Da sieht man mal, wie es um die historischen Kenntnisse der Bevölkerung der Türkei, aber auch von Politikern und Gruppierungen unterschiedlicher Couleur bestellt ist - peinlich, auch wenn (Vorsicht, ggf. selektive Berichterstattung) hier der Fokus auf die Empörten gerichtet ist, und keine Aussage darüber getroffen wurde, ob vielleicht die Mehrzahl mit dem Dokudrama einverstanden ist, ihr zustimmt, oder es als das sieht, was es ist:
Infotainment. (Skandale verkaufen sich nicht nur in der WELT besser...)
Deshalb auch meine generelle Vorsicht und Skepsis bei Geschichtsbüchern oder (Zeitungs-)Artikel aus dem gesamten Südosteuropa, inkl. Türkei, und den Nahen Osten. Siehe meinen Historiographie-Thread hier im Subforum.
Die Serie, die der Threadersteller meint, ist diese hier:
1529 - Die Türken vor Wien, Deutschland (MDR) 2006
Ich hatte schon mal im Forum darüber palavert, dass ich es sehr schade finde, dass wenn schon mal eine so aufwändiges Dokudrama erstellt wurde, und wenn schon mal echte Experten interviewt werden, deren Aussagen nicht in das Filmskript eingeflossen sind, im Gegenteil, es gab mal Aussagen (von Caroline Finkel), und gleich darauf redetet der Offsprecher genau das Gegenteil dessen, was sie grad gesagt hatte.
Auch wenn die Doku besser ist, als andere, sind doch etliche Fehler drin enthalten, so dass man hinterher ggf. auch nicht schlauer als vorher ist, oder gar desinformierter ist.
Die Belagerung Wiens habe ich hier mal zu schildern versucht, besonders die historische Begleitumstände, die wichtiger zu wissen sind, als ob dreihundert Soldaten nach links ritten, und vierhundert Soldaten dort entlang ritten.
http://www.geschichtsforum.de/f42/t-rken-stehen-vor-wien-2279/index2.html#post254147
Was die genauen Kriegsgräuel anbelangt, z.B. das Ausschneiden von Embryos aus dem Mutterleib, das Pfählen von Säuglingen, usw., so habe ich vergessen, ob dieses eher reale Beschreibungen waren, ob es ein übliches Topos war, welches immer wiederkehrte, egal ob real oder nicht, oder ob es Propaganda zur Steigerung der Kampfkraft war.
"Das Thema "Türken", darüber waren sich Adel, Klerus, Händler und Bauernschaft einig, war sozusagen "brandaktuell". In seiner Beurteilung klafften die Meinungen jedoch auseinander. Kaiser, Fürsten und Klerus, Vertreter der sozialen Ordnung, sahen in den Türken mehr als nur einen Feind, der auf Eroberungen aus war. Trotz aller Greueltaten, die man den Türken zuschrieb, [...] übte das Osmanische Reich eine große Anziehungskraft auf Bauern, Handwerker und Soldaten aus. Die hoffnungslose Situation der Bauern, ihre harte Besteuerung in den Feudalgesellschaften, führte um 1520 zu Bauernaufständen und im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts dazu, daß viele Bauern ins Osmanische Reich abwanderten. Dort mußten sie keine Fronarbeit leisten, die Steuern waren klar definiert, die Ernte wurde nicht durch durchziehende Armeen zerstört und, was schwerer wog, sozialer Aufstieg war möglich. (Vgl. Pfeffermann, 46:12)
[...]
"Die Christen, die als Gefangene oder Deserteure ihrem Glauben abschworen
und zum Islam übertraten, zählten 'Nach Tausenden'." (Vgl. Delumeau, 85:399)
Geschichten wie die des kalabrischen Fischers Occhiali, der als Euldj Ali "König" von Algier wurde, machten die Runde.
Regelrechte "Fahnenflucht- Epidemien" bereiteten den Befehlshabern große Sorgen. (Vgl. ebda)
1456 sollte eine Flotte, von Papst Kalixt III nach Chios, Lesbos und Imbros gesandt, den Bewohnern/innen unverlangt Hilfe gegen die Türken bringen - die Inselbewohner/innen dachten nicht daran, sich gegen die Türken zu erheben.
Die Bewohner/innen von Lemnos gar, erhoben sich gegen ihren christlichen Herrn und unterwarfen sich freiwillig dem Sultan, dem sie auch noch bei der Vernichtung der päpstlichen Garnison halfen. (Vgl. Pfeffermann, 46:13f) 1481 liefen 1500 neapolitanische Soldaten zu den Türken über. [...]
Die soziale Anziehungskraft des Osmanischen Reiches gefährdete demzufolge nicht nur europäisches Territorium, sondern stellte vielmehr eine Bedrohung der sozialen Feudalordnung dar. Martin LUTHER war einer derjenigen, denen diese Gefahr bewußt war:
"Dazu, wie unser deutsches Volk ein wüstes, wildes Volk ist, ja schier halb Teufel, halb Menschen sind, begehren etliche der Türken Zukunft und Regiment."
"Weiter höre ich sagen, daß man findet in deutschen Landen, so des Türken und seines Regiments Zukunft begehren, als lieber unter dem Türken, denn unter dem Kaiser und Fürsten sein wollen. Mit solchen Leuten sollt` böse streiten sein wider den Türken."
In dieser Situation, in der sich Adel, Kaiser und Klerus durch das Osmanische Reich in ihrer Existenz bedroht sahen, ergriff die römische Kirche die Initiative und begann die öffentliche Meinung zu beeinflussen und zu manipulieren.
"Die öffentliche Meinung bestimmt das gedankliche Verhältnis des Einzelnen zu Ereignissen und zu Zuständen des öffentlichen Lebens (...)"
Der Kirche lag viel daran, dieses gedankliche Verhältnis zu steuern. In einem ersten Schritt wird deshalb die
Propaganda der römischen Kirche untersucht und analysiert werden. Daran anschließend steht das Verhältnis der Reformation gegenüber der "Türkenfrage" im Mittelpunkt. Schließlich wird in einem letzten Schritt auf ein fast vergessenes Kapitel der deutsch-türkischen Geschichte eingegangen werden, in dem wiederum die Kirche eine große Rolle spielte. ...
"
weiter in der Arbeit oben im Link.
Ich kann aber nochmal schauen, welche Gräuel wie z.B. Pfählung, usw. einen realen Hintergrund hatten oder auch nicht.
Achja, und natürlich kann dieses alles tatsächlich geschehen sein im Krieg, und trotzdem werden die Herrscher "Der Prächtige", "Der Große", "Der Löwe", "Das strategische Genie", usw. in der Geschichtsschreibung genannt. Das war so bei den meisten Herrschern und Feldherren ganz genauso und tat deren Ruhm (zumindest bis vor kurzer Zeit) keinen Abbruch.
:winke: