Wie prüde waren die 1950er Jahre?

Die Definitionsstreitigkeiten zum Wort "prüde" überraschen mich. Ehrlich gesagt, ich hätte gedacht, dass jeder das Wort so versteht wie ich selbst, einen Interpretationsspielraum hatte ich nicht auf dem Schirm. Prüderie ist für mich eine bloße Mentalität, die nicht notwendigerweise zu einem tatsächlichen Verhalten führt. Es ist in diesem Sinne das charakterschwache Gegenstück zur Tugend. Dieses herrlich altmodische Wort beschreibt in meinen Augen eine nach innen gerichtete Enthaltsamkeit. Der Prüde hingegen verlangt von anderen Enthaltsamkeit.
 
Wer behauptet, 1950er Jahren wären nicht prüde, der sollte sich bitte besser informieren, bevor er solche Statements schreibt.
Schauen wir uns doch noch mal genau an, was Frederuna geschrieben hat:

Zur Prüderie der 1950er: Die offizielle Sexualmoral war außerordentlich prüde: Sex sollte nur in der Ehe stattfinden, alles andere war Unzucht. Gehandelt haben die Menschen danach aber nicht. Irgendwo habe ich gelesen, dass in den 50ern und frühen 60ern (also vor 'Einführung der Pille) etwa 40 % der Bräute auf dem Standesamt schwanger waren.

Den Unterschied zwischen gesellschaftlich erwünschtem Verhalten und praktiziertem Verhalten verstehst du?

Günther Grass z.B. sollte laut Jury für seinen Roman "Blechtrommel" den Literaturpreis der Stadt Bremen bekommen, aber die damalige Jugendsenatorin war dagegen: […] der Preis wurde in dem Jahr nicht vergeben.

Der Film "Die Sünderin", erhielt von der FSK zuerst keine Jugendfreigabe, dann doch, aber die Vertreter der beiden Kirchen traten aus Protest aus der FSK zurück. Sodann wurde es zum Boykott aufgerufen – […]

Auch der Film „Manche mögen’s heiß“ (1959) wurde auf den Index gesetzt bzw. für erst ab 18 freigegeben, durfte aber an Feiertagen nicht gezeigt werden. ....
Deine drei Beispiele zeigen allerdings gerade, dass die Gleichung {50er Jahre = prüde} ganz so einfach nicht ist, wie du tust. Grass‘ Blechtrommel war nominiert, Die Sünderin war ein erfolgreicher Film, wahrscheinlich waren die Angriffe auf ihn die beste Werbung, die er haben könnte. Nebenbei war Nacktheit nicht das einzige Problem, was man mit dem Film hatte, sondern auch die Art der Darstellung von Euthanasie und Selbstmord.
Das ist noch bis in die jüngere Vergangenheit nicht vollkommen unproblematisch gewesen und hat sich erst in den letzten 20 Jahren gewandelt, hier wären etwa Filme wie Mar adentro (Das Meer in mir, 2004) oder Bücher wie Me before you (Ein ganzes halbes Jahr, 2012, verfilmt 2016) zu nennen.
Und Some like ist hot/Manche mögen‘s heiß wird im Gegensatz zur Sünderin auch heute noch regelmäßig gezeigt, und war auch damals schon ein Kassenschlager.
Wenn man nur die Kritiker der Bücher und Filme berücksichtigt, aber ihren wirtschaftlichen Erfolg untern Tisch kehrt, kommt eben ein total schiefes Bild dabei heraus und man zieht falsche Schlussfolgerungen.

die Nazis haben diese Vereine alle geschlossen und später teilweise FKK wieder erlaubt, allerdings nur für Arier.
Das wird so von der faktischen Darstellung sicher richtig sein, ist aber in der Gewichtung etwas seltsam. Du redest hier von einem Regime, das von 1933 an „Nichtarier“ sukzessive entrechtete. Vom Recht, ein Auto zu besitzen oder zu fahren, über das Recht an gesellschaftlicher Teilhabe bis hin zum Recht, einen Kanarienvogel zu besitzen.
Wenn du nun zum Thema Prüderie hast (in Bezug darauf waren die Nazis recht ambivalent), festzustellen, dass FKK „nur für ‚Arier‘“ wieder zugelassen wurde, verkennt das den rassistischen Charakter des NS-Regimes, da „Nichtariern“ der Zugang zu entsprechenden Orten (Bädern, Badestellen in Gewässern) eh bei härtesten Strafen untersagt war. Das hat also nichts mit Prüderie zu tun, sondern mit Rassismus.
 
