Und ein sehr interresanter Bericht um die Mord Theorie auszuschließen:
Der Tod des Diktators
Archive geben Auskunft zu Stalins letzten Stunden
Von Wladislaw Hedeler
Vor fünfzig Jahren, am 5. März 1953, starb J. W. Stalin. Um ihn, sein Leben wie sein Sterben, ranken sich viele Legenden. Unser Autor hatte Gelegenheit, im Russischen Staatsarchiv Dokumente einzusehen, die näheren Aufschluss über Ereignisse und Entscheidungen der dramatischen Tage zwischen dem 2. und dem 14. März 1953 geben, von Stalins todbringendem Schlaganfall bis zur Einsetzung Chruschtschows als dessen Nachfolger.
Das, womit niemand gerechnet hatte, ereignete sich in den Morgenstunden des 2. März. Es war ein kalter Tag. Weder die Leibwächter noch die engsten Mitstreiter waren auf den Ernstfall vorbereitet, als der wachhabende Offizier meldete, er habe den Hausherren bewusstlos im Arbeitszimmer vorgefunden. Wann ihn der Schlag getroffen hatte, konnte niemand genau sagen, denn der Wache war es untersagt, Stalin zu stören. Um 3.00 Uhr - einer der Offiziere hatte durchs Schlüsselloch gesehen - hatte er noch am Schreibtisch gesessen und gearbeitet. Als am Morgen kein Lebenszeichen aus dem Arbeitszimmer zu vernehmen war, die Wachoffiziere aber ohne Befehl nichts unternehmen durften, riefen sie ihre Vorgesetzten an. Diese machten den Geheimdienstchef Lawrenti Berija ausfindig und meldeten ihm das Vorkommnis. Auf dem Dienstweg ging es weiter. Der Gesundheitsminister wurde informiert, er wiederum legte fest, wer von den Fachärzten zum Patienten vorgelassen werden durfte. Hirnlähmung lautete die erste, um 9.00 Uhr erstellte Diagnose durch die eilig herbeigeholten Mediziner. Ihnen saß noch der Schreck in den Gliedern, erinnerte sich später A. Mjasnikow, denn sie waren von NKWD-Offizieren aus ihren Wohnungen abgeholt und nach Kunzewo bei Moskau, wo sich Stalins Datscha befand, gebracht worden. Seit der Absetzung des Ministers für Gesundheitswesen Jefim Smirnow am 9. Dezember 1952 waren Verhaftungen von Ärzten an der Tagesordnung, ein Prozess gegen die Kremlärzte in Vorbereitung. Am 13. Januar hatte die "Prawda" die Verhaftung einer Ärztegruppe gemeldet, die angeblich am Tode der ZK-Mitglieder Andrej Shdanow und Alexander Schtscherbakow schuld war.
Doch die eingetroffenen Mediziner konnten nicht viel tun. Vom neuen Minister für Gesundheitswesen A. Tretjakow hatten sie lediglich erfahren, dass in der Nacht auf den 2. März Blut ins Gehirn eingedrungen war. Mit Befremden nahmen sie zur Kenntnis, dass es in der Datscha nicht einmal eine Hausapotheke gab. Damals wussten nur wenige Mitstreiter des Regierungschefs vom Misstrauen des 73-Jährigen gegen Ärzte, von seiner Angst, vergiftet zu werden. Stalin, der nur noch "Feinde ringsum" wähnte, war zum Opfer der auf seine Weisung hin inszenierten Prozesse gegen "Giftmischer" und "Brunnenvergifter" geworden.
Die letzten Stunden
Die erste Krisensitzung fand mittags unter Leitung des Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, Georgi Malenkow, statt. Dazu versammelten sich die Mitglieder des Büros des Präsidiums des ZK (der Geheimdienstchef Lawrenti Berija, die Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates Nikolai Bulganin, Kliment Woroschilow und Michail Perwuchin, Lasar Kaganowitsch, der Leiter der Staatlichen Plankommission Alexander Saburow sowie der Sekretär der Moskauer Parteiorganisation Nikita Chruschtschow) und des Präsidiums des ZK der KPdSU(B) (die Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates Anastas Mikojan und Wjatschewslaw Molotow, der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets Nikolai Schwernik sowie der Vorsitzende des Komitees für Parteikontrolle Matwej Schkirjatow). Sie bestätigten die Zusammensetzung des Ärzteteams und Berija erklärte, dass die Versammlung der vorläufigen Diagnose der Neuropathologen zustimmt. Erst jetzt fühlten sich die Ärzte halbwegs sicher.
