gesprächige Zeugnisse.
Aber nicht zuletzt gibt es eine ganze Menge antiklerikaler Quellen, welche sehr wohl einen tiefverwurzelten Glauben der Menschen im MA belegen. Also zu sagen "ja, die Quellen wurden ja von Klerikern geschaffen und spiegeln daher nur deren Auffassung wider" greift deutlich zu kurz. Richtig ist, dass in schriftlichen Quellen "das Volk" bis etwa ins 13. Jhdt. deutlich unterrepräsentiert ist.
Interessant sind in diesem Sinne auch die Inquisitionsakten, die eigentlich selten von Unglauben handeln als vielmehr von - aus kirchlicher Sicht - Desviationen des Glaubens. Opfer der Inquisition waren nicht etwa "Atheisten" oder "Agnostiker" sondern Christen, deren privater Glaube sich nicht den Lehren der Kirche vertrug.
 
Richtig ist, dass in schriftlichen Quellen "das Volk" bis etwa ins 13. Jhdt. deutlich unterrepräsentiert ist.

Das war so, und ist ganz entscheidend in meinen Augen. Die letzten 2-300 Jahre des MA mögen dann vielleicht etwas anders verlaufen sein. Davor aber gibt es nur wenige Zeugnisse seitens der Normalbevölkerung; daraus abzuleiten, die Zeit wäre besonders "christlich" oder "gläubig" gewesen, halte ich für gewagt.

Unser Wissen über das Mittelalter und seine Menschen fällt eher gering aus, aber aus dem wenigen Überlieferten werden "historische" Spekulationen abgeleitet. Das hat dann vielleicht ungefähr den Wert von sogenannten "Mittelaltermärkten", natürlich eloquenter und eleganter gemacht und universitär besiegelt.

Das auch als meine Antwort auf @Caro. Ich stelle infrage, dass wir wissen können, auch für die Frühe Neuzeit, was der Bauer auf der Scholle dachte. Rund 90% der Menschen waren Bauern, die wenigsten haben Zeugnisse hinterlassen. Vielfach war frühe Geschichtsschreibung in weiten Teilen Legende, Mythos, Herrschaftslegitimation.

Was Historiker daraus machen, nicht mehr als weitere Erzählung(en), oder nicht?
 
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daraus abzuleiten, die Zeit wäre besonders "christlich" oder "gläubig" gewesen, halte ich für gewagt.
Das tut doch niemand. Du allerdings machst bezeichnender Weise genau das. Du leitest aus angeblich nicht vorhandenen Quellen (ich wies bereits auf die Sachquellen hin, die du aber nicht zur Kenntnis nimmst) ab, dass es mit dem Glauben nicht so weit her gewesen sei.

Das auch als meine Antwort auf @Caro. Ich stelle infrage, dass wir wissen können, auch für die Frühe Neuzeit, was der Bauer auf der Scholle dachte.
Wir wissen da weit mehr, als du denkst. Ein Friedhof ist genau so eine Quelle, wie ein Schriftstück. Für Glaubenszeugnisse sogar die bessere. Du reduzierst einfach unseren Quellenbestand auf das "amtliche" Schriftgut und unterstellst, dass dieses ja eh von Klerikern geschrieben worden sei und damit für die Fragestellung nach der Verwurzelung des Glaubens im Volk (zu unterscheiden vom Volksglauben) von zweifelhaftem Wert.
Das ist aber falsch.
In den Quellen wird viel zwischen den Zeilen berichtet, also nicht etwa, um eine Zensur zu umgehen, wie in modernen Zeiten, sondern weil Verfasser von Quellen en passant häufig Dinge mitteilen, die sie eigentlich gar nicht mitzuteilen vorhatten. Oft sind Missstände der Anlass etwas zu berichten. Daraus können wir häufig weit mehr erkennen als nur den Misstand (oder das als solcher wahrgenommene) und das Idealbild. Darin erkennen finden wir Lebenswirklichkeit(en) wieder. Es gibt aus dem Mittelalter jede Menge Kritik an der Doppelmoral der Kirchenoberen oder den Ausschweifungen von Mönchen und Nonnen. Das hat im 11. Jhdt. zum Reformpapstum geführt, im 12. Jhdt. zur Gründung der Bettelorden und seit dem 14. Jhdt. zu reformatorischen Bewegungen (Wycliff, Hus, Luther...)

