Eine jüngst erschienene Edition von geheimen NS-Stimmungsberichten gibt weitere Aufschlüsse über das Leben und Leiden der Juden während der NS-Zeit, insbesondere neue Antworten auf die Frage, was den Deutschen über die Verfolgung und Ermordung der Juden bekannt war und wie sie darüber dachten.
Was die Deutschen in der Nazizeit von der Verfolgung und Ermordung der Juden wußten, ist ein beliebtes Gesprächsthema. Meistens erzählt jemand, was er wußte oder nicht wußte, und dann sollen die anderen glauben, so werde es wohl auch sonst gewesen sein.
Das ist natürlich eine gewagte Annahme. Wie aber kann man einigermaßen zuverlässig ermitteln, was die Zeitgenossen wußten? Meinungsforschung und Umfragen gab es damals in Deutschland noch nicht. Trotzdem wollte das Regime wissen, was die Leute dachten und wie die Stimmung in der Bevölkerung war. Dazu wurden die Gestapo und der SD, der Nachrichtendienst der Partei, aber auch andere Behörden, wie etwa die Regierungspräsidenten, angewiesen, die Stimmung zu erkunden. Sie bedienten sich dabei zahlloser Späher, die berichteten, was die Volksgenossen auf der Straße, in der Eisenbahn oder in den Wirtshäusern sagten.
Tausende solcher Berichte sind in den Archiven erhalten. Es gab sie auf der lokalen Ebene, auf der regionalen und häufig auch für das ganze Reich. Natürlich waren sie geheim, und selbstverständlich sollten sie ungeschminkt sein, da sie sonst ja für die Führung wertlos gewesen wären. Die Forschung benutzt diese Quellen seit langem. Schon 1965 veröffentlichte Heinz Boberach eine Auswahl der reichsweiten SD-Berichte, und 1984 folgte eine Gesamtausgabe in 17 Bänden. Nun ist nach jahrelanger Arbeit an den Universitäten von Jerusalem und Stuttgart eine weitere Ausgabe erschienen, die einerseits spezieller und andererseits umfassender ist. Sie beschränkt sich auf die Lage der Juden, enthält aber nicht nur SD-Berichte, sondern alle, die überhaupt gefunden werden konnten. Für den gedruckten Band wurden 752 Dokumente ausgewählt; auf einer beigefügten CD-ROM ist die Gesamtheit von 3744 Dokumenten enthalten.
Damit hat die Forschung erstmals eine umfassende Quellensammlung, die Aufschlüsse über das Leben und Leiden der Juden in der Nazizeit liefert wie auch über die Haltung und Einstellung der nichtjüdischen Bevölkerung gegenüber den Juden und nicht zuletzt zu der vieldiskutierten Frage, was die Deutschen wußten. Zunächst muß man selbstverständlich präzisieren. Daß die Nazis Antisemiten waren, wußten alle. Allgemein bekannt waren auch die ersten antijüdischen Maßnahmen der Regierung und der Partei, da sie sich zumeist in aller Öffentlichkeit vollzogen. Gefragt werden muß hier, ob und inwieweit diese Maßnahmen von der Bevölkerung gefördert oder behindert, gebilligt oder mißbilligt wurden.
Es erweist sich erneut, daß das Pogrom vom November 1938, die sogenannte Reichskristallnacht, von vielen mißbilligt wurde, schon wegen der Verschwendung von Rohstoffen, aber auch, weil so etwas „in einem Kulturstaate nicht vorkommen dürfe“.
Eine andere Frage ist, was die Deutschen vom Mord an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg wußten. Wiederum ist zu differenzieren. Die Deportationen der Juden aus Deutschland wurden zwar in den Medien nicht oder nur selten erwähnt, vollzogen sich aber vor den Augen vieler, waren daher weithin bekannt und wurden viel besprochen, teils mit Billigung, auch mit der Hoffnung, die Wohnungen und Möbel der Deportierten zu erhalten, teils mit Mißbilligung, dies besonders aus Angst vor einer Revanche. Die Kennzeichnung der Juden mit dem gelben Stern im September 1941 wurde weithin gebilligt, aber auch die Sorge geäußert, nun würden die Deutschen in den USA mit dem Hakenkreuz gekennzeichnet.