Stalin lag in seinen durchgeschwitzten und uringetränkten Sachen auf dem Diwan im Arbeitszimmer. Er war bewusstlos, rechtsseitig gelähmt, das Sprachzentrum angegriffen. Während der Rundfunk die Nachricht verbreitete, dass Stalin in den Moskauer Sowjet gewählt worden ist, trafen weitere Ärzte in Kunzewo ein. Um Mitternacht trat das Konsilium zusammen und beschloss, Kopf und Oberkörper des Kranken durch Unterlegen eines kleinen Kissens leicht anzuheben.
Am 4. März wurde um 8.00 Uhr im Moskauer Rundfunk das zurückdatierte Kommunique verlesen. Der ernsthaft erkrankte Stalin, hieß es, halte sich im Kreml auf. Die Sowjetbürger sollten auch weiterhin glauben, dass ER hinter einem der beleuchteten Fenster im Kreml arbeitete. Zahlreiche Sowjetbürger boten an, ihr Herz für Stalin herzugeben. Nachdem Malenkow das Gutachten über die aussichtslose Lage des Patienten gelesen hatte, gab er seiner Hoffnung Ausdruck, die Medizin könne das Leben des Regierungschefs etwas verlängern. Denn die Parteiführung benötigte Zeit, um einen Nachfolger zu benennen.
Die im Moskauer Parteiarchiv aufbewahrten Krankenberichte sind ein Spiegelbild dieses Wettlaufs gegen die Zeit. Am 3. März soll Stalin um 18.10 Uhr für kurze Zeit das Bewusstsein wiedererlangt und die Augen geöffnet haben. In einer anderen, viele handschriftliche Zusätze, Streichungen und Korrekturen enthaltenden Fassung ist von 19.00 Uhr die Rede. Handschriftlich ist eingefügt: "Stalin atmete schwer, stöhnte, es schien, dass er einmal kurz zu sich kam und alle Anwesenden musterte. Da beugte sich Woroschilow zu ihm herab und sagte zu ihm: ›Genosse Stalin, wir alle hier sind deine treuen Freunde und Kampfgefährten. Wie fühlst Du Dich, mein Lieber?‹ Aber Stalins Blick blieb leer." Zu später Stunde, um 22.45 Uhr soll er noch einmal die Augen geöffnet und versucht haben, mit Malenkow und Berija zu sprechen. Damit waren drei der sechs Führungsmitglieder namentlich benannt, die sich am Krankenbett ablösten. Die Namen von Chruschtschow, Bulganin und Kaganowitsch tauchten im Journal nicht auf.
"Am 4. März schlichen wir ums Bett herum und hielten uns im Nebenzimmer auf", erinnert sich ein behandelnder Arzt. "Bulganin sah uns misstrauisch an. Den ganzen 5. März über machten wir dem Patienten irgendwelche Injektionen, führten das Krankenbuch. Inzwischen versammelten sich die ZK-Mitglieder in der 2. Etage, die rangniederen Funktionäre schauten gelegentlich zur Tür herein, ohne den Raum zu betreten." Das Fieber und der Blutdruck des Kranken blieben gefährlich hoch, immer wieder setzte die Atmung aus.
Der Mensch, der zum Gott wurde
Es war 21.50 Uhr, als die Ärzte am 5. März 1953 den Tod feststellten. Die Kinder Swetlana und Wassili sowie Mitglieder der Partei- und Staatsführung betraten das Sterbezimmer und verharrten reglos fast 30 Minuten lang. Am Morgen des 6. März, um 4.30 Uhr, wurde der Tod offiziell mitgeteilt. Dmitri Manuilski, Außenminister der Ukraine, wies diese Meldung als Provokation zurück. Das Unfassbare war geschehen. Die Parteiführung rief das schockierte Volk zur Einigkeit und Geschlossenheit auf. "Wir hatten", erinnert sich Ilja Ehrenburg, "völlig vergessen, dass Stalin ein Mensch war. Er hatte sich in einen allmächtigen und geheimnisvollen Gott verwandelt. Und nun war dieser Gott an Gehirnblutungen gestorben. Das erschien uns unwahrscheinlich."