Vielfach war frühe Geschichtsschreibung in weiten Teilen Legende, Mythos, Herrschaftslegitimation.
Ich wies bereits darauf hin, dass es mehr als nur die schriftlichen Quellen gibt.
Und auch dise lassen sich noch untergliedern. Neben der Geschichtsschreibung, also den Traditionsquellen, gibt es auch bereits im Mittelalter die Überrestquellen, also gerade keine Geschichtsschreibung, keine Werke die für die Nachwelt gedacht waren, sondern ad hoc entstandene Schriftstücke. Da muss man schon unterscheiden.

Und ich wiederhole mich: Häretiker kommen in Prozessakten recht häufig vor. Atheisten oder Agnostiker eigentlich - eigentlich getreu dem Motto sag niemals nie - so gut wie gar nicht. Es wäre schon erstaunlich, dass sie weder in den Inquisitionshandbüchern, die ja praktische Manuale sein wollten, noch in den Prozessakten vorkommen, wenn es sie denn in bedeutender Zahl gegeben hätte.
 
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Habe meinen Ahasver von Brandt gelesen, kenne mich aber mit Archäologie nicht aus, meine, sie würde in der Historie wenig rezipiert.

Wo schrieb ich, mit dem Glauben im Mittelalter sei es nicht weit hergewesen? Ich habe nur infrage gestellt, dass es eine so tiefgläubige Welt gewesen sei, wie das Caro meint.

Gläubiger als heute waren die Menschen wohl, aus der Not ihres Unwissens heraus. Allerdings hatten sie wohl anderes Wissen, wie man Felder mit einfachen Mitteln bebaut etwa.

Jetzt sind wir, woran ich nicht unschuldig bin, weit vom Thema der Religionsfreiheit im 15. Jh. abgewichen, ein Thema, das hier auch im falschen Bereich steht. Das 15. Jh. umfasst die 1400er Jahre, hier ist ja Zeitalter der Glaubensspaltung ab Reformation bis Ende 30jähr Krieg...

PS: Ah, sehe grade, der TO schreibt, bis ins 17. Jh, dann ist hier doch richtig.
 
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Die Überlieferung des Mittelalter ist ganz überwiegend eine klerikale, in untergeordnetem Maße eine adelige, ganz selten eine bürgerliche, vielleicht gab es auch die einen oder anderen bäuerlichen Aufzeichnungen. Unser Bild vom Mittelalter ist also, sieht man von den wenigen Zeugnissen unterer bzw mittlerer Schichten und archäologischen Funden ab, dasjenige, was uns die damaligen Eliten hinterlassen haben -- oder sogar hinterlassen wollten.

Dass das Mittelalter eine zutiefst gläubige Epoche war - wobei ein wesentlicher Grund dafür tatsächlich durch die Angst dikitiert wurde (Angst vor den Höllenqualen, Angst vor der Aussicht, am jüngsten Tag nicht zu den Auserwählten zu gehören, etc) - lässt sich allein schon aufgrund der umfangreichen Schenkungen an Klöster und Kirchen schliessen. Auch ein ansonsten skrupelloser, der Machtpolitik verpflichteter Adliger packte in der Regel gegen Ende seines Lebens die Reue, die ihn dazu veranlasste, zum Leidwesen seiner Erben umfangreiche Schenkungen (Land, Hörige, Geld, Reliquien, Kultgegenstände, Pfarrstellen) an ein Kloster zu tätigen. Immer verbunden mit der Verpflichtung der Mönche, für das Seelenheil des Spenders (und manchmal auch für dasjenige seiner ganzen Familie) in Form der Fürbitte und Jahrzeitfeiern zu beten. Die mittelalterlichen Jahrzeitbücher der Klöster, Kirchen und Kathedralen sind voll von solchen Verpflichtungenl, am Todestag der Spender entpr. Messen und Gedenkfeiern abzuhalten. Nach mittelalterlicher, ständischen Vorstellung war die Fürbitte eine der Hauptaufgaben der Klerus und letztendlich auch der Grund dafür, weshalb Kleriker nicht arbeiten mussten (Bauern- und Bürgerstand).

