Wirtschaftliche Hegemonie oder militärische Expansion Deutschlands?

Rheinländer

Aktives Mitglied
Zu Beginn des 20. Jhd. war die Situation Deutschlands einerseits geprägt von der Entwicklung hin zu einer Industriegesellschaft, die einen Exportüberschuss erzielte und die hochtechnologisiert war, einerseits aber ihren Bedarf an Rohstoff- und Nahrungsmitteln durch Importe decken musste. Dadurch war das Reich sehr anfällig für globale wirtschaftliche Verwerfungen und etwaigen protektionistischen Reaktionen, wie z.B. in der Weltwirtschaftskrise 29/30 oder im Extrem, während der britischen Blockade im 1. Weltkrieg.

Zudem war Deutschland immer von zahlreichen Mächten umgeben, die einer Machtkonzentration in Mitteleuropa immer gerne mit Koalitionen begegnen, was ja auch Bismarck "cauchemares des coalitions" eintrieb. Auf einer historischen Meta-Ebene gab es zwei Varianten, derer man sich zur Lösung dieser Problemstellung bediente.

Einmal die der militärischen Expansion, so die großräumigen Expansionspläne im 1. Weltkrieg und Hitlers Lebensraumplan im 2. Weltkrieg, der neben seinen rassistischen Motiven auch Autarkie ermöglichen sollte.

Nach der Niederlage im 2. Weltkrieg, wenn auch natürlich in einer Situtation enormer Schwäche und unter starkem ausländischen Druck bzw. unter alliierter Anordnung, erfolgte ein Alternativweg zur Lösung des Problems. Eine paneuropäische Wirtschaftsunion, die protektionistische Hemmnisse wie Zölle usw. graduell liquidierte. Diese Lösung erbrachte einerseits eine Einbindung und Kontrolle (die ursprüngliche Absicht, siehe EGKS), andererseits nahm Deutschland in diesem Zusammenschluss alsbald eine herausragende Führungsrolle ein und erlangte über dieses Bündnis Eintritt in viele neue Absatzmärkte.

Verschiedene Diskussionen in diesem Forum haben dieses Thema bereits gestreift, ich erinnere an Silesias interessante Ausführungen im Österreich 1938-Thread über die Machterweiterung des Dritten Reichs im Süd-Ost-europäischen Raum aufgrund der erreichten Verfügungsgewalt über österreichische Finanztitel und Beteiligungen in diesem Raum. Auch Friedrich Naumanns Vision "Mitteleuropa" bzw. die von Silesia genannte Anekdote über Hugo Stinnes, der eine deutsche Hegemonie auf rein wirtschaftlichem Wege in Europa herstellen wollte (?), kommen mir dazu in den Sinn.

Ich finde, dass das ein sehr interessantes Thema ist und hoffe, mit meiner Einleitung zu einer wie immer erhellenden Diskussion anregen zu können und würde mich auch über Literaturvorschläge freuen!

Gruß, Rheinländer
 
Interessantes Thema! Vorab einige Hinweise zum ökonomischen Umfeld 1900/1914:

a) die Handelsbilanzen des Deutschen Reiches waren meist passiv (negativ)
http://www.geschichtsforum.de/471957-post2.html

b) die Exportseite war empfindlich gerade in Bezug zum europäischen Umfeld, da "der große Krieg" selbst ohne Blockade bzw. politische Krisen hier empfindliche Einbrüche bewirken konnten. Die Abhängigkeit würde ich also nicht nur importseitig bzw. in Bezug auf Rohstoffe und Nahrungsmittel setzen.

c) die Hinweise von Stinnes interpretiere ich als "Alternative" zur Machtpolitik, da die krisenhafte oder kriegerische Zuspitzung gerade der Großindustrie schaden konnte. Das trifft zusammen mit den Auslandsinvestitionen im Westen, die hier wohl angesprochen sind. Das nahm Ausmaße an, die zB in Frankreich zum Politikum wurden und zu "Übernahmeängsten" führten.

Fischers Schüler scheinen sich in einigen Dissertationen zu diesen Wirtschafts-Hegemonialfragen ausgetobt zu haben. Ob die Visionen angesichts der stets zu engen deutschen Kapitaldecke realisitsch waren, sprengt möglicherweise die Diskussion. Vielleicht sollte man das besser umschiffen.

Die Effektivität des Extremfalles, der britischen Blockade, würde nach dieser Diskussion hier für mich neu bewerten:
http://www.geschichtsforum.de/f62/m...as-manhattan-projekt-des-1-weltkrieges-34445/
Zugespitzt ausgedrückt hätte die Versorgung mit Nahrungsmitteln im deutschen Machtbereich hinreichend erfolgen können, nicht jedoch in Konkurrenz zu dem gleichzeitigen Kriegsbedarf der Rüstungsindustrie. Ausschließen kann man danach nur die Autarkie im Kriegsfall wegen der konkurrierenden Verwendungen der Rohstoffe. Über diese ökonomischen Restriktionen hat man sich offenbar politisch-militärisch nie hinreichend Gedanken gemacht, iS einer "Kriegsbereitschaft", vermutlich wegen der Aussicht auf ein Kriegsende < 12 Monate, obwohl es direkt die Themenüberschrift betrifft.

