Verfolgungen der Zigeuner in Preußen

Dion

Aktives Mitglied
Während @Sepiola über "Katzentötungen" resoniert – der Anlass dazu gab ihm die Diskussion über die spanische Inquisition –, hat mich die gleiche Diskussion veranlasst, mich näher mit Vertreibungen in Europa zu befassen. Da stieß ich u.a. auf diese Notiz*:

- Edict, daß die Zigeuner, so im Lande betreten werden und 18. Jahr und darüber alt sein ohne Gnade mit dem Galgen bestraft und die Kinder in Waisen-Häuser gebracht werden sollen, den 5. Oktober 1725.

Ich kann eigentlich nicht glauben, dass der König Willhelm I. von Preußen verfügt hatte, erwachsene Zigeuner beim Betreten des Landes – also, ohne dass sie etwas Kriminelles getan hätten –, gleich aufzuhängen. Aber dieses fast allwissende Forum wird sicher eine Antwort darauf wissen, d.h. mir sagen, ob das wahr ist.

* Ich bin extra nicht Wikipedia gefolgt, weil die diesbezüglich nur einen Link zu einer Zeitung angab, sondern habe eine seriöse Quelle gesucht. Dass ich hier vorsichtig vorging, war auch einer Diskussion im Forum geschuldet, in der ein Diskutant meinte, nicht erst Napoleon habe die Menschenrechte nach Europa gebracht, Preußen habe diese schon vorher praktiziert.
 
"So im Lande betreten werden"? Ist das vielleicht eine falsche Transkription von "so im Lande betroffen werden"?
 
Dass ich hier vorsichtig vorging, war auch einer Diskussion im Forum geschuldet, in der ein Diskutant meinte, nicht erst Napoleon habe die Menschenrechte nach Europa gebracht, Preußen habe diese schon vorher praktiziert.
Es wäre außerordentlich schön, wenn du mal einzigen Tag auskämst, ohne deinen Mitdiskutanten das Wort im Munde umzudrehen.

Es war von der Aufklärung die Rede, nicht von Menschenrechten.

Was Napoléon wiederrum von Menschenrechten in Europa hielt......... ich denke, ich werde den Herzog von Enghien hier nicht als Kronzeugen heranziehen müssen?
Die von Napolén in andere Teile Europas geführten Armeen traten regelmäßig das Konzept der Menschenrechte, im Hinblick auf die Bevölkerung der besetzten Gebiete mit Füßen.
 
Ich hätte etwas gegen den Begriff „Zigeuner“.
Hier im Geschichtsforum halte ich die Verwendung diesen Begriff für unakzeptabel.
Es wäre begrüßenswert man ändert dies in der Überschrift des Threads.
Sinti und Roma sagt man heute wohl.
 
Ich verstehe diesen Wunsch, @Ralf.M, habe selbst gezögert, das hinzuschreiben. Aber 1. geht es in diesem um das Edikt des König Willhelm I. von Preußen, in dem eben das Wort Zigeuner steht, und 2. sind Sinti und Roma nur 2 ethnische Gruppen – es gibt viele andere, die sich anders nennen und demzufolge von Sinti und Roma nicht vertreten fühlen. Siehe bitte dazu auch Wikipedia-Artikel Zigeuner.
 
Ich sehe gerade, dass ich den Namen des Preußenkönigs falsch geschrieben habe: Gemeint ist Friedrich Wilhelm I. (1688-1740). Sorry.

Ist das vielleicht eine falsche Transkription von "so im Lande betroffen werden"?
In: Berlinische Monatsschrift, Bd. 21, 1793, S. 110 steht in der Tat "betroffen werden", aber das tut nichts zu Sache, denn sie werden aufgehängt selbst wenn sie Pässe vorweisen können.
 

