Wie weit in den Alltagleben reichte die Macht der Kirche(n)?

Das Beispiel mit Heinrich VIII. zeigt sehr schön, dass man sich aus der Umklammerung der römisch-katholische Kirche nur lösen konnte, indem man sie durch eine eigene Kirche ersetzte, mit sich selbst als deren Oberhaupt.
Nein. Heinrich machte sich zum Oberhaupt "seiner" Kirche, um die Federführung bei der Abwicklung des Vermögens der englischen Diözesen und Klöster zu haben. Außerdem entsprach es seinem Sendungsbewusstsein – der er für seine Schriften wider Luther sogar vom Papst den Ehrentitel eines Verteidigers des Glaubens erhalten hatte –, die Religion in England ausschließlich in die eigenen Hände zu legen.

Andere Reformationsbewegungen des Mittelalters und der Neuzeit, zumal dediziert theologisch (und nicht politisch-fiskalisch!) motivierte, waren ganz anders organisiert – mitunter sogar dezentral und protodemokratisch, wie im Falle der Hussiten. Die anglikanische und die lutherischen Kirchen stellten unter den Reformatoren die Ausnahme war, eigentlich ist es ein Wesensmerkmal aller anderen Reformbestrebungen seit dem Hochmittelalter, die Organisationsform der Amtskirche und den weltlichen Machtanspruch des Klerus abzulehnen.

@Dion, ich lese Deine Beiträge zu allen Themen sehr gerne – bis auf zu diesem. @Shinigami hat Recht: Wenn es um Religionen geht, hast Du einen irrationalen Beißreflex, der umso stärker auffällt, als Du Dein Diskussionsverhalten auf einmal völlig ins Gegenteil verkehrst und inhaltlichen Auseinandersetzungen nicht mehr zugänglich bist.

Ich erlaube mir diese direkte Ansprache, weil ich nicht möchte, dass Du den Eindruck erhältst, das ganze Forum sei gegen Dich – wir haben auf diese Weise heuer schon genug Mitglieder verloren. Aber gerade weil ich Dich nicht verlieren möchte, will ich Dich bitten, einmal innezuhalten und zu erwägen, ob an der von so vielen Mitdiskutanten geäußerten Kritik nicht doch etwas Wahres sein könnte.

Es gibt da ein jiddisches Sprichwort … Wenn dich jemand einen Esel nennt, dann nenn ihn ein Rindvieh; wenn dich ein zweiter einen Esel nennt, dann spuckt ihm vor die Füße; aber wenn dich ein dritter einen Esel nennt, fängst du besser an, dich nach einem Stall umzusehen.
 
Das Beispiel mit Heinrich VIII. zeigt sehr schön, dass man sich aus der Umklammerung der römisch-katholische Kirche nur lösen konnte, indem man sie durch eine eigene Kirche ersetzte, mit sich selbst als deren Oberhaupt.

Aber danke, @Scorpio, dass du das eigentliche Thema des Fadens wieder aufgegriffen hast; nur so werden wir vom leidigen Thema Nazis, Hitler und MK wegkommen.


Das leidige Thema hast du doch selbst zur Sprache gebracht.



Wenn ein König Blaubart mal eben so seine eigene Kirche aufmacht, sich selbst zum Kirchenoberhaupt macht und die Kirche von all ihren irdischen Besitztümern in England befreien kann, dann ist das doch viel eher ein Indiz dafür, dass es mit der politischen Macht des Papstes nicht weit her ist, und dass er auch ideologisch-spirituell keine oder nicht genügend Macht besitzt. Eine solche Kirche, ein solches Papsttum ist alles mögliche, aber sicher nicht allmächtig ist.

Bei Heinrich IV. genügte noch ein Bannstrahl von Papst Gregor VII. und der Kaiser musste ganz kleine Brötchen backen, bzw. nach Canossa.

Gregor VII. wählte als Grabinschrift: Ich liebte die Gerechtigkeit und hasste das Unrecht-Deswegen sterbe ich in der Verbannung. Gregor VII. wurde 1084 auf der Synode von Brixen abgesetzt und exkommuniziert. Bischof Wilbert von Ravenna wurde als Clemens III. zum Gegenpapst ausgerufen.
Gregor VII. war durchaus so etwas wie "der starke Mann", als solcher ging er aber den Kardinälen gewaltig auf den Sack, und sie suchten sich einen schwachen Mann als Gegenpapst. Gegenpäpste gab es am laufenden Meter, und für mehr als 80 Jahre geriet das Papsttum unter Kuratel des Königs von Frankreich.

Weißt du was, ich unterstütze dich mal argumentativ!


Das Beispiel Heinrich VIII. zeigt sehr schön: Nicht die Allmacht der Kirche/des Papstes,

aber dass diese Kirche den Hang zum starken Mann hatte- sonst hätte sie wohl kaum hingenommen, dass der Blaubart: 1. seine eigene Kirche aufmacht, 2. sich selbst zum Kirchenoberhaupt macht und 3. die Kirche von all ihren irdischen Besitztümern befreit.
 
Das Beispiel Heinrich VIII. zeigt sehr schön: Nicht die Allmacht der Kirche/des Papstes,

aber dass diese Kirche den Hang zum starken Mann hatte- sonst hätte sie wohl kaum hingenommen, dass der Blaubart: 1. seine eigene Kirche aufmacht, 2. sich selbst zum Kirchenoberhaupt macht und 3. die Kirche von all ihren irdischen Besitztümern befreit.
Ach, @Scorpio, du weißt sicher so gut wie ich, dass die katholische Kirche die Entscheidung Heinrichs VIII. nicht hingenommen, sondern lange versucht hatte, diese Entscheidung rückgängig zu machen, ja sie ging so weit, französischen König und deutschen Kaiser zu überreden, in England einzumarschieren, um den ungehorsamen und exkommunizierten Heinrich VIII. doch noch (gewaltsam) in den "Schoß" der katholischen Kirche zurückzubringen.
Die "Liebe" dieser Kirche kennt offenbar keine Grenzen. :D

Auch später hat die katholische Kirche nichts unversucht gelassen, seine Tochter und Thronnachfolgerin Elisabeth I. vom Thron zu stoßen und sie durch katholische Maria Stuart zu ersetzen. Doch das ist alles bekannt, unnötig hier in Einzelheiten zu gehen.
 
Ja, sinngemäß du, indem du sagtest, das Buch sei „mit seinen fast 800 Seiten ein inhaltlich wirrer und sprachlich unbeholfener Schinken“, also könne es kein Bestseller gewesen sein.
Das glaubst Du doch selber nicht, dass ich das "sinngemäß" geschrieben habe. Diese Spielchen kannst Du Dir sparen. Geschrieben habe ich:
... dass es wohl eher ein Witz ist, wenn Wiki angesichts der Zahlen von einem "Bestseller" sogar in den 1920er Jahren spricht.

Die Verkaufszahlen in den 1920er Jahren waren ja kläglich, da kann von einem "Bestseller" keine Rede sein. Ob man ab 1931, 1932 oder 1933 von einem Bestseller sprechen kann, ist Definitionssache, da kannst Du meinetwegen (wie bereits von mir geschrieben) die 100.000er-Marke nehmen, damit habe ich keine Probleme. Eine amtliche Definition gibt es nicht.
Als „Bestseller" wurde ein Roman definiert, der innerhalb der Jahre 1933 bis 1944 im Gesamtabsatzgebiet Deutschland eine Auflage von mindestens 300 Tausend Exemplaren erreicht hat.
https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2004_1_2_schneider.pdf


Das Wesentliche ist: Der damalige Nuntius in Deutschland, Eugenio Pacelli
Ob Pacelli damals, als er Nuntius in Deutschland war, das Buch gelesen hat, wage ich zu bezweifeln. Was ich oben zu Pacelli geschrieben habe, bezieht sich auf seine Zeit als Staatssekretär. Hierzu noch einige erhellende Zitate:

