Wie passiv oder aktiv ist Evolution?

Hier geht es für mich um die wichtige Frage, ob bei meinen Enkeln die horrenden Rechnungen des Kieferorthopäden gespart werden können. :fs:

Also, bei mir hätte man sie sich sparen können, die Hackerchen sind immer noch krumm.
Allerdings hat mittlerweile auch die Kieferorthopädie samt ihren Zahnspangen Fortschritte gemacht.

Das mit der Beeinflussbarkeit der Kieferknochen hat folgende Gründe (Ich vereinfach das jetzt mal stark, falls das unnötig oder unerwünscht ist, bitte sagen):

Der Körperbau eines Menschen ist in den Genen festgelegt. Allerdings ist dieser Bauplan nicht dahingehend misszuverstehen, dass sämtlliche Merkmale bis ins kleinste Detail ohne Möglichkeit der Variation festgeschrieben sind, also etwa im Sinne von "Der Unterkiefer hat bei diesem Individuum exakt 12cm breit, 15cm lang, 4cm hoch und 1cm dick zu werden, keine weitere Diskussion." Es werden eher tendenzielle Vorgaben gemacht zur Ausformung der Knochen, also im SInne von "Das Ding sitzt an dieser Stelle und hat jene Form." Die Details sind durchaus variabel.
Das ist auch durchaus sinnvoll, denn wenn die Details vorher zu stark und statisch geregelt wären, könnte keinerlei Spontananpassung stattfinden und die Lebewesen wären selbst bei kleineren Lebensraumänderungen oder Wanderungen hoffnungslos verloren. Da hat sich die Natur schon was dabei gedacht. Selbst wenn wir eineiige Zwillinge in völlig unterschiedliche Lebensräume brächten würde diese sich unterschiedlich entwickeln. Klar, die Augenfarbe und so was bliebe natürlich gleich, aber der eine Zwilling würde als kanadischer Holzfäller ein Muskelprotz werden (im Rahmen der Grenzen seiner Veranlagung), der andere am Schreibtisch ein Hänfling (ebenfalls natürlich im Rahmen seiner Grundparameter).

Interessant sind diesbezüglich z.B. die Untersuchungen der Armknochen bei den Skeletten englischer Langbogenschützen aus dem 14. Jahrhundert. Auch hier waren die Armknochen (nicht nur die Muskulatur) auf eine Weise entwickelt, mit der die Knaben sicherlich nicht auf die Welt gekommen waren.

Du siehst, dass die Vererbung nur innerhalb gewisser Parameter den fertigen Knochenbau vorgibt, man kann da durchaus im Detail noch dran rumfeilen. Speziell im (frühen) Kindesalter, wenn also klar ist, in was für einer Umgebung der Mensch leben wird, werden einige Details sozusagen "nachgeregelt". So geht man z.B. davon aus, dass auch der Stoffwechsel sich zu einem gewissen Maß an den Lebensumständen orientiert und erst so um das 8. bis 10. Lebensjahr endgültig festgelegt wird. (Wer also in dem Alter zu dick ist, so eine Theorie, wird wohl auch nie mehr gertenschlank werden, egal wieviele Diäten er später macht)

Klaus hat ja schon erwähnt, dass in der Evolution mehrere Mechanismen zusammenwirken:

- Die spontane Mutation, die nach unserem derzeitigen Verständnis allein dem Zufallsprinzip folgt, aber dafür auch fundamentale Veränderungen hervorrufen kann.