Anhänge

  • friedrich-wilhelm-1.jpg
    friedrich-wilhelm-1.jpg
    94,1 KB · Aufrufe: 37
Zuletzt bearbeitet:
Ich hätte etwas gegen den Begriff „Zigeuner“.
Hier im Geschichtsforum halte ich die Verwendung diesen Begriff für unakzeptabel.
Es wäre begrüßenswert man ändert dies in der Überschrift des Threads.
Sinti und Roma sagt man heute wohl.
Einspruch, Euer Ehren. Was man heute sagt, ist für den gegebenen Sachverhalt gleichgültig. @Dion hat völlig Recht: Erstens handelt es sich um ein historisches Edikt, das sich nun mal gegen "Zigeuner" richtete, zweitens ist der Begriff "Zigeuner" im historischen Kontext nicht deckungsgleich mit den Sinti und Roma.
 
Ich sehe gerade, dass ich den Namen des Preußenkönigs falsch geschrieben habe: Gemeint ist Friedrich Wilhelm I. (1688-1740). Sorry.
Wenn du schon dabei bist Fehler zu korrigieren, war der Mann übrigens nicht "König von Preußen", wie du oben irrtümlich geschrieben hast, sondern "König in Preußen".

Den Titel eines Königs von Preußen nahm erst Friedrich II. 1772 im Zusammenhang mit der 1. Polnischen Teilung und im Gefolge der Annexion Westpreußens (hist. "Preußen königlichen Anteils"/"königliches Preußen", allerdings ausnehmlich Thorns und Danzigs) und des historischen Bistums Ermland an.
 
Es wäre außerordentlich schön, wenn du mal einzigen Tag auskämst, ohne deinen Mitdiskutanten das Wort im Munde umzudrehen.

Das Spiel wiederholt sich, ursprünglich war es im Thread "Wie wichtig war das Christentum für die Entstehung heutiger Moralvorstellungen?"

die Aufklärung ist mit Napoleon über Europa geschwappt und war trotz der Restauration (Wiener Kongress) nicht mehr wegzubekommen.

Die Aufklärung ist mit Napoléon über Europa geschwappt..............Junge Junge.

Die Aufklärung als Gesamtphänomen war bereits 100 Jahre vor Napoléon vorhanden und nicht nur in Westeuropa. Selbst in Gebieten, die man heute eher zu Osteuropa zählen würde, wie Ostpreußen (Kant) oder Lettland/Riga (Herder) wirkten Persönlichkeiten, die der Aufklärung durchaus zuzuordnen sind, deutlich vor Napoléon.

Danach hat sich @Dion in diesem Thread nicht mehr geäußert, etwas später machte er ein einem anderen Thread weiter:
Diese Rechte wurden während der napoleonischen Herrschaft auch in den besetzten Ländern Europas wirksam, von wo sie die Restauration der alten Ordnung nicht wieder ganz tilgen konnte. (Das wird von @Shinigami zwar in Abrede gestellt, ist aber trotzdem richtig).
Von Shinigami bestritten wurde deine Behauptung, die Aufklärung sei mit Napoléon "über Europa geschwappt".
Das ist und bleibt inhaltlich falsch, die Aufklärung begann 100 Jahre vor Napoléon in Europa Fuß zu fassen.
Soweit ich sehe, hat @Dion auch auf diese Richtigstellung nicht reagiert, jetzt haben wir den dritten Thread, wo weitergemacht wird.


An einen Textschnipsel (auch wenn er mit diesem Thema in keinem Zusammenhang steht) möchte ich bei dieser Gelegenheit doch anknüpfen:

Ein guter Teil der Monarchen am Ende des 18. Jahrhunderts verstand die eigene Herrschaft explizit als System des aufgeklärten Absolutismus.
Heißt sie waren durchaus bereit dass in ihr Heerrschaftsverständnis zu inkorporiern.

Österreichische Verordnungen in den 1720er Jahren sollen ähnlich rabiat gewesen sein (online habe ich die Originaltexte nicht gefunden):

"1720 bestimmte eine kaiserliche Verordnung Karls VI., dass die "Zigeuner und jegliches liederliche Gesindel in Österreich" ausgerottet werden sollten.

