Es lohnt vielleicht, einen Blick auf die Entwicklung dieser Diskussion zu werfen. Das möchte ich mal versuchen, abseits der "Aktualität".
Vorab aber: das ist keine Frage des Völkerrechts, sondern schon aufgrund des staatspolitischen Kontextes eher eine rechtsphilosophische bzw. rechtsethische oder damit rechtspolitische Frage der Qualifikation, nicht eine von rechtlichen "Tatbeständen".
1997 flammte die Diskussion erneut auf, in Folge einer Rede des Ministerpräsidenten Höppner auf dem rechtspolitischen Kongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung:
"Dass in der DDR Unrecht geschehen ist, wird niemand bezweifeln. Aber das reicht nicht aus, diesen Staat zu charakterisieren. Wer wollte unterstellen, daß es in der ehemaligen Bundesrepublik kein Unrecht gegeben hätte? Ab wieviel Unrecht ist ein Staat ein Unrechtsstaat? Was wäre eigentlich, wenn zur Einschätzung dieser Frage in jedem Staat alle Dokumente des Geheimdienstes öffentlich zugänglich gemacht werden müßten? Wenn alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, wäre dies doch in Deutschland keine abwegige Frage. Nicht umsonst aber werden alle geheimen Dokumente eines Staates jahrzehntelang unter Verschluß gehalten. Welche Maßstäbe also legen wir an, einen Staat und seine handelnden Personen zu beurteilen?"
Die Replik des Rechtswissenschaftlers Wassermann dazu:
"Der SED–Staat beruhte nach eigenem Eingeständnis auf der Zerschlagung des als “bürgerlich” apostrophierten Rechtsstaats und war – auch nach seinem Selbstverständnis – dessen strukturelle Verneinung, also der Gegenbegriff zum Rechtsstaat, nicht etwa – wie manche meinen – ein “Vorrechtsstaat”, der auf dem Wege war, ein Rechtsstaat zu werden. Unrecht geschah im SED–Staat systematisch im Zeichen des Klassenkampfes, in dem der Staat und sein Recht Instrumente der SED waren, um die Bourgeoisie zu liquidieren und den “Sozialismus” aufzubauen, zu festigen und weiterzuentwickeln. Das war keine akademische Theorie, sondern die brutale Praxis eines Regimes, das den Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes zu gehorchen glaubte.
Gesetze galten nicht unverbrüchlich, sondern konnten beiseitegeschoben werden, wenn sie der Staats– und Parteiführung nicht paßten. Sendler spricht zu Recht davon, daß die DDR ein System gewesen sei, das “aufs Recht gepfiffen habe” (NJ 1991, 380). Stets galt das, was man den Vorbehalt des Politischen gegenüber dem Recht nennen muß.
Den Angehörigen der Staatsorgane – es gab keine unabhängigen Richter, keine Gewaltenteilung, keine Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, keine Kommunalverwaltung, nur einen einheitlichen Staatsapparat – wurde eingehämmert, nicht objektiv, sondern vom Klassenstandpunkt aus an die Aufgaben und Probleme heranzugehen. Parteilichkeit und sozialistische Gesetzlichkeit waren keine Gegensätze, sondern bildeten eine dialektische Einheit. Der Strafjustiz z.B. wurde ausdrücklich zur Pflicht gemacht, zum Aufbau und zur Festigung des Sozialismus einen “unversöhnlichen, schonungslosen Kampf gegen Klassenfeinde" und politisch Mißliebige zu führen. Aber der Vorbehalt des Politischen galt nicht nur im Strafrecht, sondern auch auf anderen Rechtsgebieten, etwa dem Zivil– und dem Arbeitsrecht. Das sozialistische Arbeitsrecht z.B. galt faktisch nicht, wenn politische Gründe im Spiel waren, etwa weil ein Arbeitnehmer aus der DDR ausreisen wollte. Dann wurde Repression durch eine – an sich unzulässige – Kündigung ausgeübt. Nicht zu vergessen ist auch die Repression durch die berüchtigten Stasi–Zersetzungsmethoden. Die Spätphasen der DDR waren, was ein Ministerpräsident wissen muß, durch ein exorbitantes, unrechtmäßiges Überwachungssystem gekennzeichnet, das an die Stelle des offenen Terrors getreten war."