Wer behauptet, 1950er Jahren wären nicht prüde, der sollte sich bitte besser informieren, bevor er solche Statements schreibt.
Keinen Rundumschlag, bitte…
Müßig zu erwähnen, dass sexualmoralische Regeln seit eh und je eine Notwendigkeit der Gesellschaft waren/sind, um deren (vorwiegend weiblichen) Individuen vor sexueller Belästigung und Gewalt zu schützen, was das Verhalten der (vorwiegend männlichen) Individuen beschränkt. »Prüderie« beinhaltet die Wertung solcher Regeln als ›zu restriktiv im Vergleich zum als richtig empfundenen Maß‹, das meist der gerade herrschenden Norm entspricht.
Man könnte ja auch vom Maß der Kultivierung sprechen, ein Ausdruck, der heute für viele (vorwiegend Männer) wie ein rotes Tuch wirkt, zumal frauenfeindliches Gedankengut aus patriarchalische(re)n Kulturkreisen globalisiert wird und die Belästigung der Frauen bei uns zunimmt. Andererseits befinden wir uns auch unter dem Einfluss der fundamentalistischen Verbotsfreude aus Übersee…

Tatsache ist jedenfalls, dass die 1950er den Aufschwung der sexuellen Freizügigkeit markiert haben, auch wenn Deutschland stark nachhinkte (da hat Dion sicher recht). Ab 1945 nahm die Veröffentlichung von weiblichen Nacktbildern drastisch zu, sei es in Nudistenblättern, Fotozeitschriften, Männermagazinen oder in Filmen, nachdem in den 1930ern in den USA die kommerzielle Nutzung derartiger Bilder in der Werbung Akzeptanz gefunden hatte.(Heute würde man den Einsatz nackter Haut vielfach als unnötig anprangern, bspw. in der Automobil-Werbung.)

Dass in Schwimmbädern vielerorts die Geschlechter getrennt waren/sind, muss also nicht unbedingt als altmodisch und sexuell verkrampft gewertet werden, sondern kann auch (zumindest aus weiblicher Sicht) als wohltuend gelten, was bspw. die anhaltende Beliebtheit des (bereits von mir erwähnten) Frauenbades in Zürich erklärt.
 
Das war keine Prüderie, sondern Freiheit. Es gab Badezeiten für Männer, für Frauen, und das "Familienbad".

Frauen konnten unbeobachtet sein, wenn sie wollten. Oder sich mit Freundinnen im Bad treffen. Sie konnten dennoch auch andere Badezeiten wählen, wenn sie Lust auf Kontakt zum anderen Geschlecht hatten.

Die 1950er Jahre waren keineswegs prüde. Es gab Affairen, Seitensprünge, Betriebsfeiern, Kegelausflüge, Kurschatten.

Was eine große Rolle gerade am Anfang der 1950er Jahre spielte: es gab eine große Konkurrenz unter Frauen insofern als es in der Kriegsgeneration einen Frauenüberschuss gab.
Ein anderes Problem war, dass in den Frauenhandbüchern ubd den verbreiteten Frauenratgebern vielfach das Ideal eines Heimchens am Herd propagiert wurde, und jüngere Frauen sozial stark durch andere Frauen kontrolliert wurden: sei es durch die Schwiegermutter, die eigene weibliche Verwandtschaft, oder die Nachbarn.

In der Generation meines Vaters sah ich jedoch viele (akademisch geprägte) Frauen, die eine wache Sexualität und intellektuelle Offenheit hatten. Es wurde sehr viel gelesen, viele Leute waren gut informiert, und es war so dass Leute sich über bestimmte Themen sehr stark austauschten.

Natürlich ist dort, wo eine rigide, prüde Moral das Szepter schwingt, in der Regel auch die Doppelmoral stark entwickelt.

Das viktorianische Zeitalter, auch der Wilhelminismus war sehr ausgeprägt, und um die gleiche Zeit malten die Impressionisten freizügige Bilder und Henri de Toulouse Lautrec die Prostituierten von Montmarte, tanzten gestern Mata Hari und morgen Josephine Baker nackt, schrieb Leopold von Sacher-Masoch die "Venus im Pelz", und Siegmund Freud über Ödipuskomplex und Magnus Hirschfeld entwickelte sich zum "Einstein des Sex".

Wenn man die Kriminalakten der Rosemarie Nitribit liest oder die Memoiren von Gunther Sachs oder Arndt von Bohlen und Hallbach, dann ließ man auch in der jungen Bundesrepublik die Puppen tanzen.

Aber die Bundesrepublik der 1950er würde ich schon als einen sehr prüden und restaurativen Staat einschätzen.
In vielen Bestimmungen ging es in den 1950er Jahren weit hinter das Maß von Freiheit und Emanzipation zurück, das in der Weimarer Republik schon einmal erreicht war.

-Der § 175 (Schwulenparagraph) aus dem Kaiserreich und im Nazireich verschärft wurde in der BR beibehalten.
- Die Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen war extrem restriktiv und repressiv- in diesem Punkt war die DDR liberaler.
- Eine Frau, die berufstätig sein wollte, brauchte dazu die Erlaubnis des Ehemanns. Während des Krieges hatten Frauen ihren Mann stehen müssen, hatten in vielen Bereichen männliche Berufe ausgeübt- in den 1950er Jahren wurden sie wieder an den Herd verbannt.

-Der sogenannte Kuppel-Paragraph war bis Ende der 1960er in Kraft.

Meine Mutter erzählte mir immer, dass ich in einem VW-Käfer gezeugt wurde. In ein Motel oder Hotel hätten sie nicht gehen können. Der Hotelier hätte sich strafbar gemacht, wenn er ihnen ein Doppelzimmer vermietet hätte, da sie noch nicht verheiratet waren.
Bei einem Familienbesuch bei einer Verwandten wurden ihnen getrennte Schlafzimmer gegeben. Da war mein Vater 25 und meine Mutter 24 Jahre alt, mein Vater Medizinstudent und meine Mutter Sekretärin. 1967 haben meine Eltern geheiratet, meine Großeltern waren alle recht liberal. Meine Eltern haben aber trotzdem auch aus Rücksicht auf Konventionen geheiratet, ein uneheliches Kind zu bekommen, war zumindest auf dem Lande im Jahre 1967 immer noch ein Makel, und meine Geburt hatte so einen leicht verruchten Touch, denn als "7 Monate-Kind" war ich nicht unehelich geboren, aber doch unehelich gezeugt. Verhütungsmittel in einer Apotheke zu kaufen oder ein Schäferstündchen mit einer festen Partnerin zu organisieren, erforderte einige Verrenkungen- Jahre später erzählt, haben meine Eltern immer darüber gelacht.

Da kann man auch drüber lachen, aber wenn man sich mal vergegenwärtigt wie und unter welchen Voraussetzzungen die 1. Nachkriegs-Generation ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen musste- da gab es schon vieles, was in der jungen Bundesrepublik sehr prüde, sehr verklemmt und repressiv war, was einem fast unfassbar vorkommt.

Meine Eltern das waren auch keine wilden 68er, die haben wohl mal eine Anti-Vietnamkrieg Demo mitgemacht, aber die hätten in Woodstock Zustände gekriegt.

Vom Diskussions-Stil und der Polemik des Diskurses kann man sicher so Manches auch gegen die 1968er sagen, und längst nicht alles, was gefordert wurde machte Sinn.

Wenn man sich aber den Zustand der Nachkriegsgesellschaft der BRD ansieht, wenn man mal die Zustände in den späten 1960ern und den späten 1980ern betrachtet und abgleicht, so waren doch viele Anliegen der 1968er Bewegung berechtigt, es war die "sexuelle Revolution" notwendig.
Das, was meinen Eltern anno 1967 noch etwas verrucht erschien und für die Generation der Großeltern vielfach noch als ein absolutes "No-Go" erschien, war in den 1980ern bereits selbstverständlich geworden. Dass es meiner Generation aber bereits selbstverständlich erschien- das lag zum großen Teil daran, dass die Generation meiner Eltern, die Generation der 1968er uns die Tür aufgestoßen hat.

Mag die "Subversion", das Verruchte auch heute sehr moderat und sehr unschuldig erscheinen.
 
1967 haben meine Eltern geheiratet, meine Großeltern waren alle recht liberal. Meine Eltern haben aber trotzdem auch aus Rücksicht auf Konventionen geheiratet, ein uneheliches Kind zu bekommen, war zumindest auf dem Lande im Jahre 1967 immer noch ein Makel, und meine Gburt hatte so einen leicht verruchten Touch, denn als "7 Monate-Kind" war ich nicht unehelich geboren, aber doch unehelich gezeugt.

Meine Oma, in den 1920er Jahren in eine (klein-) bürgerliche Familie hinein geboren, wurde immer augenzwinkernd als Frühgeburt bezeichnet. Kürzlich kam mir beim Sortieren von Unterlagen ein Stammbaum in die Hände, nach dem sie nur rund drei Monate nach der Hochzeit ihrer Eltern geboren wurde.

Möglicherweise gab es nach den Turbulenzen der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen in den 1950er Jahren eine Restauration. Es wurden aber auch neue Entwicklungen angestoßen, alte Eliten und Autoritäten hatten Vertrauen verloren (z.B. Kirche und Staat), neue Familienmodelle mussten akzeptiert werden (Alleinerziehende, nichteheliche Partnerschaften), ein neues Lebensgefühl griff um sich (Erleichterung, den Krieg überlebt zu haben, Verdrängung der erlebten Gräuel, Aufbau eines neuen Staates, wiedergefundene Lebensfreude).
 