1725 erließ Kaiser Karl VI. eine Verordnung, die besagte, dass Rom_nija gefangen genommen werden sollten; diejenigen, die Straftaten begangen hätten, sollten hingerichtet werden, die anderen aber mit einem Brandzeichen am Rücken gekennzeichnet und, unter Androhung der Enthauptung bei einer Rückkehr, abgeschoben werden. Dies wurde v.a. in den österreichischen Gebieten vollzogen.

1726 ordnete Karl VI. an, dass alle männlichen Roma hinzurichten sind und den Frauen sowie Kindern unter 18 Jahren ein Ohr abzuschneiden ist."

Unter Maria Theresia und Joseph II. schwenkte die Politik um, Ansiedlung statt Ausweisung hieß nun das Motto. Zur Ansiedlung gehörte allerdings die zwangsweise Assimilation, und da waren die Methoden durchaus rigoros.
Auch die Aufklärung hatte für fahrendes Volk, "Betteljuden" usw. nichts übrig.
Die Methode, Familien auseinanderzureißen, wurde übrigens in der Schweiz noch bis in die 1970er Jahre praktiziert: Kinder der Landstrasse – Wikipedia
 
Zuletzt bearbeitet:
Dazu noch ein Nachtrag:
Zu den vielen Facetten des aufgeklärten Absolutismus der beiden mitteleuropäischen Großmächte Preußen und Österreich gehörte das Bestreben, alle Untertanen zu nützlichen und staatstragenden Gliedern der Gesellschaft zu machen. Arbeit und Erziehung hatten dabei zentrale Bedeutung. „Müßiggängerische“ Menschen – und als solche wurden auch die durch die Länder getriebenen „Zigeuner“ angesehen – galten als vergeudetes Potenzial. Vollständige Assimilation war das Ziel staatlicher „Zigeunerpolitik“. Äußerst repressiv ging dabei zunächst Kaiserin Maria Theresia von Österreich vor: Sie ließ Roma zwangsweise in Siedlungen im Burgenland ansiedeln, verbot Gewerbetätigkeit, Sprache und Pflege kultureller Traditionen und betrieb die Zerschlagung der familiären Strukturen durch Wegnahme der Kinder, um sie „christlich“ erziehen zu lassen und später dem Militärdienst zuzuführen. Friedrich II. von Preußen orientierte sich daran. In Friedrichslohra sollten Sinti in ähnlicher Weise zwangsangesiedelt werden. Vor allem der staatliche Kinderraub ließ die Maßnahmen jedoch in Österreich wie in Preußen scheitern, da die Betroffenen sich zur Wehr setzten oder flüchteten.
 
Das Spiel wiederholt sich, ursprünglich war es im Thread "Wie wichtig war das Christentum für die Entstehung heutiger Moralvorstellungen?"
Überrascht das noch in irgendeiner Form?

Auch die Aufklärung hatte für fahrendes Volk, "Betteljuden" usw. nichts übrig.
Ehrlich gesagt überrascht mich das nicht besonders.

Wenn es den Kollegen Dion überrascht, wie er schreibt, dürfte das daran liegen, dass er die Aufklärung zu etwas stilisiert, was sie nicht war, nämlich zu einer Art Deus ex Machina, die über Nacht die Zivilisation gebracht hätte.

Der Anspruch der Aufklärung war vor allem die Rationalisierung der Gesellschaft, nicht nur von Seiten der Herrscher her.

Und innerhalb der Aufklärung wirkmächte Konzepte, wie der "Utilitarismus" oder das von Rousseau vertretene Modell der "Volonté Générale" haben/hatten einen unverkennbaren stark kollektivistischen Einschlag.