Dass nicht nur Aldige sondern auch Bauern und Bürgern dieser Art von Religiosität unterlagen, davon zeugen u.a. ebenfalls die Eintragungen der Jahrzeitbüchern. Auch Bauern beschenkten, gemäss ihren beschränkten Möglichkeiten, Klöster und Kirchen in der Absicht, ihr Los im Jenseits zu verbesssern. Letzendlich bauten auch die Ablässe des Spätmittelalters auf dieser Idee der Fürbitte auf.

Zur Verdeutlichung: Diese Art von Schenkungen erfolgten mehr oder weniger freiwillig, unabhängig von Zehnten- und sonstigen Abgaben welche der Kirche zu leisten waren und auch unbahängig davon, dass mit der ein- oder anderen Schenkung von Adligen an Klöstern auch kolonisatorische (Rodung, Landesausbau) oder dem Prestige geschuldete Absichten verbunden gewesen sein konnten.

Dass die meisten dieser zahlreichen mittelalterlichen Kirchenschenkungen vermutlich nicht unbedingt durch "tatsächliche Frömmigkeit" sondern durch die Angst (Seelenheil, Höllenqualen) motiviert waren , ist ein anderes Thema. Dies ändert jedoch nichts am Beweis dafür, dass das Mittelalter ein religiöses Zeitalter war, und zwar durch alle Schichten.
 
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Dass das Mittelalter eine zutiefst gläubige Epoche war - wobei ein wesentlicher Grund dafür tatsächlich durch die Angst dikitiert wurde (Angst vor den Höllenqualen, Angst vor der Aussicht, am jüngsten Tag nicht zu den Auserwählten zu gehören, etc) -

Zu dem war die Angst vor ewiger Verdammnis tief in den Menschen verwurzelt, so dass sie sich freiwillig in das System einfügten.

Das trifft sicherlich zu für einen Teil der Motivation, religiös zu sein. Und entspricht in der Deutung von Religion einem Durkheim. Die Religion bildete ja den Referenzrahmen, in dem Ereignisse "ganzheitlich" erklärt werden konnten und somit der Gesellschaft einen gemeinsamen Rahmen der Interpretation anbot. Sicherlich auch als Oktroy, aber auch entsprechend dem individuellen Verlangen nach Sinngebung

Die Vorstellung einer von Gott erschaffenen Welt und den darin enthaltenen Versprechungen und auch Gefahren prägten das Weltbild der Menschen im Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein und wurden erst durch die beginnende Aufklärung massiv in Frage gestellt.

Das trifft für die Gefahr der Verdammung und dem damit zusammenhängenden Thema der "Hölle" und auch für die "Offenbarung des Johannes" in Bezug auf die Apokalypse zu (vgl. zur Relevanz beispielsweise die Literatur)

Wie bedeutsam diese religiösen Sichten waren zeigt sich auch in der Kunst und teilweise auch in der Architektur. So wurde beispielsweise "Angers" als architektonischer Ausdruck des Widerstands gegen die Gefahr der Apokalypse gewertet - unabhängig von seiner realen machtpolitischen Bedeutung - und als Ort angesehen, an dem man sogar der Apokalypse trotzen könne.

[/URL]https://de.wikipedia.org/wiki/Apokalypse_(Wandteppich)"][/URL]

[/URL]https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Angers"][/URL]

Aberth, John (2010): From the brink of the apocalypse. Confronting famine, war, plague, and death in the later Middle Ages. 2nd ed. London, New York: Routledge.
McGinn, Bernard (1998]: Visions of the end. Apocalyptic traditions in the Middle Ages. New York: Columbia University Press
Palmer, James T. (2014): The Apocalypse in the early Middle Ages. Cambridge: Cambridge University Press.
 
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Das tut doch niemand. Du allerdings machst bezeichnender Weise genau das. Du leitest aus angeblich nicht vorhandenen Quellen (ich wies bereits auf die Sachquellen hin, die du aber nicht zur Kenntnis nimmst) ab, dass es mit dem Glauben nicht so weit her gewesen sei.


Wir wissen da weit mehr, als du denkst. Ein Friedhof ist genau so eine Quelle, wie ein Schriftstück. Für Glaubenszeugnisse sogar die bessere. .