@muck: schön beschrieben.

Die Gesellschaft der 1950er Jahre war nicht prüde, aber der Alltag war durch Repressivität geprägt.

Aber nicht für alle.

Mein Vater wohnte in einem Studentenwohnheim in Seeheim-Jugenheim, einer ehemaligen jüdischen Villa. Dort fand 1948 das 3. Treffen der Gruppe '47 statt.
Zu seinen Kommilitonen und Mitbewohnern zählte ein bekannter Nachtjägerpilot, und auch ein Großneffe von Auguste Rodin, es wohnten auch Studentinnen dort. Die Feste waren berühmt und berüchtigt, die Gesinnung war libertin und liberal.

Meine Eltern tingelten Anfang der 1950er Jahre mit dem Auto durch ganz Europa, nicht verheiratet.
Niemals hätte mein Vater, fast 1,90 m hoch und Typ Latin Lover, sich von einem Hotelbesitzer einschüchtern lassen.

Die Prüderie und Repressivität jener Zeit, sie traf die Jungen, die Schwachen und die Vielzahl der abhängig Beschäftigten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wenn man nur die Kritiker der Bücher und Filme berücksichtigt, aber ihren wirtschaftlichen Erfolg untern Tisch kehrt, kommt eben ein total schiefes Bild dabei heraus und man zieht falsche Schlussfolgerungen.
Es gab nicht nur verbale Kritik, sondern auch physische Gewalt – z.B. Stinkbomben vor und in Kinos. Dass das am Ende kontraproduktiv für die Kritiker war, steht auf einem anderen Blatt, denn sie wollten damit die Absetzung der Filme erreichen, was in einigen Fällen zeitweise auch gelang.

Wenn du nun zum Thema Prüderie hast (in Bezug darauf waren die Nazis recht ambivalent), festzustellen, dass FKK „nur für ‚Arier‘“ wieder zugelassen wurde, verkennt das den rassistischen Charakter des NS-Regimes, da „Nichtariern“ der Zugang zu entsprechenden Orten (Bädern, Badestellen in Gewässern) eh bei härtesten Strafen untersagt war. Das hat also nichts mit Prüderie zu tun, sondern mit Rassismus.
Die FKK-Wiederzulassung war ein Akt des Rassismus, die Schließung der FKK-Vereine aber ein Akt der Prüderie. Weil aber FKK in der Weimarer Republik ein Massenphänomen geworden war, musste man bald danach nachgeben und FKK wieder zulassen, natürlich unter der Oberaufsicht der Nazis.

»Prüderie« beinhaltet die Wertung solcher Regeln als ›zu restriktiv im Vergleich zum als richtig empfundenen Maß‹, das meist der gerade herrschenden Norm entspricht.
Das ist wahr. Und noch etwas ist in diesem Zusammenhang vielleicht wichtig: Fast niemand bezeichnet sich als prüde, alle wollen als "normal" gelten.

Man könnte ja auch vom Maß der Kultivierung sprechen, ein Ausdruck, der heute für viele (vorwiegend Männer) wie ein rotes Tuch wirkt, zumal frauenfeindliches Gedankengut aus patriarchalische(re)n Kulturkreisen globalisiert wird und die Belästigung der Frauen bei uns zunimmt.
Komisch, in den 2 Jahrzehnten (ca. 1965-1985), die viel näher an der patriarchalischen Gesellschaft der 1950er Jahre lagen, gab es bei uns die größte Freiheit in Punkto Nacktheit (Miniröcke, FKK) und Sexualität (Pille), doch niemand redete von Belästigungen der Frauen. Warum? Weil gerade Frauen die größten Profiteure der Freiheiten waren. Sie mussten nicht mehr warten, bis ein Mann sie anspricht, sondern konnten selbst aktiv werden. Sie konnten allein in eine Wirtschaft gehen, konnten auf der Straße rauchen, was vorher nur Männern vorbehalten war, etc.