Aber wie war es mit den Tötungen? Sie fanden vor allem im Ausland statt und waren offiziell geheim. Die Massenerschießungen in Osteuropa wurden von vielen, besonders von Soldaten wahrgenommen. Manche schrieben darüber in ihren Briefen, noch mehr erzählten davon, wenn sie im Urlaub waren. So verbreiteten sich die Kenntnisse. Naturgemäß kann das nicht quantifiziert werden; Prozentanteile kann man nicht angeben. Wir können immer nur sagen, daß „viele“ etwas wußten. In einem Bericht von 1942 aus Mainfranken heißt es: „Es wurde wiederholt die Wahrnehmung gemacht, daß Soldaten, die aus Warschau und Litzmannstadt (Lodz) kamen, öffentlich über die Art der Beseitigung der Juden in diesen Städten erzählen …“ Die Massentötungen durch Giftgas in den Vernichtungslagern waren weniger bekannt, was begreiflich ist, da sie leichter isoliert werden konnten als die Erschießungen im Freien.
Auffallend ist wiederum die Angst in der Bevölkerung vor Repressalien. Nach Stalingrad wurde oft die Befürchtung geäußert, daß die in Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten, wie es in einem Bericht heißt, „in Vergeltung für angebliche Massenerschießungen von Juden durch Deutsche im Osten getötet werden könnten“. Oder: „Es liegen auch Stimmen vor, die die Bombardierung des Kölner Doms und anderer deutscher Kirchen in Zusammenhang mit den seinerzeitigen Zerstörungen der Synagogen in Deutschland gebracht haben und die daher jetzt ,die Strafe Gottes’ wirksam sehen.“
Als die Entdeckung der Massengräber polnischer Offiziere in Katyn von der Propaganda zur Anprangerung sowjetischer Grausamkeiten genutzt wurde, hieß es öfter, „wir“ hätten „kein Recht, uns über die Maßnahmen der Sowjets aufzuregen, weil deutscherseits in viel größerem Umfang Polen und Juden beseitigt worden sind“. Nach Berichten über sowjetische Ausschreitungen 1944 im ostpreußischen Nemmersdorf wurde die Frage gestellt: „Was bezweckt die Führung mit der Veröffentlichung solcher Bil-der …?? Sie müßte sich doch sagen, daß jeder denkende Mensch, wenn er diese Blutopfer sieht, sofort an die Greu- eltaten denkt, die wir im Feindesland, ja sogar in Deutschland begangen haben. Haben wir nicht die Juden zu Tausenden hingeschlachtet? Erzählen nicht immer wieder Soldaten, Juden hätten in Polen ihre eigenen Gräber schaufeln müssen? … Damit haben wir den Feinden ja vorgemacht, was sie im Falle ihres Sieges mit uns machen dürfen.“
Insgesamt ergibt sich, daß die deutschen Verbrechen vielfach bekannt waren. Die Bevölkerung war auch nicht, wie früher oft angenommen wurde, gleichgültig oder abgestumpft. Ihr war im Gegenteil durchaus klar, daß hier Un?geheuerliches geschah. Das beschäftigte die Leute und machte sie besorgt. Sie hatten offenbar keine Angst, darüber zu sprechen. Angst hatten sie vor den Folgen. Wenn nach dem Krieg gesagt wurde, man habe von alldem nichts gewußt, war das meist eine Schutzbehauptung.
Das ist der neue, ziemlich abgesicherte Befund. Im ganzen bestätigt er ein schon älteres Wort: Nur ganz wenige wußten alles, nur wenige wußten gar nichts, sehr viele wußten vieles.
