Das war keine Prüderie, sondern Freiheit. Es gab Badezeiten für Männer, für Frauen, und das "Familienbad".
Frauen konnten unbeobachtet sein, wenn sie wollten. Oder sich mit Freundinnen im Bad treffen. Sie konnten dennoch auch andere Badezeiten wählen, wenn sie Lust auf Kontakt zum anderen Geschlecht hatten.
Die 1950er Jahre waren keineswegs prüde. Es gab Affairen, Seitensprünge, Betriebsfeiern, Kegelausflüge, Kurschatten.
Was eine große Rolle gerade am Anfang der 1950er Jahre spielte: es gab eine große Konkurrenz unter Frauen insofern als es in der Kriegsgeneration einen Frauenüberschuss gab.
Ein anderes Problem war, dass in den Frauenhandbüchern ubd den verbreiteten Frauenratgebern vielfach das Ideal eines Heimchens am Herd propagiert wurde, und jüngere Frauen sozial stark durch andere Frauen kontrolliert wurden: sei es durch die Schwiegermutter, die eigene weibliche Verwandtschaft, oder die Nachbarn.
In der Generation meines Vaters sah ich jedoch viele (akademisch geprägte) Frauen, die eine wache Sexualität und intellektuelle Offenheit hatten. Es wurde sehr viel gelesen, viele Leute waren gut informiert, und es war so dass Leute sich über bestimmte Themen sehr stark austauschten.
Natürlich ist dort, wo eine rigide, prüde Moral das Szepter schwingt, in der Regel auch die Doppelmoral stark entwickelt.
Das viktorianische Zeitalter, auch der Wilhelminismus war sehr ausgeprägt, und um die gleiche Zeit malten die Impressionisten freizügige Bilder und Henri de Toulouse Lautrec die Prostituierten von Montmarte, tanzten gestern Mata Hari und morgen Josephine Baker nackt, schrieb Leopold von Sacher-Masoch die "Venus im Pelz", und Siegmund Freud über Ödipuskomplex und Magnus Hirschfeld entwickelte sich zum "Einstein des Sex".
Wenn man die Kriminalakten der Rosemarie Nitribit liest oder die Memoiren von Gunther Sachs oder Arndt von Bohlen und Hallbach, dann ließ man auch in der jungen Bundesrepublik die Puppen tanzen.
Aber die Bundesrepublik der 1950er würde ich schon als einen sehr prüden und restaurativen Staat einschätzen.
In vielen Bestimmungen ging es in den 1950er Jahren weit hinter das Maß von Freiheit und Emanzipation zurück, das in der Weimarer Republik schon einmal erreicht war.
-Der § 175 (Schwulenparagraph) aus dem Kaiserreich und im Nazireich verschärft wurde in der BR beibehalten.
- Die Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen war extrem restriktiv und repressiv- in diesem Punkt war die DDR liberaler.
- Eine Frau, die berufstätig sein wollte, brauchte dazu die Erlaubnis des Ehemanns. Während des Krieges hatten Frauen ihren Mann stehen müssen, hatten in vielen Bereichen männliche Berufe ausgeübt- in den 1950er Jahren wurden sie wieder an den Herd verbannt.
-Der sogenannte Kuppel-Paragraph war bis Ende der 1960er in Kraft.
Meine Mutter erzählte mir immer, dass ich in einem VW-Käfer gezeugt wurde. In ein Motel oder Hotel hätten sie nicht gehen können. Der Hotelier hätte sich strafbar gemacht, wenn er ihnen ein Doppelzimmer vermietet hätte, da sie noch nicht verheiratet waren.
Bei einem Familienbesuch bei einer Verwandten wurden ihnen getrennte Schlafzimmer gegeben. Da war mein Vater 25 und meine Mutter 24 Jahre alt, mein Vater Medizinstudent und meine Mutter Sekretärin. 1967 haben meine Eltern geheiratet, meine Großeltern waren alle recht liberal. Meine Eltern haben aber trotzdem auch aus Rücksicht auf Konventionen geheiratet, ein uneheliches Kind zu bekommen, war zumindest auf dem Lande im Jahre 1967 immer noch ein Makel, und meine Geburt hatte so einen leicht verruchten Touch, denn als "7 Monate-Kind" war ich nicht unehelich geboren, aber doch unehelich gezeugt. Verhütungsmittel in einer Apotheke zu kaufen oder ein Schäferstündchen mit einer festen Partnerin zu organisieren, erforderte einige Verrenkungen- Jahre später erzählt, haben meine Eltern immer darüber gelacht.
Da kann man auch drüber lachen, aber wenn man sich mal vergegenwärtigt wie und unter welchen Voraussetzzungen die 1. Nachkriegs-Generation ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen musste- da gab es schon vieles, was in der jungen Bundesrepublik sehr prüde, sehr verklemmt und repressiv war, was einem fast unfassbar vorkommt.
Meine Eltern das waren auch keine wilden 68er, die haben wohl mal eine Anti-Vietnamkrieg Demo mitgemacht, aber die hätten in Woodstock Zustände gekriegt.
Vom Diskussions-Stil und der Polemik des Diskurses kann man sicher so Manches auch gegen die 1968er sagen, und längst nicht alles, was gefordert wurde machte Sinn.
Wenn man sich aber den Zustand der Nachkriegsgesellschaft der BRD ansieht, wenn man mal die Zustände in den späten 1960ern und den späten 1980ern betrachtet und abgleicht, so waren doch viele Anliegen der 1968er Bewegung berechtigt, es war die "sexuelle Revolution" notwendig.
Das, was meinen Eltern anno 1967 noch etwas verrucht erschien und für die Generation der Großeltern vielfach noch als ein absolutes "No-Go" erschien, war in den 1980ern bereits selbstverständlich geworden. Dass es meiner Generation aber bereits selbstverständlich erschien- das lag zum großen Teil daran, dass die Generation meiner Eltern, die Generation der 1968er uns die Tür aufgestoßen hat.
Mag die "Subversion", das Verruchte auch heute sehr moderat und sehr unschuldig erscheinen.