Dass in Schwimmbädern vielerorts die Geschlechter getrennt waren/sind, muss also nicht unbedingt als altmodisch und sexuell verkrampft gewertet werden, sondern kann auch (zumindest aus weiblicher Sicht) als wohltuend gelten, was bspw. die anhaltende Beliebtheit des (bereits von mir erwähnten) Frauenbades in Zürich erklärt.
Wir gehen seit Mitte der 1980er Jahre wieder in Richtung Konservatismus und Repression. Es gibt wieder Dresscodes in Schulen, z.B. keine Minikleider für Schülerinnen mehr und für weibliches Lehrpersonal sind vielerorts wieder BHs vorgeschrieben. Dies gilt vor allem für Privatschulen, die in Punkto Disziplin schon immer konservativer waren und gerade deswegen von Eltern präferiert werden, die sich das finanziell leisten können. Und: Seit den 1980er gibt es Änderungen im Sexualstrafrecht, in dem immer mehr vorher tolerierte Verhaltensweisen jetzt unter Strafe stehen und so die Anzahl der Straftaten erhöhen, was der Gesellschaft das Gefühl gibt, man müsse noch mehr dagegen tun ... Das ist ein sich selbst verstärkender Mechanismus, der erst dann zum Stehen kommt, wenn die Menschen das Gefühl haben, es sei nun alles verboten. Dann gibt es einen Befreiungsschlag - für 20 bis 30 Jahre, wie weiter unten dargelegt. Dann geht es von vorn los.

Natürlich ist dort, wo eine rigide, prüde Moral das Szepter schwingt, in der Regel auch die Doppelmoral stark entwickelt.
Ja, prüde Moral bewirkt nur, dass die Menschen sich nach außen moralisch geben, in Wirklichkeit aber dieselben bleiben wie sie gestern oder vor 1000 oder vor 2000 Jahren waren - nur ist diese "Unmoral" nicht mehr so sichtbar.

Aber die Bundesrepublik der 1950er würde ich schon als einen sehr prüden und restaurativen Staat einschätzen.
In vielen Bestimmungen ging es in den 1950er Jahren weit hinter das Maß von Freiheit und Emanzipation zurück, das in der Weimarer Republik schon einmal erreicht war.
Ja, das ist eine wichtige Beobachtung. Allerdings dauern die Perioden der Freiheit immer ziemlich kurz:

Die Freiheit der Renaissance, in der z.B. Michelangelo völlig nackte Menschen in einer Kapelle malen konnte, dauerte nicht mal 30 Jahre – die Geschlechtsteile wurden noch zu seinen Lebzeiten übermalt.

Die Freiheiten der französischen Revolution wurde mit der Restauration des Wiener Kongresses fast gänzlich abgeschafft und die Gesellschaften versanken global in die Prüderie des Biedermeiers und des Viktorianischen Zeitalters, was bis zum I. Weltkrieg, also 100 Jahre dauerte.

Die Freiheit der Weimarer Republik dauerte nicht einmal 20 Jahre und sie sexuelle Revolution der 68er, wie schon gesagt, auch nicht mehr als 20 Jahre.

Möglicherweise gab es nach den Turbulenzen der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen in den 1950er Jahren eine Restauration. Es wurden aber auch neue Entwicklungen angestoßen, alte Eliten und Autoritäten hatten Vertrauen verloren (z.B. Kirche und Staat), neue Familienmodelle mussten akzeptiert werden …
Neue Entwicklungen wurden in den 1950er nicht angestoßen, Kirchen und Staat haben in der Zeit noch alles kontrolliert. Und es galten weiter die Frauen diskriminiernden Gesetze, obwohl seit 1949 in der Verfassung die Gleichberechtigung von Männern und Frauen vorgeschrieben war.
 
Es gab nicht nur verbale Kritik, sondern auch physische Gewalt – z.B. Stinkbomben vor und in Kinos. Dass das am Ende kontraproduktiv für die Kritiker war, steht auf einem anderen Blatt, denn sie wollten damit die Absetzung der Filme erreichen, was in einigen Fällen zeitweise auch gelang.


Die FKK-Wiederzulassung war ein Akt des Rassismus, die Schließung der FKK-Vereine aber ein Akt der Prüderie. Weil aber FKK in der Weimarer Republik ein Massenphänomen geworden war, musste man bald danach nachgeben und FKK wieder zulassen, natürlich unter der Oberaufsicht der Nazis.


Das ist wahr. Und noch etwas ist in diesem Zusammenhang vielleicht wichtig: Fast niemand bezeichnet sich als prüde, alle wollen als "normal" gelten.


Komisch, in den 2 Jahrzehnten (ca. 1965-1985), die viel näher an der patriarchalischen Gesellschaft der 1950er Jahre lagen, gab es bei uns die größte Freiheit in Punkto Nacktheit (Miniröcke, FKK) und Sexualität (Pille), doch niemand redete von Belästigungen der Frauen. Warum? Weil gerade Frauen die größten Profiteure der Freiheiten waren. Sie mussten nicht mehr warten, bis ein Mann sie anspricht, sondern konnten selbst aktiv werden. Sie konnten allein in eine Wirtschaft gehen, konnten auf der Straße rauchen, was vorher nur Männern vorbehalten war, etc.