- Die Anpassung, deren Auftreten gezielt an neue Lebensbedingungen angelehnt ist und die erheblich rascher (teilweise schon nach ein paar Dutzend Generationen) auftritt, als dass sie durch spontane Mutation erklärt werden könnte (das ist der Mechanismus, von dem ich gesagt habe, dass den noch keiner so wirklich erklären kann)

- Das Abrufen "schlafender" Informationen. Nur weil ein neues Merkmal "erfunden" wurde, heißt das noch nicht automatisch, dass alte (obsolete?) Informationen auch sauber gelöscht werden. Im Laufe der Evolution hat sich in unserem Erbgut eine Menge Altlast angesammelt, die immer wieder mal hervorbrechen oder abgerufen werden kann. So kommen immer wieder mal Babies auf die Welt, die am Steiß ein kleines Schwänzchen haben (wird sofort operativ entfernt, ist keine Sache.) oder auch mal eine Spalte im Hals, die sich verdächtig gut mit Kiemen ergänzen würde.

- Die Kombination verschiedener Teilinformationen. Das ist der Grund für die von Klaus schon angemerkte begrenzte Farbigkeit des Phänotyps. Wir haben eine Menge genetische Informationen zu unterschiedlichen Pigmenten, die unterschiedlich kombiniert werden können. Aber wir können halt nur Farben mischen, die wir auch kennen. Die grünen Haare, die Klaus in diesem Thread und ich a.a.O. erwähnt haben, sind also nicht drin. Andere Tiere haben damit kein Problem, die kennen diese Farbe.

Ups... Ich sehe grade, ich muss dringend in die Arbeit, der Kunde wartet.

Fazit:
Nicht jedes kleinste Detail wird vererbt, sondern nur die mehr oder weniger groben Parameter. Im Detail ist da durchaus noch Variation möglich.

Mein Prof sprach übrigens in Jahrhunderttausenden.
 
Interessant sind diesbezüglich z.B. die Untersuchungen der Armknochen bei den Skeletten englischer Langbogenschützen aus dem 14. Jahrhundert. Auch hier waren die Armknochen (nicht nur die Muskulatur) auf eine Weise entwickelt, mit der die Knaben sicherlich nicht auf die Welt gekommen waren.

Vor allem bei einseitiger körperlicher Anstrengung bilden sich, vor allem bei jungen Menschen sogenannte Berufstypen aus (Schneider vs. Schmied). Das hat aber nix mit Genetik zu tun, auch wenn ein Handwerk zumindest früher meist in der Familie blieb.
Es ist eigentlich nichts anderes, wenn junge Kerle mit Testosteron-Überschuss heute in die Mucki-Bude gehen.
Früher waren Angehörige der Oberschicht auch größer als das gemeine Volk, halt besser genährt.
http://de.wikipedia.org/wiki/Modifikation_(Biologie)
 
Das ist ja alles richtig und nachvollziehbar, was ihr sagt, nur leider war die Antwort auf mein Zahn / Kiefer - Problem noch nicht dabei.

Deshalb bleibe ich bei meiner These, dass Evolution an der Stelle noch würfelt.

Anhand des Weisheitszahn ist zwar ein Trend erkennbar, er bricht als allerletzter durch, oft erst im späten Erwachsenenalter, häufig verkümmert und zu nichts zu gebrauchen. Er ist aber bei fast allen Menschen noch angelegt, d.h. wenn wir eine Ursache des Problems lösen wollten, müßte gezielt geforscht werden, bei wem dieser Zahn nicht mehr angelegt wurde, um dann in die Fortpflanzung einzugreifen. Bei Haustieren funktioniert sowas, aber beim Menschen?????
Außerdem sind bei vielen Menschen schon 14 Zähne pro Kiefer zu viel, der Weisheitszahn ist also nicht allein die Ursache, der wird meist schon beim Durchbrechen gezogen.
 
Also ich habe nur zwei Weisheitszähne (gehabt). Weitere sind nicht zu erwarten. Offenbar bin ich schon ein evolutionär weiter entwickeltes Wesen als der Rest der Menschheit. :scheinheilig:
 
Ich bin kein Zahnarzt, aber hier kann man weiter gucken.
Rudiment ? Wikipedia
Weisheitszähne, heute nicht mehr gebraucht, waren beim Menschen früher durchaus ein Problem, dass sich auf die Sterblichkeit auswirken konnte. Man denke nur an Zähne als Infektionsquelle, da kann ich aus eigener Erfahrung ein Lied von singen.
 