Das individuelle Rechte und Freiheiten nicht immer unbedingt im Einklang mit dem stehen, was irgendjemand für den maximalen und daher anzustrebenden Beitrag zum Gemeinwohl hält, dafür gibt es denke ich in der Geschichte genügend Beispiele.

Den Beruf auf das ausfklärerische Konzept des Gemeinwohls und den größtmöglichen Nutzen der Gesellschaft hat im vergangenen Jahrhundert manches nicht besonders menschenfreundliche Regime im Mund geführt.

Mit dem Gemeinwohl des Staates oder der Gesellschaft lässt sich vieles rechtfertigen und in diesem Sinne könnte man durchaus behaupten, dass der Umstand, dass die gefürchtetste Institution, die die französische Revolution hervorbrachte "Wohlfahrtsausschuss" hieß und den Anspruch des Gemeinwohls mehr oder weniger im Namen führte, durchaus kein Zufall ist.


Rabiate Assimilierungsmaßnahmen, kennen wir auch von anderen Gesellschaftenaus dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, die sich die "Aufklärung" auf die Fahne gechrieben hatten, man denke da z.B. an die US-Amerikanische Indianerpolitik.

Natürlich bekannte man sich im Sinne der Aufklärung zum Rationalen und einigte sich sogar auf verbriefte individuelle Grundrechte, war sich aber ohne weitere weitgehend darin einige, dass im Sinne des Allgemeinwohls die indigenen Gruppen zu "zvilisieren" seien und im Sinne des "Allgemeinwohls" auch gleich ihren Grund und Boden gewaltsam umzuverteilen, mitunter mit der Argumentation, dass sie diesen ja nicht anständig bewirtschafteten und damit dessen Potential verschwendeten, was im Sinne der Allgemeinheit geändert werden müsse.

Es gäbe auch genug andere Beispiele.


Ich persönlich wundere mich eigentlich eher darüber, dass die "Aufklärung" noch immer in dem populären Ruf steht, besonders menschenfreundlich gewesen zu sein. Sie war rationalistisch.
 
Auch die Aufklärung hatte für fahrendes Volk, "Betteljuden" usw. nichts übrig.
Ja, das setzte sich fort – immerhin etwas humaner als zuvor. Man sieht, die Aufklärung hat schon was gebracht; bis die Nazis kamen.

Es ist mir nicht verborgen geblieben, dass es von Anfang an, also seit deren Eintritt in die europäische Geschichte, einen Antiziganismus gab, mir war nur nicht die Rigorosität bekannt, mit der dieser staatlicherseits betrieben wurde. Und noch im Jahr 1956 entschied der Bundesgerichtshof, dass einem "Zigeunermischling" keine Entschädigung zustünde für seine Zwangsumsiedlung im Jahre 1940, denn die von den Nationalsozialisten betriebene Ausgrenzungs- und Umsiedlungspolitik der „Zigeuner“ sei nicht „rassisch“ motiviert gewesen, sondern eine damals „übliche polizeiliche Präventivmaßnahme“ zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“. 2015 distanzierten sich einige Richter am BGH von diesem Urteil.

Übrigens: Bis 1970 wurden "Zigeuner" in Bayern polizeilich erfasst und überwacht, bis das Bundesverfassungsgericht diese Praxis als verfassungswidrig einstufte.

Aber Rassismus blieb – Zitat: Sinti und Roma gehören laut einer Studie zu der unbeliebtesten Minderheit in Deutschland. Rund ein Drittel aller Deutschen empfindet eine direkte Nachbarschaft mit Sinti und Roma als „eher oder sehr unangenehm“ – und alte Vorurteile prägen das Bild der Deutschen.

Das ist nah an dem, was 2016 der damalige stellvertretende AfD-Vorsitzender Gauland in Bezug auf den Fußballnationalspieler Boateng sagte.

Es gibt nach wie vor Ressentiments gegenüber Menschen, die nichts sesshaft sind und im Wohnwägen umherfahren. Wobei das natürlich nicht der eigentliche Grund ist, denn gegenüber einem Weißen*, der das gleiche tut, wird man nicht mit solchen Vorurteilen kommen.