Am Vormittag fand die Obduktion statt. Aus dem ausführlichen, elf Seiten umfassenden Bericht geht hervor, dass das Nervensystem stark angegriffen war. Stalin litt in den letzten Lebensjahren unter Orientierungsverlust und neigte zu Wutanfällen. Genau genommen hatte ein Kranker den Staat regiert.
Diese "Tradition" wurde bis zum Ende der Sowjetunion gepflegt. Nur die Abstände zwischen den Totenfeiern wurden immer kürzer. In den 80er Jahren ging es Schlag auf Schlag. Im Todesjahr von Leonid Breshnew, er starb am 10. November 1982, hatten alle Politbüromitglieder der KPdSU das Rentenalter erreicht. Bis 1990 starben dreizehn Mitglieder und sechs Mitglieder des Zentralkomitees. Juri Andropow, Vorsitzender des Komitees für Staatssicherheit und Breshnews Nachfolger, befand sich von September 1983 bis zu seinem Tod am 9. Februar 1984 im Krankenhaus. Sein Nachfolger Konstantin Tschernenko, er hatte die Allgemeine Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU geleitet, trat am 13. Februar 1984 sein Amt als schwerkranker Mann an. Am 10. März 1985 starb auch er. Vier Stunden nach dem Tode von Tschernenko wurde Michail Gorbatschow zum neuen Generalsekretär ernannt. Sein Konzept der Demokratisierung sollte der Agonie des Systems ein Ende machen. "Es ist vollkommen offensichtlich", führte Gorbatschow in seiner Rede aus Anlass des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution aus, "dass gerade das Fehlen des nötigen Niveaus der Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft sowohl den Personenkult als auch die Verletzungen der Gesetzgebung, die Willkür und die Repressalien der dreißiger Jahre ermöglichte. Offen gesagt - Verbrechen, verübt auf dem Nährboden des Machtmissbrauchs."
In der Nacht vom 4. zum 5. März war die Entscheidung über die Nachfolge im Führungszirkel gefallen. Im Leitartikel der "Prawda" vom 5. März war nur von Malenkow die Rede gewesen. Am 7. März 1953 stand die Führung vor einem anderen Problem. Ein gemeinsamer Beschluss des Plenums des Zentralkomitees, des Ministerrates und des Präsidiums des Obersten Sowjets machte Stalins "Reform" der Führung des ZK und des Ministerrates rückgängig. Das Büro des Präsidiums des Zentralkomitees und das Büro des Ministerrates wurden aufgelöst. Die "Alte Garde" holte sich die Macht zurück. Während von der Wiederherstellung der kollektiven Führung die Rede war, tobte hinter den Kulissen der Kampf um die Posten, kurz unterbrochen durch die Zeremonie der Aufstellung des Sarkophags im Mausoleum am 9. März 1953.
Das Volk hatte drei Tage Zeit, sich vom teuren Toten zu verabschieden. Der Sarg stand in jenem Saal, in dem in den 30er Jahren die Moskauer Schauprozesse stattfanden. Am dritten Tag sollen über 500 Menschen an den Absperrungen von der Menge zerquetscht oder zertrampelt worden sein. Selbst der Verstorbene riss noch Landsleute in den Tod.
Als sich der Trauerzug vom Gewerkschaftshaus zum Roten Platz in Bewegung setzte, war Stalin für die neue Führung nur noch Geschichte. Die Laken, das Kissen sowie die zur Behandlung verwendeten Utensilien - das Übergabeprotokoll enthält 22 Positionen - befanden sich bereits im Zentralen Leninmuseum. In der Hauptstadt ging das Leben weiter. Die Moskauer Theater blieben geöffnet. Im Opernhaus spielte man "Boris Godunow", vor einem enthusiastischen Publikum, das beim Tod von Boris frenetisch applaudierte.
Fünf Tage später, am 14. März 1953, entsprach das Plenum des Zentralkomitees der KPdSU Malenkows Bitte, ihn von der Funktion des Ersten Sekretärs des ZK zu entbinden. Auf Grund der Doppelfunktion könne er den Verpflichtungen als Vorsitzender des Ministerrates nicht nachkommen. Mit seinem Nachfolger Chruschtschow kam das Tauwetter, die Zeit der Hoffnungen brach an.
Dr. Wladislaw Hedeler ist Historiker und lebt in Berlin