Nur warum brauchte mein Sohn den Kieferorthopäden und meine Tochter nicht, schließlich sollten beide das gleiche gegessen haben? Bei meiner Schwester und mir das gleiche Phänomen!
Warum stirbt ein Raucher am Lungenkrebs und ein anderer nicht?
Die wirkenden Faktoren sind nicht absolut kategorisch, sie verändern die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Effekte. So ist die Wahrscheinlichkeit heute sehr hoch, dass Kinder einen Kieferorthopäden brauchen, weil wir zu wenige Wachstumsreize für den Kiefer haben. Wenn du deine Enkel vor diesem Schicksal bewahren möchtest, lass sie ordentlich kauen. Statt gekochter Möhre eine frische. Statt Kartoffelpüree ein zähes Stück Fleisch. Eine Erfolgsgarantie gibt es darauf nicht, aber die Wahrscheinlichkeit von Zahnfehlstellungen wird dadurch jedenfalls verringert.
 
Also ich habe nur zwei Weisheitszähne (gehabt). Weitere sind nicht zu erwarten. Offenbar bin ich schon ein evolutionär weiter entwickeltes Wesen als der Rest der Menschheit. :scheinheilig:
Herzlichen Glückwunsch und wo fehlten sie? Oben oder unten und gibt es beim Fehlen einen Zusammenhang zur Kiefergröße. Und die allerwichtigste Frage: Hast du diesen genetischen Vorteil weitervererbt?



Ich bin kein Zahnarzt, aber hier kann man weiter gucken.
Rudiment ? Wikipedia
Weisheitszähne, heute nicht mehr gebraucht, waren beim Menschen früher durchaus ein Problem, dass sich auf die Sterblichkeit auswirken konnte. Man denke nur an Zähne als Infektionsquelle, da kann ich aus eigener Erfahrung ein Lied von singen.

Ich auch, selbst heute ist das Extrahieren der Weisheitszähne meist eine kleine Operation beim Kieferchiurgen, da es gemacht werden sollte, bevor der durchbrechende Weisheitszahn den Rest der ohnehin zu eng stehenden Zähne noch mehr zusammenschiebt.

Warum stirbt ein Raucher am Lungenkrebs und ein anderer nicht?
Die wirkenden Faktoren sind nicht absolut kategorisch, sie verändern die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Effekte. So ist die Wahrscheinlichkeit heute sehr hoch, dass Kinder einen Kieferorthopäden brauchen, weil wir zu wenige Wachstumsreize für den Kiefer haben. Wenn du deine Enkel vor diesem Schicksal bewahren möchtest, lass sie ordentlich kauen. Statt gekochter Möhre eine frische. Statt Kartoffelpüree ein zähes Stück Fleisch. Eine Erfolgsgarantie gibt es darauf nicht, aber die Wahrscheinlichkeit von Zahnfehlstellungen wird dadurch jedenfalls verringert.

Wahrscheinlichkeiten und Tendenzen helfen einer dereinstigen Großmutter nicht weiter, zumal ich jetzt den Verdacht haben muß, das mein Sohn die rohen Möhren damals nicht anständig gekaut hat. :cry:
Wie indiskret ist es, angehende Schwiegerkinder nach ihrer Weisheitszahngeschichte zu befragen......;)
 
Das ist ja alles richtig und nachvollziehbar, was ihr sagt, nur leider war die Antwort auf mein Zahn / Kiefer - Problem noch nicht dabei.

Deshalb bleibe ich bei meiner These, dass Evolution an der Stelle noch würfelt.