Quelle: Prof. Dr. Eberhard Jäckel
(http://www.damals.de/sixcms/detail.php?id=168333)
Was die Deutschen in der Nazizeit von der Verfolgung und Ermordung der Juden wußten, ist ein beliebtes Gesprächsthema. Meistens erzählt jemand, was er wußte oder nicht wußte, und dann sollen die anderen glauben, so werde es wohl auch sonst gewesen sein.
Das ist natürlich eine gewagte Annahme. Wie aber kann man einigermaßen zuverlässig ermitteln, was die Zeitgenossen wußten? Meinungsforschung und Umfragen gab es damals in Deutschland noch nicht. Trotzdem wollte das Regime wissen, was die Leute dachten und wie die Stimmung in der Bevölkerung war. Dazu wurden die Gestapo und der SD, der Nachrichtendienst der Partei, aber auch andere Behörden, wie etwa die Regierungspräsidenten, angewiesen, die Stimmung zu erkunden. Sie bedienten sich dabei zahlloser Späher, die berichteten, was die Volksgenossen auf der Straße, in der Eisenbahn oder in den Wirtshäusern sagten.
Tausende solcher Berichte sind in den Archiven erhalten. Es gab sie auf der lokalen Ebene, auf der regionalen und häufig auch für das ganze Reich. Natürlich waren sie geheim, und selbstverständlich sollten sie ungeschminkt sein, da sie sonst ja für die Führung wertlos gewesen wären. Die Forschung benutzt diese Quellen seit langem. Schon 1965 veröffentlichte Heinz Boberach eine Auswahl der reichsweiten SD-Berichte, und 1984 folgte eine Gesamtausgabe in 17 Bänden. Nun ist nach jahrelanger Arbeit an den Universitäten von Jerusalem und Stuttgart eine weitere Ausgabe erschienen, die einerseits spezieller und andererseits umfassender ist. Sie beschränkt sich auf die Lage der Juden, enthält aber nicht nur SD-Berichte, sondern alle, die überhaupt gefunden werden konnten. Für den gedruckten Band wurden 752 Dokumente ausgewählt; auf einer beigefügten CD-ROM ist die Gesamtheit von 3744 Dokumenten enthalten.
Damit hat die Forschung erstmals eine umfassende Quellensammlung, die Aufschlüsse über das Leben und Leiden der Juden in der Nazizeit liefert wie auch über die Haltung und Einstellung der nichtjüdischen Bevölkerung gegenüber den Juden und nicht zuletzt zu der vieldiskutierten Frage, was die Deutschen wußten. Zunächst muß man selbstverständlich präzisieren. Daß die Nazis Antisemiten waren, wußten alle. Allgemein bekannt waren auch die ersten antijüdischen Maßnahmen der Regierung und der Partei, da sie sich zumeist in aller Öffentlichkeit vollzogen. Gefragt werden muß hier, ob und inwieweit diese Maßnahmen von der Bevölkerung gefördert oder behindert, gebilligt oder mißbilligt wurden.
Es erweist sich erneut, daß das Pogrom vom November 1938, die sogenannte Reichskristallnacht, von vielen mißbilligt wurde, schon wegen der Verschwendung von Rohstoffen, aber auch, weil so etwas „in einem Kulturstaate nicht vorkommen dürfe“.
Eine andere Frage ist, was die Deutschen vom Mord an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg wußten. Wiederum ist zu differenzieren. Die Deportationen der Juden aus Deutschland wurden zwar in den Medien nicht oder nur selten erwähnt, vollzogen sich aber vor den Augen vieler, waren daher weithin bekannt und wurden viel besprochen, teils mit Billigung, auch mit der Hoffnung, die Wohnungen und Möbel der Deportierten zu erhalten, teils mit Mißbilligung, dies besonders aus Angst vor einer Revanche. Die Kennzeichnung der Juden mit dem gelben Stern im September 1941 wurde weithin gebilligt, aber auch die Sorge geäußert, nun würden die Deutschen in den USA mit dem Hakenkreuz gekennzeichnet.