Das finde ich ein sehr interessantes Thema. Gibt es dazu irgendein Standardwerk, das Du empfehlen kannst? Natürlich dürften die Grabinschriften (wie sogar heutzutage noch) häufig von Konventionen geprägt sein, aber diese sagen ja auch sehr viel über eine Zeit aus.
 
@ Armer Konrad: Du glaubst an ein gläubiges Mittelalter, ich glaube an ein landwirtschaftliches Mittelalter. Sonne, Regen, Wind, Wetter, Naturphänomene (die dann oft überweltlich gedeutet wurden) machen für mich viel eher das Faszinosum dieser Zeit aus als reine Religiosität.

Ich denke, was wir heute in der Geschichtsschreibung noch immer haben, das ist ein klösterlich-adelig geprägtes Bild, das 90% der Menschen ausschließt, Spende-Kultur hin oder her.
 
Das ist unterkomplex argumentiert.

Versuche es doch mal mit etwas Einfühlung in die Lebenswelt eines mittelalterlichen Bauern, seiner Frau und Kinder. 90% der Erdbevölkerung lebten in dieser Form, bis auf jene Kulturen, die noch vom Sammeln und Jagen lebten, die wenigen Handwerker, noch weniger Kleriker und noch weniger Adlige.

Worauf kam es an? Dass die Ernte stimmte! Also aufs Wetter, die eigene Arbeits- und Lebenskraft, die der Kinder, auf fruchtbaren Boden, und vielleicht auch eine überweltliche Kraft, welche die Ernte erfolgreich werden ließ. Das sicherte das Überleben der Menschen, darauf kam es zuerst an und dann kam lange nichts.

Das mag man abwertend als "unterkomplex" bezeichnen. Ich würde das nicht tun wollen.

Mit den besten Grüßen
Peterchen
 
Ich merke immer wieder, dass eine ganze Menge kulturelles Wissen verloren gegangen ist (ist ja auch klar).
Weißt du, wie der Kalender der Seefahrt oder der bäuerliche Kalender organisiert war?
An Peter und Paul beginnt die Seefahrt, an Martini wird x, an Johanni wird y, an Mariae Geburt wird z. Vor den Eisheiligen werden bestimmte Garten- und Feldarbeiten nicht vollzogen. Der bäuerliche Kalender orientiert sich nicht zufällig am Kirchenjahr. Soviel zum Einfühlen in die Lebenswelt...

Und unterkomplex war nicht das Leben der Bauern, unterkomplex ist die Pauschalkritik der Quellen, die nach mehrfachem Hinweis diese immer noch nicht nur auf das Schriftgut, sondern sogar nur auf die Historiographie reduziert, und mit dem Hinweis auf einen klerikal-klösterlichen Ursprung alles abbügelt. Du hast zwar Quellenkundliches mit dem Hinweis, dass du deinen Brandt gelesen hättest, abgelehnt, leider aber noch keine Konsequenz daraus gezogen.

Es interessiert keinen, was Armer Konrad glaubt oder was du glaubst, von Interesse ist, was wir den Quellen seriöser Weise entnehmen können, ohne sie pauschal und in cummulo zu kritisieren. Quellenkritik funktioniert immer nur anhand der Einzelquelle.
 
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Versuche es doch mal mit etwas Einfühlung in die Lebenswelt eines mittelalterlichen Bauern, seiner Frau und Kinder. 90% der Erdbevölkerung lebten in dieser Form, bis auf jene Kulturen, die noch vom Sammeln und Jagen lebten, die wenigen Handwerker, noch weniger Kleriker und noch weniger Adlige.

Worauf kam es an? Dass die Ernte stimmte! Also aufs Wetter, die eigene Arbeits- und Lebenskraft, die der Kinder, auf fruchtbaren Boden, und vielleicht auch eine überweltliche Kraft, welche die Ernte erfolgreich werden ließ. Das sicherte das Überleben der Menschen, darauf kam es zuerst an und dann kam lange nichts.