Ich steh' wahrscheinlich, wie so oft, ein wenig auf dem Schlauch.
Könntest Du die konkrete Frage, die Dich bechäftigt, noch mal panzerreitertauglich stellen?:rotwerd:

Nebenbei: Die These, dass die Evolution an der Stelle derzeit einfach eine (noch) suboptimale Lösung hat, ist ja so abwegig nicht. Hab ich ja auch schon vertreten:
[...] Vielleicht ist das ja einer der Punkte, bei dem die Evolutution etwas über den vernünftigen Kompromiss hinausgeschossen ist? Vielleicht pendelt sich das wieder ein über die nächsten paar 10.000 Jahre. Oder es ist die erwähnte Sackgasse.
Zwar hat Einstein mal gesagt, Gott würfele nicht, aber der Mann war ja auch nur Physiker. :D
Ein guter Teil der Evolutionstheorie beruht auf eben jenem Würfeln.
 
Ich steh' wahrscheinlich, wie so oft, ein wenig auf dem Schlauch.
Könntest Du die konkrete Frage, die Dich bechäftigt, noch mal panzerreitertauglich stellen?:rotwerd:

Nebenbei: Die These, dass die Evolution an der Stelle derzeit einfach eine (noch) suboptimale Lösung hat, ist ja so abwegig nicht. Hab ich ja auch schon vertreten:Zwar hat Einstein mal gesagt, Gott würfele nicht, aber der Mann war ja auch nur Physiker. :D
Ein guter Teil der Evolutionstheorie beruht auf eben jenem Würfeln.

Wie schon mehrfach dargestellt, sind in unseren Genen verschiedene Bauplanvarianten gespeichert. Für den Kieferbogen gibt es als Beispiel die 3 Abformlöffelgrößen eng, mittel und weit. Ich behaupte mal, jeder hat durch seine Vorfahren alle Löffelgrößen parat aber nicht in gleicher Häufigkeit. Ähnliches gilt für die Zahngrößen. Nun sind Zähne das härteste Material, was der menschliche Körper hervorbringt, sie können nicht mitwachsen wie Knochen, deshalb werden sie nacheinander geschoben, eigentlich analog zum Kieferwachstum. Der 7. Backenzahn als Vorletzter, der 8. Zahn läuft schon außerhalb der Ordnung.
Da Evolution durch Anpassung immer noch im Gange ist und in gaaaaanz langen Zeiträumen arbeitet, verkleinert sich das Untergesicht immer noch im Verhältnis zum Oberkopf für das Gehirn, weil Gehirn nützlicher ist als Kauapparat. Die Zähne müssen sich natürlich mitverkleinern, weil sonst der ganze Aufbau nicht mehr stimmt, was nicht nur ein optisches Problem ist. Deshalb lasse ich die sexuelle Selektion mal weg, obwohl die gerade hierbei auch eine Rolle spielen sollte, ich weiß nur nicht in welche Richtung.
Die Kieferknochen mögen leichter zu beeinflussen sein als die Zähne aber die Geschwindigkeit paßt nicht zusammen.
Jemand der einen engen Kieferbogen geerbt hat und Riesenzähne, kann durch Möhrenkauen sicher einiges verbessern aber ob er es schafft, seine Kiefer derart breitzukauen, dass er alle Zähne regelmäßig aufreihen kann, möchte ich bezweifeln und dann müsste er das noch memetisch weitergeben können.

Wenn nun aber, die These von Klaus auch für den Kauapparat zutreffen würde, müßte es einen Mechanismus geben, ein Signal via Botenstoff, der zum engen Kieferbogen die zierlichen Zähne sortiert und umgekehrt. So würde ich am Beispiel der Zähne aktive Evolution verstehen.

Das sehe ich aber nicht, deshalb behaupte ich, dass Evolution beim Kauapparat noch würfelt, ich lasse mich aber gern eines besseren belehren.

Vielleicht mal wieder zu einfach gedacht.
 
