Entschuldigt bitte die Verspätung meiner Antwort, aber – wie ihr wisst – finde ich das Thema viel zu interessant, um an dieser Stelle mit der Diskussion aufzuhören. Das ist jetzt vielleicht auch etwas abrupt, weil im Zug geschrieben und hier gepastet zw. 2 Meetings, ich bitte um Verständnis …
Nachdem wir (wie ich vermute) genug über die politisch-sozialen Gründe der Rekonstruktion historischer Bauten gesprochen haben, bringen Repo und Dieter nun Ästhetik ins Spiel: die Bauten werden wiedererrichtet, weil sie schön sind.
Nu, Schönheit liegt im Auge des Betrachters, aber das Auge des Betrachters ist meistens im Kopf eines Menschen, der in sozialen, historischen und kulturellen Konventionen lebt. Und hier wandelt sich der Schönheitsbegriff. Die 50er und 60er Jahre fanden große Bausiedlungen schön. Gewohnt, in Mietshäusern eng zusammen zu wohnen, waren die heute verhassten "Betonsilos" im Gegensatz zu früher sauber, komfortabel und günstig.
Wer konnte denn ahnen, dass der kulturelle Trend mit zunehmendem Wohlstand eine Individualisierung der Gesellschaft mit sich brachte! Gemeinschaftlichkeit verschwand aus Arbeit, Freizeit und kulturellem Erlebnis, sogar aus der Fortbewegung: kein Wunder, dass die Betonsilos zu anonymen Wohnlagerstätten wurden. In den sozialistischen Ländern wurde das Gemeinschaftserlebnis trotz auch hier gegenläufigem Trend am Leben erhalten; deshalb war die Akzeptanz der "Platte" besser als im Westen.
Die Zukunftsgläubigkeit und -begeisterung der 50er und 60er hat üble Bausünden mit sich gebracht, ich bin der letzte, der das abstreitet. Vor allem in der infrastrukturellen Planung wurde zu groß, zu breit und zu sehr autobezogen gearbeitet – sechsspurige Stadtautobahnen zerschneiden die Städte, die Rückbildung dieser Strukturen ist mühselig und langwierig, da schließlich ein Großteil des Wohlstands der 60er und 70er Jahre in der Forcierung des Autoverkehrs bestand (und wir auch heute noch in dieser Suppe stecken). Die Verbindung menschenunwürdiger Blech-Aorten mit den Isolationsblöcken der Neubauviertel war einmal eine strahlende Vision vom schnellen, hellen Leben in der Zukunft.
Es ist ja auch verständlich, dass es nach den Vernichtungen des 2. Weltkrieges "nur aufwärts" gehen konnte. Sowas hatten wir schon einmal: die Reichsgründung 1871 wurde von den allermeisten als ein Aufbruch wahrgenommen; nach zwei Generationen der Unzufriedenheit, Unzulänglichkeit und Unruhe war endlich ein in Europa konkurrenzfähiges politisches Modell für "Deutschland" realisiert worden. Der Innovationsschub der Gründerzeit und das schnelle Wachstum der Bevölkerung erforderten auch große bauliche Reformen: in diesen Jahren verloren die meisten Städte mehr historische Bausubstanz als in Jahrhunderten zuvor, in Köln ging z. B. nicht nur die Stadtmauer aus dem 12. Jahrhundert drauf, sondern auch ein großer Teil der römischen Befestigung.
Aus heutiger Sicht kann das Wegplanieren der historischen und die Ersetzung durch moderne Bauten klarer wahrgenommen werden – damals wurden die historischen durch historisierende Bauten ersetzt, da das Kaisertum als Regierungsstruktur nicht konservativ, sondern rückwärts orientiert war – weg von modernen Ideen, hin zu romantischer Verklärung mittelalterlicher Ideale wie Stände, Gilden, Reichstagspracht und Bürgerstolz.
Ein guter Teil dieser Rückwärtsorientiertheit steckt auch in den modernen Rekonstruktionen (die sich in der Tat mit den historisierenden Bauwerken der Kaiserzeit mischen), es ist weniger Liebe zum Alten als Angst vor dem Neuen, das die alten Bauten neu entstehen lässt – Zukunftsangst.
Die ist aber auch nicht ganz unberechtigt. Zum einen ist die Vision der Zukunft spätestens seit den 70ern eher als Dystopie denn als Utopie ausgeprägt. Zum anderen hat sich seit der Bauhaus-Revolution aus dem neuen Formenschatz noch kein moderner Formencode entwickelt, der tatsächlich einfach nur akzeptiert wird; Materialentwicklung und Stilentwicklung haben auch hier eine Art "Unlesbarkeit" hervorgebracht, wie sie auch moderner Kunst zueigen ist – der individuelle Künstler bestimmt das Kunstwerk, nicht etwa die Kunstrichtung.
Zum anderen – die historisierenden Bauwerke der Kaiserzeit, die uns heute als so schnuckelig und schön erscheinen, sind schnuckelig und schön. Zu sehr.Die historisierenden Stilelemente werden nicht eingesetzt, ssie wurden gehäuft: kein Baumeister der Rennaissance hätte das Haus, in dem ich wohne, mit diesen Stilattributen so zugekleistert wie es 1900 gemacht wurde – stilistisch gesehen waren die Jahre zwischen 1870 und 1925 unglücklicher und zerstrittener, als unsere es sind. Wir leben, auch wenn es sich vielleicht nicht so anfühlt, in einer Zeit verhältnismäßiger politischer und kultureller Homogenität, verglichen mit der eben beschriebenen. Die eindeutig zuzuordnenden politischen Statements, die durch Architektur gemacht werden, stechen deshalb umso spürbarer heraus – sei es PdR-Abriss, sei es Schloss-Neubau.