Wir gehen seit Mitte der 1980er Jahre wieder in Richtung Konservatismus und Repression. Es gibt wieder Dresscodes in Schulen, z.B. keine Minikleider für Schülerinnen mehr und für weibliches Lehrpersonal sind vielerorts wieder BHs vorgeschrieben. Dies gilt vor allem für Privatschulen, die in Punkto Disziplin schon immer konservativer waren und gerade deswegen von Eltern präferiert werden, die sich das finanziell leisten können. Und: Seit den 1980er gibt es Änderungen im Sexualstrafrecht, in dem immer mehr vorher tolerierte Verhaltensweisen jetzt unter Strafe stehen und so die Anzahl der Straftaten erhöhen, was der Gesellschaft das Gefühl gibt, man müsse noch mehr dagegen tun ... Das ist ein sich selbst verstärkender Mechanismus, der erst dann zum Stehen kommt, wenn die Menschen das Gefühl haben, es sei nun alles verboten. Dann gibt es einen Befreiungsschlag - für 20 bis 30 Jahre, wie weiter unten dargelegt. Dann geht es von vorn los.


Ja, prüde Moral bewirkt nur, dass die Menschen sich nach außen moralisch geben, in Wirklichkeit aber dieselben bleiben wie sie gestern oder vor 1000 oder vor 2000 Jahren waren - nur ist diese "Unmoral" nicht mehr so sichtbar.



Die Freiheiten der französischen Revolution wurde mit der Restauration des Wiener Kongresses fast gänzlich abgeschafft und die Gesellschaften versanken global in die Prüderie des Biedermeiers und des Viktorianischen Zeitalters, was bis zum I. Weltkrieg, also 100 Jahre dauerte.7


Neue Entwicklungen wurden in den 1950er nicht angestoßen, Kirchen und Staat haben in der Zeit noch alles kontrolliert. Und es galten weiter die Frauen diskriminiernden Gesetze, obwohl seit 1949 in der Verfassung die Gleichberechtigung von Männern und Frauen vorgeschrieben war.
Das sehe ich ganz anders. Die Freiheiten der französischen Revolution waren sehr sehr relativ, letzten Endes war die französische Revolution ein allen Menschenrechten widersprechendes Terrorregime, dem in Frankreich Hunderttausende und letztlich in Europa Millionen zum Opfer fielen.

Der napoleonische Code civil wurde in Europa in viele Rechtsprechungen übernommen.

Die Prüderie des Biedermeiers und des Viktorianischen Zeitalters? Ist das nicht ein ganz plattes Klischee?

Mein Punkt ist aber der: Gerade in den 1950er Jahren wurde der Grundstein für eine liberalere Gesellschaft gelegt.

 
Es gab nicht nur verbale Kritik, sondern auch physische Gewalt – z.B. Stinkbomben vor und in Kinos. Dass das am Ende kontraproduktiv für die Kritiker war, steht auf einem anderen Blatt, denn sie wollten damit die Absetzung der Filme erreichen, was in einigen Fällen zeitweise auch gelang.
Darum geht es aber nicht. Es geht darum, dass du eine zu einfache, zu unterkomplexe Gleichung aufmachst.
Stell dir vor, in 70 Jahren diskutiert jemand über die Haltung der EU zu bestimmten politischen Fragen und würde nur die Vorstellungen Visegrád-Gruppe nennen. Das wäre eine üble Verzerrung der EU-Haltung.

So ungefähr ist das, wenn man die zweifelsohne wichtigen Stimmen, die sich gegen die Bücher und Filme richteten nennt, aber eben ihren wirtschaftlichen Erfolg ignoriert.

Die FKK-Wiederzulassung war ein Akt des Rassismus, die Schließung der FKK-Vereine aber ein Akt der Prüderie. Weil aber FKK in der Weimarer Republik ein Massenphänomen geworden war, musste man bald danach nachgeben und FKK wieder zulassen, natürlich unter der Oberaufsicht der Nazis.
Du hast nicht verstanden, was ich monierte, ist aber auch egal.

Komisch, in den 2 Jahrzehnten (ca. 1965-1985), die viel näher an der patriarchalischen Gesellschaft der 1950er Jahre lagen, gab es bei uns die größte Freiheit in Punkto Nacktheit (Miniröcke, FKK) und Sexualität (Pille), doch niemand redete von Belästigungen der Frauen. Warum? Weil gerade Frauen die größten Profiteure der Freiheiten waren.

Nie was von

„Befreit die sozialistischen Eminenzen
von ihren bürgerlichen Schwänzen“

gehört?
Das richteten die weiblichen Mitglieder des SDS an ihre männlichen Genossen.

Wir gehen seit Mitte der 1980er Jahre wieder in Richtung Konservatismus und Repression.
Du meinst, als Helmut Kohl den Rundfunksstaatsvertrag liberalisierte und das Privatfernsehen entstand?