Aber wie war es mit den Tötungen? Sie fanden vor allem im Ausland statt und waren offiziell geheim. Die Massenerschießungen in Osteuropa wurden von vielen, besonders von Soldaten wahrgenommen. Manche schrieben darüber in ihren Briefen, noch mehr erzählten davon, wenn sie im Urlaub waren. So verbreiteten sich die Kenntnisse. Naturgemäß kann das nicht quantifiziert werden; Prozentanteile kann man nicht angeben. Wir können immer nur sagen, daß „viele“ etwas wußten. In einem Bericht von 1942 aus Mainfranken heißt es: „Es wurde wiederholt die Wahrnehmung gemacht, daß Soldaten, die aus Warschau und Litzmannstadt (Lodz) kamen, öffentlich über die Art der Beseitigung der Juden in diesen Städten erzählen …“ Die Massentötungen durch Giftgas in den Vernichtungslagern waren weniger bekannt, was begreiflich ist, da sie leichter isoliert werden konnten als die Erschießungen im Freien.
Auffallend ist wiederum die Angst in der Bevölkerung vor Repressalien. Nach Stalingrad wurde oft die Befürchtung geäußert, daß die in Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten, wie es in einem Bericht heißt, „in Vergeltung für angebliche Massenerschießungen von Juden durch Deutsche im Osten getötet werden könnten“. Oder: „Es liegen auch Stimmen vor, die die Bombardierung des Kölner Doms und anderer deutscher Kirchen in Zusammenhang mit den seinerzeitigen Zerstörungen der Synagogen in Deutschland gebracht haben und die daher jetzt ,die Strafe Gottes’ wirksam sehen.“
Als die Entdeckung der Massengräber polnischer Offiziere in Katyn von der Propaganda zur Anprangerung sowjetischer Grausamkeiten genutzt wurde, hieß es öfter, „wir“ hätten „kein Recht, uns über die Maßnahmen der Sowjets aufzuregen, weil deutscherseits in viel größerem Umfang Polen und Juden beseitigt worden sind“. Nach Berichten über sowjetische Ausschreitungen 1944 im ostpreußischen Nemmersdorf wurde die Frage gestellt: „Was bezweckt die Führung mit der Veröffentlichung solcher Bil-der …?? Sie müßte sich doch sagen, daß jeder denkende Mensch, wenn er diese Blutopfer sieht, sofort an die Greu- eltaten denkt, die wir im Feindesland, ja sogar in Deutschland begangen haben. Haben wir nicht die Juden zu Tausenden hingeschlachtet? Erzählen nicht immer wieder Soldaten, Juden hätten in Polen ihre eigenen Gräber schaufeln müssen? … Damit haben wir den Feinden ja vorgemacht, was sie im Falle ihres Sieges mit uns machen dürfen.“
Insgesamt ergibt sich, daß die deutschen Verbrechen vielfach bekannt waren. Die Bevölkerung war auch nicht, wie früher oft angenommen wurde, gleichgültig oder abgestumpft. Ihr war im Gegenteil durchaus klar, daß hier Un?geheuerliches geschah. Das beschäftigte die Leute und machte sie besorgt. Sie hatten offenbar keine Angst, darüber zu sprechen. Angst hatten sie vor den Folgen. Wenn nach dem Krieg gesagt wurde, man habe von alldem nichts gewußt, war das meist eine Schutzbehauptung.
Das ist der neue, ziemlich abgesicherte Befund. Im ganzen bestätigt er ein schon älteres Wort: Nur ganz wenige wußten alles, nur wenige wußten gar nichts, sehr viele wußten vieles.
Quelle: Prof. Dr. Eberhard Jäckel
(http://www.damals.de/sixcms/detail.php?id=168333)