"Pacelli war von seiner inneren Struktur her kein moderner Mensch, sondern ein Vertreter des Ancien regime, ein Mann der Höfe, der daran glaubte, alles mit Diplomatie lösen zu können, ein vorbürgerlicher Mensch. Er hatte die Überzeugung, die Kirche besitze keine Macht mehr auf der Straße, d. h. in der Öffentlichkeit. Und eben dies wurde der Kirche in Deutschland seit 1933 fast täglich und mit zunehmender Aggressivität demonstriert. Die einzige Möglichkeit, die blieb, war die der Diplomatie." (Burkard S. 246)

"Die Annahme, Pacelli habe einen Syllabus, also ein Verzeichnis von zu verdammenden nationalsozialistischen Irrtümern, aus diplomatisch-politischen Gründen abgelehnt, ist berechtigt. Denn eine derart direkte Konfrontation in Form einer eindeutig negativen Verurteilung einzelner Sätze konnte nicht nur, sie musste geradezu irreparable diplomatische Schäden verursachen. Umso mehr, als die römischen Erfahrungen mit der lehramtlichen Form eines Syllabus alles andere als positiv waren. Sowohl der Syllabus Pius' IX. von 1864 als auch jener Pius. X. von 1907 hatte zu erheblichen diplomatischen Verstimmungen geführt, nicht zuletzt aber in den Ortskirchen eine breite Spur der Verwüstung hinteralssen. Es wundert also nicht, wenn ein Syllabus aus diplomatisch-politischer Perspektive als nicht gangbarer und schon gar nicht als optimaler Lösungsweg betrachtet wurden. Bezeichnenderweise kam es auch zu keinem Syllabus gegen den Kommunismus, selbst wenn es stimmen sollte, dass Pacelli diesen - zumal angesichts der schrecklichen Erfahrungen im spanischen Bürgerkrieg - für schlimmer erachtete als den Nationalsozialismus. Erhellend ist hier die Auskunft Hudals im unveröffentlichten Teil seiner Tagebücher, Pacelli habe auch alle Äußerungen gegen den Kommunismus immer wieder bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt" (Burkard S. 244)


Und weiter? Es gab keinen Syllabus gegen den Kommunismus, das ist Fakt. Marx und Engels wurden nicht auf den Index gesetzt. Das ist Fakt. Lenin und Stalin wurden auch nicht auf den Index gesetzt. Das ist Fakt.

Und die NSDAP wurde größtenteils von Rechtshändern gewählt.
Auch das ist Fakt.
 
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Was zur Reformation wohl noch gesagt sein sollte, um sie im Sinne dieses Themas richtig einzuordnen: Praktisch alle reformatorischen Bestrebungen mit eigenem theologischen Programm (also ausgenommen Splittergruppen mit eher diffuser Stoßrichtung wie die Petrobrusianer und Dolcinianer) waren im Grunde klassische (klein-)bürgerliche Revolutionen im Sinne von Orwells 'Road to Wigan Pier'.

Wycliff, Hus, Luther, Melanchthon, Zwingli, Calvin – die Reformatoren waren Akademiker, etablierte Kleriker, Mitglieder der Mittelschicht der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Gesellschaft. Unterstützer fanden sie vor allem unter ihresgleichen, im städtischen Bürgertum sowie im verarmenden Landadel; Luther und Cranmer überdies auch im Hochadel, als dieser die Möglichkeiten erkannte, die eigene Macht zu mehren, welche die Reformation ihnen zu bieten versprach.

Die Reformation war hingegen kein Projekt der Massen – der Bauern, Bediensteten, unzünftigen Handwerker –, die immerhin 90% der Bevölkerung ausmachten. Anders als häufig dargestellt, handelte es sich nicht sozusagen um eine theologische Hungerrevolte. Nicht selten musste die neue Lehre sogar gegen den Willen der Massen durchgesetzt werden, in einigen Fällen (wie England) mit Brachialgewalt.