Jedenfalls danke ich dir, @Sepiola, für den Link auf den Originaltext des Edikts. Und natürlich auch für die Hinweise auf Untaten der anderen Herrscher jener Zeit.

Im Edikt lese ich u.a., dass sich in Grenzorten des Landes sog. "Zigeuner-Galgen" befanden, wohl um "Zigeuner" nach der Ergreifung gleich exekutieren zu können. Sie wurden ja für "vogelfrei" erklärt, d.h. jeder konnte sie töten oder sonst was mit ihnen machen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Außerdem lese ich, dass sie ev. vorher schon durch "Brand-Marcken" gekennzeichnet worden sind, d.h. sie wurden wie Diebe oder Prostituierte gebrandmarkt. Weiß jemand, wie diese Brandzeichen aussahen? Ich konnte nichts darüber finden.

Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass "Zigeuner" damals noch weniger Rechte hatten als Juden. Und gleichzeitig ist das nicht so bekannt – oder zumindest mir war das nicht bekannt.


* Ein ehemaliger schreibender Kollege hat nach der Pensionierung seine Wohnung aufgelöst und sich ein Wohnmobil gekauft. Er kurvte dann bis zu seinem Tod in ganz Europa rum, verbrachte Winter immer irgendwo im Süden, meistens in Sizilien.

Es gibt also Fahrende und Fahrende. Wenn die Hautfarbe, Sprache, Kleidung und Verhalten nicht dem entsprechen, was für einen Europäer als typisch gilt, dann wird man misstraurisch und glaubt gern jedem Gerücht, das das Vorurteil zu bestätigen scheint.
 
Ja, das setzte sich fort – immerhin etwas humaner als zuvor. Man sieht, die Aufklärung hat schon was gebracht;
... und das schon Jahrzehnte vor Napoleon...

Von Friedrich dem Großen gibt es hier ein "Erneuertes Edict, wider die Ziegeuner, Bettel-Juden, Bettler und anders herumlaufendes herrnloses Gesindel in Ostfriesland" vom 30. November 1774:
"Ziegeuner", die glaubhaft machen konnten, dass sie sich schon mehrere Jahre lang "im Lande redlich genähret" hatten, blieben unbehelligt, ansonsten drohte ein halbes Jahr Zuchthausarbeit. Wer sich unerlaubt im Land aufhielt, bekam zwei Jahre Festungsarbeit aufgebrummt, im Wiederholungsfall vier Jahre, beim dritten Mal lebenslänglich.

 
Es gibt nach wie vor Ressentiments gegenüber Menschen, die nichts sesshaft sind und im Wohnwägen umherfahren. Wobei das natürlich nicht der eigentliche Grund ist, denn gegenüber einem Weißen*, der das gleiche tut, wird man nicht mit solchen Vorurteilen kommen.

Ich weiß nicht, ob du ab und an mal in NRW unterwegs bist.

Was der hiesige Volksmund mitunter so über niederländische Wohnwagenbesitzer, die mit gelben Numernschildern in Richtung Sauerland touren munkelt, ist mitunter nicht so gannz frei von gewissen Ressentiments.

Was nun aber das Umherfahren mit Wohnwagen mit dem 18. Jahrhundert zu schaffen haben soll, weißt du allein.

Das "unbehauste" Gruppen, gerade in vormodernen Gesellschaften sehr häufig in üblem Ruf standen, lässt sich an anderen Beispielen festmachen:

Z.B. waren Ansehen und Rechtsstatus "fahrender" Spielleute im Mittelalter häufig eher schlecht, auch das Bettler die irgendwo von auswärts kamen, aus den Städten mitunter vertrieben wurden kam im gewisser Regelmäßigkeit vor.
Ein anderes Beispiel wäre der häufig eher zweifelhafte Ruf von Seeleuten.