(NJW 1997, S. 2152)
Wassermann befürchtete außerdem, dass die Diskussion "spaltet". Bezeichnungen als "Unrechtsregime" oder "Unrechtsstaat" werden einerseits als Totschlagargument gekennzeichnet, provozieren "Abwehrhaltungen", während Rechtsethiker die Diskussion bemühten, um "über diesen Staat nachzudenken".
Konträr dazu ist übrigens interessant, wie die Justiz des Rechtsstaates
BRD mit der Verunglimpfung als "Unrechtsstaat" zB in Wahlkampfreden umgeht. Schutzgut nach StGB ist nur das Ansehen der BRD selbst, nicht seiner Staatsorgane oder der Verwaltung.
(BGH, Beschluß vom 7. 2. 2002 - 3 StR 446/01 - Beschimpfung des Staates).
Auch das BVerfG hat der Hinweis auf "Unrechtstaat" in einem Fall der Rehabilitation von Fahnenflucht nicht beeindruckt: "Die Ansicht, es sei nicht haltbar, dass einem NVA-Soldaten Ausreisefreiheit erst nach der Erfüllung seiner Pflichten für den Unrechtsstaat zugestanden werde, lässt außer Acht, dass der DDR als souveränem Staat das Recht zukam, eine Armee zu bilden und deren Funktionsfähigkeit auch strafrechtlich abzusichern".
Wenn auch kein "Tatbestand", so ist die Frage am Rande dort von Bedeutung, wenn über die Tätigkeit in der DDR gestritten wurde: einer Strafrichterin in der DDR wurde die Anwaltszulassung in der BRD verweigert:
"Die Ast. trifft an ihren richterlichen Maßnahmen der politischen Strafverfolgung auch ein persönliches Verschulden. Sie hat sich dem Unrechtsstaat der DDR über viele Jahre hinweg freiwillig als Richterin zur Verfügung gestellt. Niemand hat sie gezwungen, Richterin zu werden, und niemand hat sie gezwungen, an der Verfolgung politischer Straftaten mitzuwirken. Bei gehöriger Anspannung ihres Gewissens hätte sie erkennen können, daß sie die gesetzlichen Tatbestände des politischen Strafrechts in exzessiver Weise anwendet und – auch unter Zugrundelegung der gesetzlichen Strafrahmen – unverhältnismäßig hohe Strafen gegen ausreisewillige Angekl. verhängt. Sie hätte auch erkennen können, daß die unverhältnismäßig harte Verfolgung von Menschen, die lediglich das Gebiet der DDR verlassen wollten, gegen deren Menschenrechte verstieß. Die Menschenrechte waren auch in der DDR nicht unbekannt. Die DDR ist dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 ... im Jahre 1974 beigetreten und hat ihn im DDR–Gesetzblatt veröffentlicht ...
Art. 12 II IPBPR lautet: “Jedermann steht es frei, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen." Auch ein Richter der DDR konnte somit erkennen, daß die Verfolgung von ausreisewilligen Menschen mit hohen Freiheitsstrafen gegen die international anerkannten Menschenrechte verstieß."
Die Qualifikation der DDR als "Unrechtsregime" zieht sich - soweit relevant - zwischen diesen beiden Aspekten durch eine Vielzahl von Urteilen. Die Qualifikation ist dabei unumstritten, auch wenn sie wie oben in manchen Rechtsfragen nicht als relevant angesehen wird.
Dass bereits die PDS gegen die Verwendung des Begriffes Sturm lief, ist ebenfalls bekannt. Bisky/Heuer/Schumann gaben 1994 sogar eine Aufsatzsammlung mit dem Titel "Unrechtsstaat?"
in dieser politischen Debatte, sozusagen dem Streit um die geschichtliche Deutungshoheit heraus.
Hier muss man eben die Ebenen des politischen Schlagabtausches und die einer staatsrechtlichen (nicht: völkerrechtlichen!) und rechtshistorischen Debatte auseinanderhalten.
Wie man aber an den Beiträgen oben sieht, ist die
politische Debatte ebenso alt wie das wiedervereinigte Deutschland. Eine staatsrechtliche, rechtsethische oder oder rechtshistorische Debatte über die Qualifikation des Unrechtsregimes gab es indes nicht. Da lag der Fall klar.*
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EDIT: *
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich das absehbar ändert. Die politische Diskussion wird es wohl aber auch beim 50-jährigen Jubiläum noch geben.