Der böhmische Kätner, englische Scherenschleifer, urner Reisläufer – die einfachen Leute störten sich wohl zwar an der Prachtentfaltung des Klerus, aber wollten auch weiterhin in bunt geschmückten Kirchen ein ausgelassenes Weihnachtsfest feiern, weiterhin die Jungfrau Maria verehren, weiterhin zu Sankt Laurentius beten, wenn ihnen der Rücken wehtat. Und in der Hauptsache wollten sie als Teil des Laienstands anerkannt und weder von Königen noch Reformatoren bevormundet werden.

Es wäre also falsch, die Umstände der Einführung der Reformation als Beweis für den langen Arm der römischen Kurie zu deuten. Man muss sie auch aus einem innenpolitischen und sozialen Blickwinkel betrachten. Vielleicht wird man sogar – vor dem Hintergrund des Kontrasts zur Eidgenossenschaft und dem hussitischen Böhmen – schlussfolgern, dass die innere politische Verfassung der Feudalreiche für die Reformation ein weit größeres Hindernis darstellte als die katholische Kirche.
 
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Die Reformation war hingegen kein Projekt der Massen – der Bauern, Bediensteten, unzünftigen Handwerker –, die immerhin 90% der Bevölkerung ausmachten. Anders als häufig dargestellt, handelte es sich nicht sozusagen um eine theologische Hungerrevolte.
Das ist sicher richtig. Dennoch übt die protestantisch gewordene Bevölkerung ihren Glauben mit größerer Gewissenhaftigkeit aus als die katholische den ihren. Bei den Katholiken gibt es kaum diesen Glaubenseifer – es herrscht oft ein erstaunliches Laissez-faire, das auffällt, weil die katholischen Kleriker, besonders die höheren Ränge, eine Sittenstrenge von ihren Schäfchen verlang(t)en, die kaum jemand, oft auch sie selbst nicht, erfüllen kann oder konnte.

Wer den Film Babettes Fest kennt, weiß, was ich meine.
 
Dennoch übt die protestantisch gewordene Bevölkerung ihren Glauben mit größerer Gewissenhaftigkeit aus als die katholische den ihren. Bei den Katholiken gibt es kaum diesen Glaubenseifer
Ich habe dazu keine Datengrundlage, kann das also weder bestätigen noch bezweifeln - aber dennoch glaube ich das nicht: katholischen Glaubenseifer par excellence durfte ich beim besichtigen mehrerer polnischer Kirchen sehen; dergleichen ist mir in keiner protestantischen Kirche bislang begegnet.
(das katholische Bistum Freiburg verbot Applaus (als unangemessenen weltlichen Tand in einem Gotteshaus) bei der Aufführung von Verdis Requiem - bei musikal. Aufführungen in protest. Kirchen kenne ich kein solches Verbot)
 
Filme taugen wohl eher nicht zur Erhärtung dieser These, und wie @dekumatland richtig einwendet, sind die einzelnen Landeskirchen gesondert zu betrachten. Die katholische Kirche in Irland oder Polen ist nicht die gleiche wie in Deutschland oder Italien. Ich würde hier eher gesellschaftliche als theologische Ursachen vermuten, etwa Wohlstand und Mentalität der zu betrachtenden Bevölkerung.

Gut möglich, dass man auch Wechselwirkungen zur jeweils dominierenden kulturellen Strömung finden wird, zur damit verbundenen Mentalität. So ist in der Renaissance der Moralbegriff ein gänzlich anderer als im 19. Jahrhundert. Während sich zu Kinis Zeiten ein mit einer Frau ertappter Bischof in München nicht wieder hätte öffentlich blicken lassen können, hätte desselben Bischofs Vorgänger fünfhundert Jahre zuvor mit seiner Geliebten kaum Aufsehen erregt. Es gehörte für einen "großen Mann" einfach dazu.