Das dürfte aber weniger mit irgendeinem Rassismus zu tun gehabt haben als mit zwei wesentlich simpleren Erwägungen:

1. Wer keinen festen Wohnsitz hat, verfügt in der Regel (wir erinnern uns, wir reden von einer Zeit, in der über 90% der Bevölkerung Subsistenzbauern oder sesshafte Handwerker sind), verfügt in der Regel über keine gesicherte Quelle zum Bestreiten des eigenen Lebenunterhalts und wer darüber icht verfügt, muss sich eben irgendwie anders, womöglich mit nicht legalen Mitteln, durchschlagen.
2. Wer keinen festen Wohnsitz hat ist häufig nicht greifbar und kann sich relativ einfach der Verantwortung für alles, was er so anstellt entziehen, was möglicherweise die Hemmschwelle gegen die gesellschaftlichen Spielregeln zu verstoßen herabsetzt.

Denken wir plakativ an den Seemann, der vor Ort irgendjemanden schwängert, sich danach in irgendeine andere Hafenstadt flüchtet und nie wieder blicken lässt um dafür nicht in der Verantwortung zu sein.
Auch die Vorstellung dass jemand der ohne Behausung und feste berufliche Perspektive umherzieht zu einem gewissen Teil von Mundraub, Wilderei und ähnlichem lebt, ist in einer Gesellschaft, die kein soziales Netz und keine Sozialleistungen kannte, nicht so ganz von der Hand zu weisen und hat nicht primär etwas mit Rassismus zu tun.
Selbst die prekären Formen von Unterstützung, die es gab, wie Allmosen oder lokale Stiftungen, später die aufkommenden Arbeitshäuser, die Armen eine gewisse (wenn meist auch kaum erträgliche) Lebensperspektive boten, waren sehr häufig nur den Armen der eigenen Gemeinde zugänglich, da es häufig noch eine gewisse Einsicht gab, für die Bewohner der eigenen Gemeinde irgendwie mit verantwortlich zu sein, aber durchaus keine Einsicht, warum man auch noch Auswärtige (und das bedeutet von Außerhalb der Gemeinde, nicht etwa "Ausländer" im heutigen Sinne des Wortes) mit durchfüttern sollte.
Das ist gemessen an dem Umstand, dass es sich um eine agrarische Mangelgesellschaft handelte, deren Mitglieder sich im permanenten Existenzkampf befanden, weil periodisch immer mal wieder Missernten auftraten, die zu Hunger oder zumindest schwer erträglichen Erhöhrungen der Lebensmittelpreise führten, auch bis zu einem gewissen Grad durchaus verständlich.

Das mit jemandem zu vergleichen, der in der heutigen Zeit seinen Ruhestand damit verbringt per Wohnwagen oder Wohnmobil durch die Gegend zu touren, ohne dabei irgendwem zur Last zu fallen ist dann doch eine ziemlich arge Verzerrung.
Der Vergleich hinkt an allen Ecken und Enden.

Selbst in Fällen, wo der in der Studie häufig gemutmaßte Missbrauch von Sozialleistungen gegeben wäre, wäre die Situation nicht vergleichbar, weil wir heute in einer industriellen Überflussgesellschaft leben, in der Missbrauch von Sozialleistungen allenfalls dazu führt, dass die Besteuerung einen Tick höher angesetzt sein könnte, als sie eventuell sein müsste.
Das mag für den Einzelnen ärgerlich sein, letztendlich ist es aber nicht bedrohlich.
Das sah in einer agrarischen Mangelgesellschaft, die (frühes 18. jahrhundert) noch periodisch mit den alteuropäischen Hungerkatastrophen konfrontiert war, anders aus.
Wenn da durch umherziehende Gruppen, die in Ermangelung anderer Perspektive oder sozialer Unterstützungsmöglichkeiten mindestens teilweise von Diebstählen lebten und sich an der Ernte, dem Saatgetreide oder dem Vieh der Subsistenzbauern vergriff, konnte das für diese eine ausgewachsene wirtschaftliche Katastrophe werden, sollte das Wetter in der nächsten zeit unerfreulich sein und das nächste Jahr die Verluste nicht wieder herinbringen, oder aber der Grundherr sich in Sachen Abgaben wegen des Schadens uneinsichtig zeigen und von den gewohnten Forderungen nicht abrücken.
Insofern viele Abgaben zu dieser Zeit noch in Naturalien gelistet wurden, konnte Diebstahl an bäuerlichem Eigentum, Nahrungsmitteln etc. auch als direkter Griff in die Staatskasse verstanden werden, im Besoneren, sollten die Herrschaftlichen Domänen betroffen gewesen sein.
 
