michaell
Aktives Mitglied
Meine gesamte Familie stammt aus dem Westen. Wir hatten keine Verwandtschaft in der DDR, und für mich war sie bis 1989 tatsächlich ein weit fremderes Land als England oder Frankreich. Meine einzige „Live“-Erfahrung mit dem Realsozialismus war eine Kursfahrt mit der Schule nach Prag 1987. Unsere tschechische Fremdenführerin sprach bemerkenswert offen über politische Fragen, überhaupt war es völlig offensichtlich, dass niemand auch nur den Anschein erweckte, die offiziellen Parolen noch ernst zu nehmen. Damals stand der 70. Jahrestag der Oktoberrevolution bevor, es gab allerhand Propagandakitsch in den Zeitschriftenläden zu erstehen. Als Souvenir kauften wir einige Postkarten und Plakate mit Leninkonterfeis und Hammer-und-Sichel-Motiven ein; die Verkäuferin lachte laut, als wir die Sachen bezahlen wollten. Es war ihr offenbar unbegreiflich, warum jemand dafür Geld ausgeben konnte.
Der offizielle Umtauschkurs von DM zu Kronen betrug 1:4. Bei Schwarzhändlern auf der Straße bekam man 1:12. Wegen des Zwangsumtausches musste aber eine gewisse Summe offiziell gewechselt werden. Als wir einem Polizisten mit Händen und Füßen gestikulierend klar machten, dass wir auf der Suche nach einer Bank zum Geldumtausch waren, schüttelte er nur lachend den Kopf und bot uns seinerseits 1:12 an. Wegen unserer Kleidung waren wir meist als Westler erkennbar und wurden regelmäßig in U-Bahnen und Bussen um Zigaretten angeschnorrt. Nachdem wir die einheimischen Kippen Marke „Sparta“ probiert hatten, wussten wir, warum.
Als die Mauer fiel, leistete ich meinen Zivildienst bei der Johanniter-Unfall-Hilfe. Auf einem ehemaligen Klinikgelände außerhalb der Stadt wurde ein Auffanglager für DDR-Übersiedler eingerichtet. Wir betrieben dort eine Sanitätsstation. In den ersten Wochen war die Hilfsbereitschaft der örtlichen Bevölkerung noch groß, bei uns türmten sich Spielsachen und Kleidung, die für die Übersiedler gespendet worden waren. Ich fuhr mit einem Kleinbus Kranke zu Ärzten und Kliniken, im Taumel der Maueröffnung boten Ärzte damals noch kostenlose Behandlung für DDR-Bürger an. Nach einigen Wochen fragten sie dann aber schon nach, wie das mit den Behandlungskosten geregelt werde.
Auch im Lager selbst gab es mit zunehmender Belegung Probleme. Bald kam es zu ersten Fällen von Lagerkoller, Schlägereien unter Betrunkenen. In Zimmern, die mit jungen Männern belegt waren, schmissen die Bewohner ihr Begrüßungsgeld zusammen, kauften sich einen Videorekorder und verbrachten die meiste Zeit damit, Pornos zu gucken und Bier zu saufen. Immer wieder erschienen Männer auf unserer Sanitätsstation und klagten über Kopfschmerzen. Bald begriffen wir, dass sie auf diese Weise nur an Aspirin kommen wollten, was in Verbindung mit Alkohol richtig gut dröhnte. An die üblichen Verdächtigen gaben wir deshalb nur noch Placebos aus. Eine psychisch kranke Frau versuchte sich aus einem Fenster zu stürzen und wurde in die Psychiatrie zwangseingewiesen, wogegen sie sich schreiend und um sich schlagend wehrte. Besoffene kurvten mit einem Trabbi in den See vor dem Lager.
Als nach der Währungs- Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 keine DDR-Übersiedler mehr aufgenommen wurden, zogen Aussiedler aus Osteuropa in das Lager ein. Besonders gern half ich beim Ausfüllen der Behördenanträge, weil ich dabei viele faszinierende Geschichten über den Familienhintergrund der Antragsteller erfahren konnte. Eine ältere Frau aus der Sowjetunion begann während unseres Gespräches plötzlich bitterlich zu weinen. Wegen meiner Sanitäteruniform hielt sie mich scheinbar für eine Art Milizbeamten. Sie konnte nicht begreifen, dass ein „Offizieller“ ganz normal und freundlich mit ihr sprach. Wenn sie in der Sowjetunion bei Behörden vorstellig werden musste, so erklärte sie, wurde sie wegen ihrer deutschen Abstammung stets schikaniert, gedemütigt und nicht selten als „verfluchte Faschistin“ beschimpft.