Nachtrag: Sollte die breite Masse der Protestanten wirklich frömmer (gewesen) sein als die der Katholiken, würde ich zuallererst an einen Zusammenhang mit dem Sakrament der Beichte denken. Der Katholik kann seine Sünden beichten und Vergebung erlangen, der Protestant schleppt sie mit sich herum.

Und um Zeitalter der Reformation selbst mag eine Rolle gespielt haben, dass Neophyten sich fast immer durch Orthodoxie auszeichnen, sie wollen's besonders richtig machen.
 
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Der Katholik kann seine Sünden beichten und Vergebung erlangen, der Protestant schleppt sie mit sich herum.
Nö, im protestantischen Gottesdienst wird immer um die Vergebung der Sünden gebeten, die Gott dann auch - aus protestantischer Sicht - der gesamten Gemeinde erteilt. Es ist Protestanten auch möglich, ohne Gottesdienst "im Gespräch mit Gott" als innere Beichte die Vergebung von Sünden zu erlangen.
Bei der Zahl der Kirchenaustritte lagen die Protestanten in den vergangenen Jahren immer vorne. Erst seit 2019 traten mehr Menschen aus der katholischen Kirche aus als aus den protestantischen Landeskirchen. Das spricht nicht gerade für die These, dass Protestanten gläubiger als Katholiken seien. Ich frage mich auch, wie will man "Frömmigkeit/Gläubigkeit" eigentlich messen, um da zu belastbaren Zahlen zu kommen.
 
Nö, im protestantischen Gottesdienst wird immer um die Vergebung der Sünden gebeten, die Gott dann auch - aus protestantischer Sicht - der gesamten Gemeinde erteilt. Es ist Protestanten auch möglich, ohne Gottesdienst "im Gespräch mit Gott" als innere Beichte die Vergebung von Sünden zu erlangen.
Wieder was gelernt, ich dachte, dieser Teil der protestantischen Messe hat nicht den gleichen Rang wie die katholische Absolution, sondern kommt nur einer Fürbitte gleich.
Bei der Zahl der Kirchenaustritte lagen die Protestanten in den vergangenen Jahren immer vorne. Erst seit 2019 traten mehr Menschen aus der katholischen Kirche aus als aus den protestantischen Landeskirchen. Das spricht nicht gerade für die These, dass Protestanten gläubiger als Katholiken seien. Ich frage mich auch, wie will man "Frömmigkeit/Gläubigkeit" eigentlich messen, um da zu belastbaren Zahlen zu kommen.
In Deutschland dürfte die Zahl der bibeltreu lebenden Christen heute verschwindend gering sein.

Aber auch die Kirchenaustritte taugen nicht als Maß für persönliche Frömmigkeit, der Kirchenaustritt kann ja auch z.B. aus Protest gegen die schleppende Aufarbeitung der Missbrauchsskandale erfolgen oder aus steuerlichen Gründen, ohne dass sich damit im Verhältnis der Person zu Gott und Religion etwas ändert.

Wobei ich mich manchmal frage, ob diese oft genannten Gründe wirklich die einzigen sind. Angesichts des Wachstums der altkatholischen Kirche und der Freikirchen könnte man sogar fragen, ob nicht gerade die Frommen die Kirchen verlassen. Ich selbst habe mit der Kirche nichts am Hut, kann mir aber durchaus vorstellen, dass sich Menschen, die ihr Leben wirklich an der Bibel ausrichten wollen, in den beiden großen Kirchen heute nicht mehr aufgehoben fühlen.

Man liest viel entsprechende Kritik in Leserbriefen und Meinungsartikeln, und es fällt auch z.B. in den Predigten auf – ob ich jetzt hier am Ort mal in die Kirche gehe, um mir anzuhören, was der Pfarrer so erzählt, oder die online übertragenen Gottesdienste von Kirchen überall im Land angucke –, dass da wenig von Spiritualität und Bibel die Rede ist, und viel von Politik.