Jemand der einen engen Kieferbogen geerbt hat und Riesenzähne, kann durch Möhrenkauen sicher einiges verbessern aber ob er es schafft, seine Kiefer derart breitzukauen, dass er alle Zähne regelmäßig aufreihen kann, möchte ich bezweifeln und dann müsste er das noch memetisch weitergeben können.
Damit landen wir aber wieder bei Lamarck, liebe rena. Wenn ich dich richtig verstehe, müssten sich dann korrigierte Zahnstellungen weiter vererben und das Problem rasch verschwinden. So funktioniert das aber leider nicht.
 
Damit landen wir aber wieder bei Lamarck, liebe rena. Wenn ich dich richtig verstehe, müssten sich dann korrigierte Zahnstellungen weiter vererben und das Problem rasch verschwinden. So funktioniert das aber leider nicht.
Lieber balticbirdy, was mache ich falsch, dass du in letzter Zeit immer das Gegenteil von dem verstehst, was ich meine.
Ich sage doch und nun zum 3. Mal, beim Kauapparat würfelt Evolution, d.h. Zufall und eben nicht Lamarck und Memetik
 
Was natürlich noch fehlt, ist die Frage, wie eine solche Kleinzähnigkeit danach in die Gene gelangt: Nun, wenn es genetisch eine gewisse Schwankungsbreite in der Zahngröße gibt, haben diejenigen Individuen einen Kau- und einen Attraktivitätsvorteil, deren Zähne nicht kreuz & quer im Mund stehen, so dass die kleineren Zähne innerhalb der natürlichen Gaußverteilung eine stärkere Wichtung erlangen. Es entsteht also ein Wechselspiel, bei dem am Schluss die Kleinzahngene die größte Verbreitung haben.

Wenn das betreffende Merkmal für das Individuum keine oder nur geringe Relevanz besitzt, nicht nur da. Allerdings ist die "ideale Population" als Modellvoraussetzung nur ein Gedankenspiel.
Hardy-Weinberg-Gleichgewicht ? Wikipedia

Beim Beispiel Kauapparat gibt es vier Extremkombinationen und natürlich ganz viel dazwischen, die phänotypische Beeinflussung durch Belastung lasse ich weg.
1. weiter Kieferbogen + große Zähne = sieht gut aus und kann gut kauen
2. weiter Kieferbogen + kleine Zähne = sieht vielleicht niedlich aus und kann gut kauen,
3. enger Kieferbogen + kleine Zähne = sieht gut aus und kann gut kauen
4. enger Kieferbogen + große Zähne = sieht unschön aus und kann auch gut kauen, hat irgendwann nach der Fortpflanzungsphase vielleicht Beschwerden aber da stört es nicht mehr

eigentlich sollte sich das Problem von der genetischen Seite doch schon lange erledigt haben oder finden wir 2. vielleicht doch nicht so attraktiv oder widersetzen sich die Zähne hartnäckig den Darwinschen Prinzipien?
 
Danke für die Geduld, Rena :friends:

Erst zur Sicherheit noch mal zu dem Punkt, der, soweit ich das mittlerweile zu verstehen glaube, für Dich aber eher von sekundärer Wichtigkeit ist:

Jemand der einen engen Kieferbogen geerbt hat und Riesenzähne, kann durch Möhrenkauen sicher einiges verbessern aber ob er es schafft, seine Kiefer derart breitzukauen, dass er alle Zähne regelmäßig aufreihen kann, möchte ich bezweifeln und dann müsste er das noch memetisch weitergeben können.
Bei einer derart unglücklichen Kombination (ganz kleiner Kiefer und ganz große Zähne) könnte man natürlich auch ganz einfach konstatieren: Pech gehabt. Ein statistischer Ausreißer, eine genetische Fehlkombination, soll sehen wo es bleibt, das Individuum. In einem Lebensraum mit Kieferorthopädieangebot hat es Glück, in einer anderen Umgebung soll's halt aussterben. Die Natur ist in höchstem Maße amoralisch.