Es gibt wieder Dresscodes in Schulen, z.B. keine Minikleider für Schülerinnen mehr und für weibliches Lehrpersonal sind vielerorts wieder BHs vorgeschrieben.
Ich hab noch nie davon gehört, dass es eine Schulverordnung gäbe, die Frauen das Tragen eines BH vorschriebe. Ist Na-Bra nicht gerade der heiße Scheiß?

Seit den 1980er gibt es Änderungen im Sexualstrafrecht, in dem immer mehr vorher tolerierte Verhaltensweisen jetzt unter Strafe stehen und so die Anzahl der Straftaten erhöhen, was der Gesellschaft das Gefühl gibt, man müsse noch mehr dagegen tun ...
Welche Verschärfung schwebt dir den gerade vor? Vergewaltigung in der Ehe? Nein heißt nein?
 
Müßig zu erwähnen, dass sexualmoralische Regeln seit eh und je eine Notwendigkeit der Gesellschaft waren/sind, um deren (vorwiegend weiblichen) Individuen vor sexueller Belästigung und Gewalt zu schützen, was das Verhalten der (vorwiegend männlichen) Individuen beschränkt. »
Spannend. Würdest Du tatsächlich sagen, dass solcher Schutz allen (vorwiegend weiblichen) Wesen gewährt werden sollte und sich nicht viel eher in der Regel auf Töchter insbesondere der selben sozialen Schicht konzentrierte (womöglich zur Aufrechterhaltung der Heiratsfähigkeit)? Rangniedrigere weibliche Wesen galten nach meinem Eindruck (zumindest im "westlichen Kulturbereich") über weite Strecken der Geschichte zumindest Männern als potentielles sexuelles Freiwild. Oder täusche ich mich?
 
Der Punkt ist, daß es hier nicht um ein Schwimmbad geht. Das Stadtbad bot Leuten, die so etwas nicht zu Hause hatten, Wannenbäder an. Und das tut man üblicherweise nackt, so daß da getrennte Zeiten durchaus nachvollziehbar sind.
 
Komisch, in den 2 Jahrzehnten (ca. 1965-1985), die viel näher an der patriarchalischen Gesellschaft der 1950er Jahre lagen, gab es bei uns die größte Freiheit in Punkto Nacktheit (Miniröcke, FKK) und Sexualität (Pille), doch niemand redete von Belästigungen der Frauen. Warum?
Weil es als altmodisch gegolten hätte. Bsp. das Baden oben-ohne, das nicht nur erlaubt, sondern eigentlich ein Muss war, sofern die Frauen nicht als »prüde« abgestempelt werden wollten.(weiß ich aus Erzählungen von Betroffenen)

Zwei Anmerkungen zum »Befreiungsschlag«, wie Du die 1970–1980er nennst:
• Heute zwar tabou die Erwähnung (da ziemlich unkorrekt, Homosexuelle anzuklagen), aber zumindest in Zürich wurden Päderasten toleriert (gemeint hier: mit Vorliebe für Teenager), sodass Schüler in der Bahnhofunterführung Shop-Ville täglich von Schwulen verfolgt und angesprochen wurden. Und zwar über viele Jahre, bis dies (vmtl.) irgendwann in den 1980ern abgestellt wurde.
• Geradezu verheerende Folgen hatte die sorglose Propagierung der Kindfrau als Sexobjekt. Bekanntes und extremes Bsp. wäre der Fall der späteren Schauspielerin Eva Ionesco, die mit Elf als Playmate im it. Playboy posierte, und später klagte. Die Verherrlichung der Kindfrau zwang Frauen nicht nur zu Mager-Figuren (mit unzähligen Bulimie-Opfern, darunter ein junges Mädchen in meinem Bekanntenkreis), sondern dürfte, wie ich annehme (ohne Zahlen zu kennen), eine große Anzahl von Pädophilen produziert haben.
 