Gerade die EKD scheint sich mir ziemlich politisiert zu haben, aber es fällt dem analytischen Leser auch der Unterschied zwischen Papst Franziskus und seinem Vorgänger auf. Wo sich Benedikt XVI., ganz der Theologieprofessor, auf fast abstrakte Weise an "seine" Gläubigen wandte und viel zum Leben und Wirken Jesu, den Sünden, dem ganzen theoretischen und spirituellen Unterbau des Katholizismus zu sagen hatte, redet Franziskus eher über Klimawandel und Flüchtlinge, zu Spiritualität scheint er mir nicht anzuregen.

Ist halt blöd für Leute, die sich für Spiritualität und Jesus interessieren …
 
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Wieder was gelernt, ich dachte, dieser Teil der protestantischen Messe hat nicht den gleichen Rang wie die katholische Absolution, sondern kommt nur einer Fürbitte gleich.
Der Begriff "Messe" wird so weit ich weiß nur in der katholischen Kirche verwendet. Protestanten sprechen vom Gottesdienst.
Ich bin in religiösen und theologischen Themen nicht so bewandert, aber ist eine "Fürbitte" nicht ein Gebet an Gott (oder u.U. einen Heiligen in der katholischen Kirche), um ihn um eine Gunst für jemanden anderes und nicht sich selbst zu bitten?
Die großen christlichen Kirchen haben ja alle gemein, dass sie glauben, dass Jesus für unsere (persönlichen) Sünden gestorben sei. Dadurch dass man einsieht, dass man Sünden begangen habe, werden diese auch von Gott vergeben. Bei Katholiken erfolgt diese "Einsicht" in Form einer Beichte. Bei Protestanten ist diese "Einsicht" u.a. ein Teil der Liturgie des Gottesdienstes.
 
Persönlich bin ich katholisch erzogen und habe meinen letzten protestantischen Gottesdient in der Schule gesehen. Immerhin weiß ich aber noch, dass der hauptsächliche Unterschied zwischen Katholizismus und den reformierten Kirchen, was das Verhältnis des Gläubigen zu Gott angeht, im "sola gratia" besteht.

Demnach kann der Gläubige nicht aus eigener Kraft die Gnade Gottes erlangen, sondern Gott vergibt oder verweigert sie nach Grundsätzen, die dem Menschen unbekannt und unbegreiflich sind.

Bei den Katholiken ist die Beziehung zu Gott eine andere, der Gläubige kann durch gute Taten Gottes Gnade erlangen; und bereut er aufrichtig, hat er sogar Anspruch auf die Vergebung seiner Sünden. Luther sah darin einen schäbigen Tauschhandel, der Gottes Allmacht schmälere, deswegen (und aufgrund der fehlenden biblischen Begründbarkeit) lehnte er die Ohrenbeichte und den Ablasshandel ab.

Das ist es, was ich meinte, als ich auf die Absolution verwies. Der Protestant kann hoffen, dass ihm vergeben wird, der Katholik weiß es im Moment des "ego te absolvo".

Manche Autoren sehen in der "sola gratia"-Lehre sogar die Geburtsstunde des Kapitalismus und von ebender Mentalität, die z.B. die frühneuzeitlichen Niederlande erfolgreich machte.

Denn damit einher ging die Vorstellung, dass sich die Gnade Gottes in Erfolg, Glück, Gesundheit usw. zeigte. Wer reich, gesund und schön war, dem war Gott also wohlgesonnen, und man hatte (zusätzlich zu den handfesten Vorteilen) auch einen theologischen Grund, hart zu arbeiten und nach Wohlstand zu streben, das zeigte jedem, wie man sich mit dem Herrgöttl stand.
 