Für gewöhnlich ist aber die Kombination von Kiefer- und Zahngröße wohl nicht so extrem unglücklich.
Tendenziell, behaupte ich mal, haben wir bei der großen Masse der Population eine Kiefer-Zahngrößenkombination, die sich sehr wohl einigermaßen "zurechtkauen" lässt. Ich sehe wenig Anlass für die Befürchtung, dass bei einem gesunden Menschen ohne Gendefekt ein zierlicher Kiefer mit übergroßen Zähnen kombiniert werden sollte. Wenn, dann gehe ich davon aus, dass alles eher groß respektive eher klein ausgebildet wird. Ich sehe beispielsweise auch sehr wenig Menschen, die eine Körpergröße von 150cm mit einer Schuhgröße von 46 kombinieren. Meistens ist das schon halbwegs stimmig. Es scheint also keinen aktiven Sortiermechanismus zu brauchen, so weit werden die Parameter nun auch nicht ausgewürfelt. Eine Art Gesamtharmonie - mir fällt jetzt kein besserer Begriff ein, scheint wohl vorprogrammiert zu sein. So eine Art Klaus'schen Mechanismus scheint es irgendwie schon zu geben. Vielleicht ein Maßstabs-Gen, mit Gültigkeit für den ganzen Körper? Also jede Menge Detailbaupläne und am Schluss ein Master-Gen, das sagt: "und das Ganze bitte im Maßstab 1 zu 1,3..."

In der breiten Masse der Bevölkerung scheint der Zufall, innerhalb dessen die Natur den Kauapparat auswürfelt, also schon akzeptable Grenzen zu haben, auch wenn man die genannte problematische Tendenz natürlich klar erkennen kann.
Nun sind Knochen im Gegensatz zu Zähnen trainierbar. Erstere können nachträglich modifiziert werden, wachsen und schrumpfen. Das gehört zu den Variationsmöglichkeiten, die die Evolution jedem Individuum jenseits der Vererbung freundlicherweise mit auf den Weg gibt. Die Feinregulierung sozusagen. "Hier ist das Grundkonzept, regel's nach im Rahmen Deiner Möglichkeiten. Oder lass es, jammer dann aber nicht"
Zähne werden einmal ausgebildet und Basta. Nachträgliche Änderung nicht möglich, jedenfalls nicht bei uns. (Bei Nagetieren etwa wachsen die Dinger ja ein Leben lang nach)

In den allermeisten Fällen haben wir jedenfalls wohl eine Kombination, die über die Nachbesserung durch das frühkindliche Training derzeit noch zu annehmbaren Ergebnissen führt. Eine Schiefstellung oder das teilweise Überlappen von ein paar Zähnen bringt niemanden um, es besitzt, wie BB sagt, "für das Individuum keine oder nur geringe Relevanz", abseits eines möglicherweise ästhetischen Problems.