@viktorianisches/wilhelminisches Zeitalter
Dass viktorianische respektive wilhelminische Zeitalter gilt uns als prüde. Und das war es in diesem Sinne auch, eine (männerbevorzugende) restriktive Sexualmoral. Wir können das im Untertan ganz gut sehen (siehe auch Neddys Beitrag #32): Der Student Diderich Heßling verführt die Tochter eines in Schwierigkeiten steckenden Geschäftsfreundes seines Vaters, die ihm intellektuell eigentlich sogar überlegen ist. Ihr Vater stürzt ab und kommt als Bittsteller zu dem von ihm zuvor als Sohn eines Geschäftsfreundes protegierten Studenten, doch Heßling weist ihn nonchalant zurück.
Stattdessen heiratet Heßling eine ihm zwar geistig unterlegene, dafür aber nicht nur finanziell gutgepolsterte junge Dame aus seinem Heimatstädtchen.
Gegenüber seinen Arbeitern setzt er andere Maßstäbe, als an sich selbst. Er, der im Studium die Tochter des Geschäftsfreundes verführte und sie dann als leichtes Mädchen zurückweist, der für sich in Anspruch nimmt, zu Prostituierten zu gehen (oder verwechsele ich ich den Untertan mit den Armen?) entlässt z.B. einen Arbeiter, den er mit einem Mädchen im Lumpenlager seiner Papierfabrik erwischt. Derselbe Arbeiter wird, als er Abends betrunken randaliert, erschossen (stimmt das, bin mir gerade nicht sicher). Was moralisch erlaubt und verboten ist, ist also eine Frage des Geschlechts wie auch der sozialen Klasse.
Gehen wir in die historische Wirklichkeit, so gab es aus dem direkten Umfeld von Wilhelm II. einen Sexskandal, der sich gewaschen hatte, den Fall Grunewald, den man heute wohl als Swingerparty bezeichnen würde, wobei man nicht straight blieb.

(Edit: verunglückten Satz korrigiert)
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Freiheiten der französischen Revolution wurde mit der Restauration des Wiener Kongresses fast gänzlich abgeschafft und die Gesellschaften versanken global in die Prüderie des Biedermeiers und des Viktorianischen Zeitalters, was bis zum I. Weltkrieg, also 100 Jahre dauerte.
Ich dachte eigentlich immer, die seien schon unter der Guillotine in der Zeit der "Grande Terreur" abgeschafft worden.
Jedenfalls halte ich die Moralvorstellungen der damals Tonangebenden Jakobiner teilweise für ziemlich spießig und übergriffig und die verstanden relativ wenig spaß, wenn sich jemand nicht so verhielt, wie es die "Bürgertugenden" oder was sie dafür hielten verlangten.
 
Spannend. Würdest Du tatsächlich sagen, dass solcher Schutz allen (vorwiegend weiblichen) Wesen gewährt werden sollte und sich nicht viel eher in der Regel auf Töchter insbesondere der selben sozialen Schicht konzentrierte (womöglich zur Aufrechterhaltung der Heiratsfähigkeit)? Rangniedrigere weibliche Wesen galten nach meinem Eindruck (zumindest im "westlichen Kulturbereich") über weite Strecken der Geschichte zumindest Männern als potentielles sexuelles Freiwild. Oder täusche ich mich?
Gut, langsam verstehe ich, was Du meinst… Wie ich annehme, dürfte in den 1950ern die Ausnutzung der Hierarchie auch bei sexuellen Belästigungen/Übergriffen abgenommen haben, obschon bis heute gang und gäbe, auch wenn bei der Rechtsprechung das Strafmaß erhöhend. Ob das schon in den 1950ern so war, weiß ich nicht; vielleicht theoretisch, aber die Obrigkeitshörigkeit (insbesondere im deutschsprachigen Raum) bestimmt größer als heute. Und gerade weil das öfters passiert, sind Regeln notwendig…

[Übrigens cool die neue Funktion, neu hinzugekommene Beiträge anzuzeigen, während man schreibt! :cool: ]
 
Zuletzt bearbeitet:
Aber die Bundesrepublik der 1950er würde ich schon als einen sehr prüden und restaurativen Staat einschätzen.
Vielleicht hatten die späten 40er und 50er aber auch andere Probleme zu bewältigen: die Wiederherstellung eines Wohlstands, der in der Schlussphase des Kaiserreichs geherrscht hatte, lang war's her. Fresswelle und Bauboom beherrschten die Lebenswelt, die im Krieg gründlich weggebombt worden war. Das heute noch bekannte Lied von Ralf Bendix bringt es auf den Punkt:
Schaffe, schaffe Häusle baue
und ned nach de Mädle schaue...
"Sex" war etwas für diejenigen, die Zeit dafür hatten (Gunter Sachs u.ä.). Für die anderen galt: Kinder machen, das reichte allemal. Diesen Punkt hat Adenauer in seiner Rentengesetzgebung berücksichtigt: "Kinder kriegen die Leute immer." Als die Prüderei in den 60er Jahren abnahm, nahm aber auch die Zahl der Kinder ab; ich finde das ein interessantes Phänomen.
 
Die Prüderie des Biedermeiers und des Viktorianischen Zeitalters? Ist das nicht ein ganz plattes Klischee?
Beim Biedermeier könntest du recht haben, für so prüde halte ich die Zeit nicht. Bei der Victorianischen Zeit (so weit sie sich mit de Biedermeier nicht überschneidet) würde ich dir widersprechen, die hatte schon extrem schräge Sozialkonventionen.
 
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