Naja, mir würden da schon noch ein paar Dinge einfallen. :winke: Die bäuerliche Existenz im FMA war ja kein romantisches Landleben, sondern immer auch prekär und bedroht. Räuberei und kriegerische Verwicklungen, aber auch Krankheiten und Unfälle konnten recht schnell existenzbedrohende Auswirkungen haben. Viele Familienmitglieder kamen schon in jungen Jahren (häufig als Babys/Kleinkinder) um. Natürlich besitzen wir von diesen Menschen häufig keine schriftlichen Berichte, in denen sie ihre Trauer und ihre Hoffnung ausführlich erläuterten, aber die schon genannten Grabinschriften könnten hier sicherlich einigen Aufschluss geben.
 
@ Armer Konrad: Du glaubst an ein gläubiges Mittelalter, ich glaube an ein landwirtschaftliches Mittelalter. Sonne, Regen, Wind, Wetter, Naturphänomene (die dann oft überweltlich gedeutet wurden) machen für mich viel eher das Faszinosum dieser Zeit aus als reine Religiosität.
Also wenn es darum geht: meine Faszination für das Mittelalter ist nicht die Religiosität, die sowieso nur ein Teilsapekt, wenn auch ein wesentlicher, ist. Der Grund für meine Faszination ist die Widersprüchlichkeit dieser Epoche, welche - das ist nur meine persönliche Meinung - ich als die widersprüchlichste Epoche der gesamten Weltgeschichte überhaupt einschätze.

Was die Religiosität der Epoche angeht: Nicht nur die Kirchen-Schenkungen zeugen davon, sondern auch beispielsweise die ganze Heiligenverehrung und - gerade bei den Bauern nachgewiesen - den Kult um die Nothelfer, wo für jedes Leiden und Problem ein "Spezialist" zur Verfügung stand und deren "Hilfe" gerade von den Bauern in Anspruch genommen wurde. Das Überleben (der Bauern) beschränkte sich, worauf auch schon Caro91 hingewiesen hat, nicht auf Wetter und Arbeitskraft. Die existienzellen Bedrohungen waren vielfältiger. Krankheiten, Überfälle, Naturkatastrophen, Plünderungen, Fehden, Schädlingsbefall (Mutterkorn) etc. Für die Abwehr dieser zahlreichen Gefahren war, abgesehen von der Changenverbesserung im Jenseits, ebenfalls die Religion zuständig, wenn diese auch objektiv praktisch gar nichts ausrichten konnte und die Unterstürzung auf psychologische Lebenshilfe beschränkt blieb. Daneben der ganze Reliquienkult, die Wallfahrten, die Sühneleistungen, die Bittprozessionen ... - dies alles betraf auch das "einfache Volk". Auch die Herrschaft wurde religiös begründet (Königsheil, Gottesgandentum), ebenso die Rechtssprechung (Gottesurteile). Auch jeder Bauer wollte auf dem Friedhof und nicht ausserhalb davon begraben werden. Also wenn das Mittelalter keine religiöse Epoche war, dann gab es gar keine. Atheismus war im Mittelalter völlig undenkbar - nicht einmal für Dante Allighieri oder Erasmus von Rotterdam. Auch "Heiden", "Ungläubige" und "Ketzer" galten nicht als Atheisten.

Ich denke, was wir heute in der Geschichtsschreibung noch immer haben, das ist ein klösterlich-adelig geprägtes Bild, das 90% der Menschen ausschließt, Spende-Kultur hin oder her.

Das Bild des einer klösterlich-adlig geprägten Welt stimmt mit den tatsächlichen Gegebenheit überein. Allerdings wäre es treffender, von einer feudalen und ständisch geprägten Epoche zu sprechen. Die Mehrheit der 90 % der Menschen waren nicht ausgeschelossen sondern als Angehörige des produzierenden dritten Standes Teil der mittelalterlichen Weltordnung. Diese Ständeordnung wurde nicht nur von Klerus und Adel als gottgewollt propagiert, sondern vom dritten Stand auch so akzeptiert. Auch in den zahlreichen Bauernaufständen wurde die Ständeordnung meist nicht in Zweifel gezogen. Ausnahmen wie John Ball oder Jos Fritz waren äusserst selten. Und auch Kritik an der Geislichkeit (Machtanspruch, Lebenswandel) bezog sich meist nicht auf den klerikalen Stand selbst sondern an deren Vertretern, die sich nicht "standegesmäss" verhielten.
 
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