Nun kommen die Weisheitszähne ins Spiel: Bei einem kleiner gewordenen Kiefer sind diese hochgradig kritisch, solange noch existierende Zähne im Weg sind. Hier hat die Natur wohl tatsächlich gepfuscht, zumindest für den Augenblick.
Aber ich bringe mal einen Gedanken ins Spiel, der mir so spontan kommt: Die Evolution hat sich noch nicht an moderne Zahnhygiene und zahnärztliche Versorgung gewöhnt. (Ich weiß, die Steinzeitschädel hatten meist Zähne in besserem Zustand als heutige Leute mit ihrer weichen und allzu zuckerhaltigen Kost. Aber wie alt waren die denn?) Könnte es sein, dass die Weisheitszähne, die ja erst in einem Alter durchbrechen, als der Großteil unserer Vorfahren eigentlich schon ins Graß gebissen hatte, als eine Art Reservezähne beibehalten wurden? Ohne Schneidezähne lässt es sich leben, aber ohne Mahlzähne schwer. Und außerdem werden genau diese Mahlzähne durch das ständige Mahlen auf Dauer stark abgenutzt, bis eines Tages der Zahnschmelz aufgebraucht ist, der Zahnzement freiliegt und der Zahn recht schnell krank wird und ausfällt. Wohl dem, der dann noch ein paar frische Zähne in Reserve hat. Könnte also eigentlich sogar ein Überlebensvorteil gewesen sein, wenn man ein paar tausend Jahre zurückdenkt.
Wie gesagt, nur so ein kreativ-spontaner Gedanke, ohne biologische Beweiskraft.
(Ich für meinen Teil übrigens bin stolzer Besitzer aller 4 gesunder Weisheitszähne. Dafür kann ich auch dankbar sein, denn meine hinteren Backenzähne waren - angeboren - nicht verkalkt und mussten raus. Das war auch kein großes Ding, jedenfalls damals mit 12/13 oder so. Mir kamen die "Reservezähne" also sehr gelegen, auch wenn ich noch ein paar Jahre auf sie warten musste)

Kommen wir zur Frage, warum sich nicht die Idealkombination durchsetzte, und damit zu dem Punkt, der momentan primär wichtig zu sein scheint.

Diese ganzen mathematischen Berechnungen haben einen Haken: Sie sind idealisiert bis jenseits der Realität. Das Hardy-Weinberg-Gleichgewicht etwa geht ja von keinerlei Selektion aus. Unter dieser Voraussetzung kommt es zu dem Schluss, das eine Variation eines Merkmals überhaupt nicht verschwindet, sondern seine Häufigkeit nur bei einem bestimmten Gleichgewicht einpendelt. Dafür hätte ich aber keinen Mathematiker gebraucht, denn wenn es nicht wegselektiert wird, dann muss es ja bleiben. Dass das Modell die hypothetische Verteilung zu berechnen vermag, hilft uns bei unserer Fragestellung nicht weiter, denn wir gehen ja von einer Selektion aus und damit ist das Modell für uns nicht brauchbar.
Da sehe ich das Problem:
Es kollidieren eigentlich die Einschätzungen über den selektiven Wert des Kieferproblems: Mal wird es als selektiv wichtig angesehen (Attraktivität von hoher Relevanz), mal wird es als selektiv unwichtig angesehen (Ästhetik von geringer Relvanz).

Wenn wir uns darauf einigen, dass die derzeitige Situation zwar vielleicht nicht schön ist, aber noch keinen Selektionsdruck ausübt, können wir mit dem Modell beweisen, dass es auch unübliche Ausbildungen des Kieferbaus gibt, mehr oder weniger häufig.

Wenn wir uns dagegen darauf einigen, dass die derzeitige Situation sehr wohl einen signifikanten Selektionsdruck ausübt, können wir schwerlich den Hardy bemühen.

Worauf einigen wir uns denn? Selektionsdruck ja oder nein? Und weshalb?
 
Evolution würfelt nicht.

Mit den Zähnen gibt es einfach kein Problem, das einer genetischen Anpassung bedarf. Der Mensch erfährt bereits eine Anpassung, indem die Weisheitszähne oft nicht mehr durchbrechen. Die Gene dafür sind unverändert da, sie werden einfach nicht aktiviert (-> Epigenetik).

Die bedarfsgerechte (De-)Aktivierung der Gene ist die schnellere, flexiblere Art der Anpassung. Wozu auf zufällige Mutationen warten, die irgendwann und hoffentlich mal zu einem günstigen Ergebnis führen? Die Gene werden nach Bedarf an- und ausgeschaltet.