EDIT:
Noch ein Nachsatz, weil dieser Aspekt oft wenig Beachtung findet. Hitlers außenpolitischer Weg 1933-39 ist viel analysiert, und dabei fällt der Blick auf die territorialen Ambitionen (Österreich, Sudeten, Tschechei, Polen). Parallel - und weniger untersucht - ist die ökonomische Penetration zB im Hinblick auf Ungarn, Rumänien und Jugoslawien gegeben. Auch wiesen die territorialen Besitznahmen ganz beachtliche ökonomische Komponenten auf (zB die Industrie, auch Rüstungsindustrie in der Tschechei). Häufig wird das nur unter dem Aspekt der beschlagnahmten gold- und Devisenreserven für das rüstungsbedingt chronisch illiquide Deutsche Reich gesehen. Die Politik in Richtung Südosteuropa ist aber mit den angegebenen Ländern vielschichtiger und war - auch ohne territoriale Verschiebungen - "erfolgreich". OT, aber als Hinweis: die hingenommene Einschränkung auf deutsche wirtschaftliche Interessen in Südosteuropa beim Hitler-Stalin-Pakt (politische Zuweisung an die Sowjetunion) kann mE schon deswegen nicht ernst genommen werden.
 
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Interessantes Thema! Vorab einige Hinweise zum ökonomischen Umfeld 1900/1914:

a) die Handelsbilanzen des Deutschen Reiches waren meist passiv (negativ)
http://www.geschichtsforum.de/471957-post2.html

b) die Exportseite war empfindlich gerade in Bezug zum europäischen Umfeld, da "der große Krieg" selbst ohne Blockade bzw. politische Krisen hier empfindliche Einbrüche bewirken konnten. Die Abhängigkeit würde ich also nicht nur importseitig bzw. in Bezug auf Rohstoffe und Nahrungsmittel setzen.

c) die Hinweise von Stinnes interpretiere ich als "Alternative" zur Machtpolitik, da die krisenhafte oder kriegerische Zuspitzung gerade der Großindustrie schaden konnte. Das trifft zusammen mit den Auslandsinvestitionen im Westen, die hier wohl angesprochen sind. Das nahm Ausmaße an, die zB in Frankreich zum Politikum wurden und zu "Übernahmeängsten" führten.

Fischers Schüler scheinen sich in einigen Dissertationen zu diesen Wirtschafts-Hegemonialfragen ausgetobt zu haben. Ob die Visionen angesichts der stets zu engen deutschen Kapitaldecke realisitsch waren, sprengt möglicherweise die Diskussion. Vielleicht sollte man das besser umschiffen.

Die Effektivität des Extremfalles, der britischen Blockade, würde nach dieser Diskussion hier für mich neu bewerten:
http://www.geschichtsforum.de/f62/m...as-manhattan-projekt-des-1-weltkrieges-34445/
Zugespitzt ausgedrückt hätte die Versorgung mit Nahrungsmitteln im deutschen Machtbereich hinreichend erfolgen können, nicht jedoch in Konkurrenz zu dem gleichzeitigen Kriegsbedarf der Rüstungsindustrie. Ausschließen kann man danach nur die Autarkie im Kriegsfall wegen der konkurrierenden Verwendungen der Rohstoffe. Über diese ökonomischen Restriktionen hat man sich offenbar politisch-militärisch nie hinreichend Gedanken gemacht, iS einer "Kriegsbereitschaft", vermutlich wegen der Aussicht auf ein Kriegsende < 12 Monate, obwohl es direkt die Themenüberschrift betrifft.

EDIT:
Noch ein Nachsatz, weil dieser Aspekt oft wenig Beachtung findet. Hitlers außenpolitischer Weg 1933-39 ist viel analysiert, und dabei fällt der Blick auf die territorialen Ambitionen (Österreich, Sudeten, Tschechei, Polen). Parallel - und weniger untersucht - ist die ökonomische Penetration zB im Hinblick auf Ungarn, Rumänien und Jugoslawien gegeben. Auch wiesen die territorialen Besitznahmen ganz beachtliche ökonomische Komponenten auf (zB die Industrie, auch Rüstungsindustrie in der Tschechei). Häufig wird das nur unter dem Aspekt der beschlagnahmten gold- und Devisenreserven für das rüstungsbedingt chronisch illiquide Deutsche Reich gesehen. Die Politik in Richtung Südosteuropa ist aber mit den angegebenen Ländern vielschichtiger und war - auch ohne territoriale Verschiebungen - "erfolgreich". OT, aber als Hinweis: die hingenommene Einschränkung auf deutsche wirtschaftliche Interessen in Südosteuropa beim Hitler-Stalin-Pakt (politische Zuweisung an die Sowjetunion) kann mE schon deswegen nicht ernst genommen werden.

Die ökonomische Bedeutung der eroberten Länder, gerade für die Rüstung, ist ja im Falle der Tschechei enorm, Skoda-Werke usw., deren Attraktivität als Standort im Kriegsverlauf ja sogar noch größer wurde, weil es lange Zeit ausßerhalb der Reichweite alliierter Bomberverbände lag. Klasse Ausführungen von dir, dass mit dem negativem Außenhandelssoldo wusste ich gar nicht, kann man sich heute in Deutschland gar nicht mehr vorstellen....:rofl:

Wie muss man sich die von dir zitierte ökonomische Penetration in diesen Ländern vorstellen, gerade vor dem Hintergrund, dass das Reich doch zumindest während der Wirtschaftskrise doch außenpolitisch in ökonomischer Hinsicht stark eingeschränkt gewesen sein dürfte.

Diese Idee mit der ökonomischen Penetration hatte ja schon Stresemann hinsichtlich der Polen-Frage verfochten.
 
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