Schließlich wurde das Lager zu einer Unterkunft für Asylberwerber aus aller Welt. Ich hatte mittlerweile meinen Zivildienst beendet, jobbte noch einige Monate dort und ging dann zum Studium ins Ausland. Die Flüchtlinge, mit denen ich in dieser Zeit zu tun hatte, konfrontierten mich noch einmal mit einer ganz neuen Qualität des Elends. Trotzdem, ich möchte keinen Tag dort missen.
Der offizielle Umtauschkurs von DM zu Kronen betrug 1:4. Bei Schwarzhändlern auf der Straße bekam man 1:12. Wegen des Zwangsumtausches musste aber eine gewisse Summe offiziell gewechselt werden. Als wir einem Polizisten mit Händen und Füßen gestikulierend klar machten, dass wir auf der Suche nach einer Bank zum Geldumtausch waren, schüttelte er nur lachend den Kopf und bot uns seinerseits 1:12 an. Wegen unserer Kleidung waren wir meist als Westler erkennbar und wurden regelmäßig in U-Bahnen und Bussen um Zigaretten angeschnorrt. Nachdem wir die einheimischen Kippen Marke „Sparta“ probiert hatten, wussten wir, warum.
Als die Mauer fiel, leistete ich meinen Zivildienst bei der Johanniter-Unfall-Hilfe. Auf einem ehemaligen Klinikgelände außerhalb der Stadt wurde ein Auffanglager für DDR-Übersiedler eingerichtet. Wir betrieben dort eine Sanitätsstation. In den ersten Wochen war die Hilfsbereitschaft der örtlichen Bevölkerung noch groß, bei uns türmten sich Spielsachen und Kleidung, die für die Übersiedler gespendet worden waren. Ich fuhr mit einem Kleinbus Kranke zu Ärzten und Kliniken, im Taumel der Maueröffnung boten Ärzte damals noch kostenlose Behandlung für DDR-Bürger an. Nach einigen Wochen fragten sie dann aber schon nach, wie das mit den Behandlungskosten geregelt werde.
Auch im Lager selbst gab es mit zunehmender Belegung Probleme. Bald kam es zu ersten Fällen von Lagerkoller, Schlägereien unter Betrunkenen. In Zimmern, die mit jungen Männern belegt waren, schmissen die Bewohner ihr Begrüßungsgeld zusammen, kauften sich einen Videorekorder und verbrachten die meiste Zeit damit, Pornos zu gucken und Bier zu saufen. Immer wieder erschienen Männer auf unserer Sanitätsstation und klagten über Kopfschmerzen. Bald begriffen wir, dass sie auf diese Weise nur an Aspirin kommen wollten, was in Verbindung mit Alkohol richtig gut dröhnte. An die üblichen Verdächtigen gaben wir deshalb nur noch Placebos aus. Eine psychisch kranke Frau versuchte sich aus einem Fenster zu stürzen und wurde in die Psychiatrie zwangseingewiesen, wogegen sie sich schreiend und um sich schlagend wehrte. Besoffene kurvten mit einem Trabbi in den See vor dem Lager.
Als nach der Währungs- Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 keine DDR-Übersiedler mehr aufgenommen wurden, zogen Aussiedler aus Osteuropa in das Lager ein. Besonders gern half ich beim Ausfüllen der Behördenanträge, weil ich dabei viele faszinierende Geschichten über den Familienhintergrund der Antragsteller erfahren konnte. Eine ältere Frau aus der Sowjetunion begann während unseres Gespräches plötzlich bitterlich zu weinen. Wegen meiner Sanitäteruniform hielt sie mich scheinbar für eine Art Milizbeamten. Sie konnte nicht begreifen, dass ein „Offizieller“ ganz normal und freundlich mit ihr sprach. Wenn sie in der Sowjetunion bei Behörden vorstellig werden musste, so erklärte sie, wurde sie wegen ihrer deutschen Abstammung stets schikaniert, gedemütigt und nicht selten als „verfluchte Faschistin“ beschimpft.
Schließlich wurde das Lager zu einer Unterkunft für Asylberwerber aus aller Welt. Ich hatte mittlerweile meinen Zivildienst beendet, jobbte noch einige Monate dort und ging dann zum Studium ins Ausland. Die Flüchtlinge, mit denen ich in dieser Zeit zu tun hatte, konfrontierten mich noch einmal mit einer ganz neuen Qualität des Elends. Trotzdem, ich möchte keinen Tag dort missen.
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