Immerhin weiß ich aber noch, dass der hauptsächliche Unterschied zwischen Katholizismus und den reformierten Kirchen, was das Verhältnis des Gläubigen zu Gott angeht, im "sola gratia" besteht.
Die drei sola (oder besser "soli", die Lateiner mögen mich berichtigen) sind Grundlagen des lutherischen Glaubensbekenntnis:
- sola scriptura (nur die Schrift allein, also die Bibel, und nicht die Auslegung durch den Papst oder den Priester)
- sola fide (nur der Glaube, und nicht die Taten eines Menschen, lassen jemanden das "ewige Leben" erlangen)
- sola gratia (nur die Gnade Gottes ermöglicht es einem Menschen, überhaupt gläubig zu sein. Es ist nicht seine eigene Entscheidung)
Das hat aber alles weniger mit Sündenvergebung zu tun, die wie gesagt bei den Protestanten in der Liturgie enthalten ist.
Denn damit einher ging die Vorstellung, dass sich die Gnade Gottes in Erfolg, Glück, Gesundheit usw. zeigte. Wer reich, gesund und schön war, dem war Gott also wohlgesonnen, und man hatte (zusätzlich zu den handfesten Vorteilen) auch einen theologischen Grund, hart zu arbeiten und nach Wohlstand zu streben, das zeigte jedem, wie man sich mit dem Herrgöttl stand.
Isb. im Calvinismus steigert sich diese "sola gratia" gerade zu der von dir beschriebenen doppelten Prädestination, die Seelenheil mit materiellen Erfolg und einem glücklichen Leben verbindet, weil man die Gnade Gottes hat. Die evangelische Kirche, also Lutheraner und Reformierte, teilt diese doppelte Prädestinationslehre nicht.

Ich bin protestantisch/lutherisch aufgewachsen, wurde konfirmiert, bin aber schon vor über 20 Jahren aus der Kirche ausgetreten (vielleicht ein Mangel an sola gratia:rolleyes:). So ein paar Grundlagen dieser Religion scheine ich aber, dennoch nicht vergessen zu haben.
 
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Angesichts des Wachstums der altkatholischen Kirche und der Freikirchen könnte man sogar fragen, ob nicht gerade die Frommen die Kirchen verlassen.

Die Zahlen der altkatholischen Kirche sind mir nicht geläufig, die altkatholische Kirche ist allerdings deutlich liberaler als die römisch-katholische Kirche.
 
Isb. im Calvinismus steigert sich diese "sola gratia" gerade zu der von dir beschriebenen doppelten Prädestination, die Seelenheil mit materiellen Erfolg und einem glücklichen Leben verbindet, weil man die Gnade Gottes hat. Die evangelische Kirche, also Lutheraner und Reformierte, teilt diese doppelte Prädestinationslehre nicht.

Soweit ich weiß wird als doppelte Prädestination die Vorstellung bezeichnet, dass Gott sowohl diejenigen, die das Seelenheil erlangen als auch diejenigen, die der ewigen Verdammnis anheimfallen, vorherbestimmt hat. Diese doppelte Prädestinationslehre geht wohl ursprünglich auf Augustinus zurück. Im Grunde genommen lassen sich andere theologische Positionen auch nur schwer mit der Vorstellung eines allmächtigen und allwissenden Gottes vereinbaren.

Calvin hat diese doppelte Prädestinationslehre dann wohl besonders radikal und deutlich formuliert. Materieller Erfolg ist im Calvinismus dann ein äußeres Zeichen des Seelenheil, aber das ist imho nicht Kern der doppelten Prädestinationslehre.

Prädestination – Wikipedia
 
Wie ein Katholik seine Religion praktiziert, kenne ich aus eigener Anschauung, weil ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin, in der fast nur Katholiken lebten. Die Kirche war am Sonntag immer voll, aber nachdem man sich von der Kanzel die Drohungen mit der Hölle abgeholt hatte (Grund war oft schlechter Lebenswandel einzelner, was generalisiert wurde), gingen die Männer ins Wirtshaus und Frauen nach Hause, Mittagessen kochen.