Zuletzt bearbeitet:
Bei den „Zigeunern“ kam als weiteres „Problem“ hinzu, dass sie außerhalb der etablierten sozialen Ordnung standen und sich nicht an deren Spielregeln hielten. In einer Gesellschaft mit relativ festen sozialen Schranken und vielfachen Normen, an die sich die Masse der Bevölkerung zu halten hatte (durch die sie aber zum Teil auch geschützt wurde), konnte das schnell zum Problem werden (bzw. von den Einheimischen als solches wahrgenommen werden).
Z.B. übten sie vielfach handwerkliche Tätigkeiten aus, ohne den entsprechenden Zünften anzugehören und ohne sich an deren Reglements zu halten; dadurch konnten sie die etablierten Handwerker vielfach zumindest preislich unterbieten (durch ihre in der halben bekannten Welt gesammelten Erfahrungen mitunter vielleicht auch qualitativ überbieten). (Heute würde man sagen, sie „pfuschten“ bzw. betrieben „Schwarzarbeit“; man könnte auch sagen, sie betrieben „unlauteren Wettbewerb“.) Ein derartiges Verhalten wird auch heutzutage zwar von vielen Kunden geschätzt, vom Staat und den eingesessenen Gewerbetreibenden aber nicht gerade gerne gesehen - egal ob es ein Einheimischer oder ein Fremder ausübt.
Die Bauern, die sich ihrer Dienste bedienten, mögen profitiert haben, die eingesessenen Handwerker (und diejenigen, die in Form von deren Abgaben profitierten) aber nicht. Deren Ressentiments muss man also nicht zwingend mit „Rassismus“ erklären.

Also auch in dieser Hinsicht hinkt der Vergleich mit reisenden Pensionisten, die nicht als Störung und Konkurrenz wahrgenommen werden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Gemeint ist Friedrich Wilhelm I. (1688-1740).
Berlinische Monatsschrift, Bd. 21, 1793
Österreichische Verordnungen in den 1720er Jahren sollen ähnlich rabiat gewesen sein
1726 ordnete Karl VI. an,
Die vier Zitate beziehen sich allesamt auf das 18. Jh.

Der Faden ist im Bereich "Zeitalter der Nationalstaaten" eröffnet worden - ich hätte zunächst eher ans 19. Jh. gedacht.

Die grimmen preuss. und österr. Verordnungen aus dem 18. Jh. scheinen im 19. Jh. etwas in Vergessenheit geraten zu sein? Jedenfalls beginnt nicht nur in der lediglich den oberen Zehntausend zugänglichen Kunst, sondern auch unterhalb dieser elitären Exklusivität die Zigeunerromantik. Auch im Volkslied:
(beim Volksliederarchiv finden sich Beachtenswerte weiterführende Infos zu diesem Lied!)

Die Zigeunerromantik des 19.Jhs. weiß nichts mehr von den Verordnungen des 18. Jhs., sie tauchen in keinen Romanen, Opern, Operetten, Volksliedern auf.