Noch schneller sind andere Mechanismen der Evolution, z.B. die von den Menschen entwickelte Zahnmedizin (-> Kultur). Die Zähne werden innerhalb von Jahren in die gewünschte Form gebracht. Jemand hat zu viele Zähne? Wir ziehen ein paar. Jemand hat zu wenige Zähne? Wir setzen ein paar neue ein. Für Zähne gibt es auf genetischer Ebene keinen Ansatzpunkt mehr für Selektion. Es sind viel schnellere Mechanismen am Werke.
Die Kultur ist auch ein Mechanismus der Evolution. Blitzschnell, aktiv und hochgradig flexibel. Da kommt die Epigenetik nicht mehr hinterher. Und reine Genmutationen schon gar nicht.
 
Wenn wir uns dagegen darauf einigen, dass die derzeitige Situation sehr wohl einen signifikanten Selektionsdruck ausübt, können wir schwerlich den Hardy bemühen.

Worauf einigen wir uns denn? Selektionsdruck ja oder nein? Und weshalb?
Mit den Extrempositionen wollte ich die sexuelle Selektion einbeziehen, die ich vorher weggelassen hatte, weil ich inzwischen sehr unsicher bin, ob sie eine Richtung hat.
Über alles andere muß ich ein Weilchen nachdenken, ich danke dir für deine ausführliche Darstellung, Panzerreiter
 
Mit den Zähnen bin ich noch nicht durch, es ist mühsam, relevantes zu finden, außer allseits bekannten Fakten.
Inzwischen vermute ich, dass die Verbreiterung des Kiefers durch Kauen harter Nahrung der Umkehrschluß aus dem tatsächlichen Evolutionsverlauf ist, wonach sich Kiefer durch Werkzeuggebrauch und Garen verkleinern konnten.
Zu den Weisheitszähnen zitiere ich aus http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/532/pdf/Dr-Arbeit12-09-02.pdf ,einer Untersuchung zu Zahnbefunden eines mittelneolithischen Gräberfelds in Süddeutschland:
"Beachtlich ist nicht nur das Vorhandensein sämtlicher Weisheitszähne, sondern vor
allem der regelverzahnte Einbau derselben in den Kiefern.

Da ich mich bei den Zähnen nur vorläufig zurückhalten möchte, wie gesagt, ich bin betroffen, interessiert euch von Dummes Design vielleicht die Prostata, dazu kann ich nun gar nichts sagen. :fs:

Seit gestern bin ich verunsichert, ob überhaupt und wenn in welche Richtung, Evolution auf die Zahngröße wirkt, hier kein Argument für sexuelle Selektion zu kleinen Zähnen. http://www.oopsphoto.de/images/04event_vogel.jpg
Wenn man nachzählt, stellt man fest, dass es unten nur die Größe ist. oben auch welche fehlen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist ein wichtiger Aspekt. In und auf unserem Körper leben mehr Mikroorganismen als wir Zellen haben. Unser Körper ist also eine gewaltige multikulturelle Symbiose. Leider entspricht das nicht unserem Weltbild, und so nehmen wir Bakterien nur als Krankheitserreger wahr - das können sie zwar tatsächlich sein, dies ist aber nur ein klitzekleiner Teil der Wahrheit.

Bei der Geburt wird ein Kind mit der Darmflora der Mutter "initiiert", und das ist gut so, weil der Embryo bereits mit den biologischen Systemen der Mutter kommuniziert hat, sein Immunsystem also bereits auf ihre spezifische Darmflora eingestellt ist. Bei Kaiserschnitt-Kindern kann diese "Saat" durch irgend eine Krankenschwester stattfinden, sicher auch nicht schlecht, aber nicht passend.
(Buchtipp : Das Geheimnis der ersten neun Monate: Unsere frühesten Prägungen: Amazon.de: Gerald Hüther, Inge Krens: Bücher)

Wie in Bereals Link beschrieben, können die Bakterienkulturen im Darm durchaus ein evolutionäres Eigenleben entwickeln.

Warum denken wir eigentlich immer nur über die Gene nach ?
 
Zurück
Oben