Was ich damit sagen will: Man holte sich in der Kirche Schelte, aber dann war’s wieder gut und man konnte weiter machen wie bisher.
In der Nähe der Stadt war auch ein Kloster mit Brauerei: Die Mönche dort waren durch die Bank gut beleibt, um nicht zu sagen dick, obwohl es da angeblich eine Todsünde gibt, Völlerei genannt. :D

Ein wenig habe ich durch meine Frau Einblick in das Leben von Evangelischen bekommen. Sie verinnerlichen ihre Religion und ihre Regeln mehr und sind dadurch kontrollierter und disziplinierter sowohl im privaten wie im wirtschaftlichen Leben. Bei den Katholiken ist das alles auf der Oberfläche und mehr für andere (Nachbarn, Verwandten, Freunde), wobei jeder weiß, dass die es genauso halten.

Das entspricht auch dem, was die beiden Konfessionen vorleben. Während ein evangelischer Gottesdienst eine nüchterne Angelegenheit ist, wird bei den Katholiken viel Wert auf Äußerlichkeiten gelegt: bunte Priesterkleidung, Weihrauch, Klingeln, Hostie, Tabernakel – das ganze Brimborium eben, siehe auch das Bild:

B._Bober.jpg
 
Ein wenig habe ich durch meine Frau Einblick in das Leben von Evangelischen bekommen. Sie verinnerlichen ihre Religion und ihre Regeln mehr und sind dadurch kontrollierter und disziplinierter sowohl im privaten wie im wirtschaftlichen Leben. Bei den Katholiken ist das alles auf der Oberfläche und mehr für andere (Nachbarn, Verwandten, Freunde), wobei jeder weiß, dass die es genauso halten.

Klingt nach einer recht oberflächlichen Paraphrase aus Max Webers "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus".
Gerade im Hinblick auf auf Disziplin im wirtschaftlichen Leben wäre daran allerdings die Frage zu stellen, warum das Katholische Norditalien und das Katholische Belgien (früher die südlichen Niederlande) immer zu den wirtschaftlich fortschrittlichsten und erfolgreichsten Regionen Europas gehörten.
Gleiches könnte man im Hinblick auf das Frankreich des ancien régime hinterfragen.
 
Was ich damit sagen will: Man holte sich in der Kirche Schelte, aber dann war’s wieder gut und man konnte weiter machen wie bisher.
In der Nähe der Stadt war auch ein Kloster mit Brauerei: Die Mönche dort waren durch die Bank gut beleibt, um nicht zu sagen dick, obwohl es da angeblich eine Todsünde gibt, Völlerei genannt. :D

Ist diese Todsünde nicht etwas allgemeiner formuliert und bedeutet so etwas wie Maßlosigkeit? Gula kommt natürlich von der Kehle oder vom Gaumen, aber soweit ich weiß, beinhaltet die so bezeichnete Todsünde auch andere Formen der Selbstsucht und der Unmäßigkeit.
 
Ein schönes Beispiel für die Macht der Kirche bringt @Shinigami mit einem Beitrag in einem anderen Thread – den Anfang seines Beitrags zitiere ich hier:
Meiner Meinung nach machst du da die Rechnung ohne den Papst und die geistlichen Fürsten.

Zum einen wird man davon ausgehen dürfen, dass die Päpste auf keinen Fall ein zweites kaiserliches Machtzentrum in Italien wollten (das hatte ja schon zur Zeit Friedrich II. nur Ärger gegeben), sondern dass diesen sehr daran gelegen war sicherheitshalber die Alpen dazwisschen liegen zu haben und den Kaiser wirklich nur dan zu rufen, wenn es gar nicht mehr anders ging.

Zum selbst vor dem Aufkommen des Kurfürstenkollegiums als entscheidendem Gremium unter Karl IV. wäre eine Kandidatur, die die Bischöfe nicht mitgetragen hätten, wahrscheinlich sehr schnell erledigt gewesen.
 
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