Ich habe erst in diesem Faden davon erfahren, dass es die zitierten extremen Anordnungen gab - gibt es denn Quellen zu deren Umsetzung? Wurde an den preuss. und österr. Grenzen massenhaft gehängt? Oder wirkten die Verordnungen so abschreckend, dass der zuvor gewohnten Grenzverkehr zum erliegen kam?
 
Von Friedrich dem Großen gibt es hier ein "Erneuertes Edict, wider die Ziegeuner, Bettel-Juden, Bettler und anders herumlaufendes herrnloses Gesindel in Ostfriesland" vom 30. November 1774:
(...)
"Ziegeuner", die glaubhaft machen konnten, dass sie sich schon mehrere Jahre lang "im Lande redlich genähret" hatten, blieben unbehelligt, ansonsten drohte ein halbes Jahr Zuchthausarbeit. Wer sich unerlaubt im Land aufhielt, bekam zwei Jahre Festungsarbeit aufgebrummt, im Wiederholungsfall vier Jahre, beim dritten Mal lebenslänglich.
Das war schon ein Fortschritt, klar, aber angesichts der drakonischen Strafen, die sein Vater 50 Jahre zuvor gegen die "Zigeuner" verhängt hat, durften es nicht viele davon in Preußen gegeben haben, die sich schon mehrere Jahre lang "im Lande redlich genähret" hatten.

In einer Gesellschaft mit relativ festen sozialen Schranken und vielfachen Normen, an die sich die Masse der Bevölkerung zu halten hatte (durch die sie aber zum Teil auch geschützt wurde), konnte das schnell zum Problem werden (bzw. von den Einheimischen als solches wahrgenommen werden).
Das traf auf alle zu, die nichts sesshaft waren. Aber nur "Zigeuner" durften per Todesstrafe Preußen nicht betreten – siehe Eröffnungsbeitrag und die Bestätigung durch das von @Sepiola verlinkte Dokument. Das war wohl der Fremdenscheu geschuldet, von der Eibl-Eibesfeldt zuerst sprach: Diese stehe in einer Ambivalenz zum ebenfalls angeborenen Neugierverhalten. Ob sich ein Mensch nun einer ihm fremden Kultur mit Scheu oder mit Neugier nähere, sei von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig.

Und Rahmenbedingung in einem Staat setzt der Gesetzgeber fest – in der Zeit des Absolutismus war das der jeweilige Herrscher. Die Aufklärung hat mit dafür gesorgt, dass sich die Rahmenbedingungen langsam änderten, ohne jedoch diese Fremdenscheu ganz verdrängen zu können. Wäre dem anders, hätten wir heute nicht den wiederaufstieg des Rassismus/Nationalismus mit der Maximalforderung, alle Nichtdeutsche des Landes zu verweisen. Und die Partei, die diese Forderung unterstützt, bekommt bei den Wahlen 20 und mehr Prozent der Stimmen.
 
Bevor wegen dieser eigenwilligen Abschweifung in Tagespolitik
Die Aufklärung hat mit dafür gesorgt, dass sich die Rahmenbedingungen langsam änderten, ohne jedoch diese Fremdenscheu ganz verdrängen zu können. Wäre dem anders, hätten wir heute nicht den wiederaufstieg des Rassismus/Nationalismus mit der Maximalforderung, alle Nichtdeutsche des Landes zu verweisen. Und die Partei, die diese Forderung unterstützt, bekommt bei den Wahlen 20 und mehr Prozent der Stimmen.
der Faden womöglich zerfasert oder eine vom Thema abschweifende Diskussion anhebt, erinnere ich an meine Frage(n):
Wurde an den preuss. und österr. Grenzen massenhaft gehängt? Oder wirkten die Verordnungen so abschreckend, dass der zuvor gewohnten Grenzverkehr zum erliegen kam?
und ergänze diese um eine weitere:
Haben diese extremen Verordnungen irgendwo eine Reaktion oder Erwähnung in der Literatur des 18. Jhs. erhalten, bei Voltaire, Wieland, Sterne oder anderen?
 
Zurück
Oben