@amicus:
Meine Kritik gilt der von Dir vorgetragenen These, Grey habe sich gegenüber
Deutschland zurückhaltend verhalten und es nicht hinreichend deutlich und viel zu spät vor einem britischen Kriegseintritt gewarnt. Dass er sich gegenüber
Frankreich und
Russland zurückhaltend verhielt, habe ich nicht bestritten sondern bestätigt.
Was nun Deine Argumentation oder die der von Dir genannten Historiker angeht, muss sich diese wie jede andere auch (und übrigens auch meine), daran messen lassen, ob diese nachvollziehbar und überzeugend ist. Die Berufung auf Autoritäten ersetzt keine Argumente. Es ist vielmehr so, dass sich erst durch eine plausible Argumentationsweise zeigt, ob eine Person wirklich eine "Autorität" ist.
Ich fasse Deine Argumente mal wie folgt zusammen: Grey habe Deutschland nicht frühzeitig und deutlich gewarnt, weil
- Bethmann es bis zum Ende für möglich hielt, das England neutral bleiben könnte (# 71);
- Grey sich Frankreich gegenüber zurückhaltend verhielt (# 77/82);
- sich das britische Kabinett über die Frage des Kriegseintritts erst am 2.8.1914 unter gewissen Bedingungen einig werden konnte (# 77);
- Grey am 1.8.14 Lichnowsky die britische Neutralität in Aussicht gestellt habe (# 74/88).
Ich bestreite, dass die ersten drei Argumente überzeugend sind. Die von Dir genannten Aspekte stehen in keinem Zusammenhang zur Ausgangsfrage, ob Berlin frühzeitig und deutlich gewarnt wurde. Die Beantwortung dieser Frage hängt weder von den Hoffnungen Bethmann Hollwegs noch von Greys Frankreich gegenüber gezeigten Verhalten noch von der Zerstrittenheit des britischen Kabinetts ab sondern allein davon, ob, wann und wie deutlich Grey Berlin vor einem britischen Kriegseintritt warnte und wie diese Warnungen von seinen deutschen Kommunikationspartnern vernünftigerweise zu verstehen waren.
In meinen Beiträgen # 72, 76 und 80 habe ich aus zahlreichen Quellen zitiert, aus denen sich ergibt, dass
- bereits die "Großwetter"-Lage im deutsch-britschen Verhältnis grundsätzlich so geprägt war, dass Deutschland im Falle einer weiteren militärischen Schwächung Frankreichs mit GBs Intervention rechnen musste und
- es auch in der Julikrise 1914 viele Warnungen aus London nach Berlin vor einer Intervention GBs zu Gunsten Frankreichs im Kriegsfall gab.
Lichnowsky hat im Juli 1914 eine ganze Flut solcher Warnungen nach Berlin gekabelt, vgl. # 80.
Ich kann Dich natürlich nicht zwingen, aus diesen Quellen Schlüsse zu ziehen. Aber vielleicht kannst Du mal in einer ruhigeren Minute darüber nachdenken, ob man bei einer solchen Quellenlage noch von Unklarheit in Berlin sprechen kann oder ob die Bezeichnung "Wunschdenken" nicht besser wäre.
Nun zu Deinem vierten Argument:
amicus schrieb:
Die Meldung Lichnowskys basierte nicht auf sein Mißverständnis, wie lange in der Forschung angenommen, sondern auf der Tatsache, das Frankreich schlicht und ergreifend nicht bereit war sich aus diesem Kriege herauszuhalten. Man wollte mitmachen. Grey hatte sich wohl zu weit aus dem Fenster gelehnt und musste nun wieder zurückrudern.
(Nachzulesen bei Wolgang Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben, Frankfurt 1995)
Ich kenne die bei Mommsen übrigens auf S. 560 nachzulesende Stelle. Leider gibt Mommsen keine Quelle für seine Erkenntnis an, die seinen eigenen Angaben zufolge der bisherigen Forschung widerspricht. Das wiederum ist ausgesprochen schade, aber auch nicht weiter verwunderlich:
Lichnowsky - immerhin der Empfänger von Greys "Angebot" - schrieb 1916 in seinem Buch "Meine Londoner Mission 1912-1914 ...", dass er Grey am Telefon falsch verstanden habe (S. 30), Greys Anfrage ohnehin kein Vorschlag gewesen sei und unter dem Vorbehalt der für den Nachmittag geplanten Unterredung gestanden habe (S. 31), was er übrigens auch nach Berlin kabelte. Doch dort wartete man Lichnowskys Gespräch mit Grey nicht ab!
Grey selbst stellte die Sache übrigens anders dar: laut seiner Unterhaussrede vom 28.8.14 und seinen Memoiren handelte es sich bei der Anfrage um einen von Lichnowsky stammenden Versuchsballon. Dieser habe seine Idee durch Greys Kabinettschef Tyrrell an Grey herantragen lassen, der sich dann vor dem geplanten Nachmittagsgespräch telephonisch bei Lichnowsky nach dessen Idee erkundigt habe, was Lichnowsky wiederum genutzt habe, die Anfrage als ein von Grey stammenden Vorschlag auszugegeben.
Doch egal welcher Version man folgt, einen "Vorschlag" "von Grey" hat es weder nach Greys noch nach Lichnowskys Aussagen gegeben. Dafür gibt es aber Historiker, die erkennen wollen, dass es einen solchen gab - ohne Angaben von Quellen freilich.
amicus schrieb:
" Ich fürchte, es ist von interessierten Kreisen mit einigen Erfolg der Eindruck verbreitet worden, dass eine liberale Regierung das Einvernehmen mit Frankreich in Frage stellen und sich Deutschland zuwenden würde. Ich werde alles in meiner Kraft Stehende tun, um dagegen anzukämpfen."
Das hat Grey kurz vor seiner Ernennung zum Außenminiter geäußerst. Er war noch nicht im Amt, aber bereits festgelegt.
Das sollte Dir zu denken geben im Hinblick auf die von Berlin erkennbare grundsätzliche Ausrichtung von Greys und Englands politischer Elite in den Beziehungen zu Deutschland.
Seit der Krieg-in-Sicht-Krise (1875) intervenierten verschiedene britische Regierungen mehfach in Berlin, um den ihnen in ihrer Großmachtstellung bedroht vorkommenden Franzosen zu helfen und so das Gleichgewicht der Kräfte sicher zu stellen. Die Konservativen verbreiteten den Eindruck, die (angeblich weicheren) Liberalen würden, diese Politik aufgeben. Diesem Eindruck trat Grey mit obiger Passage entgegen. In anderen Teilen seiner Reden hat er immer wieder betont, dass er die Spannungen im deutsch-britischen Verhältnis abbauen will (was bis Juni 1914 auch geschah!) und dass er die "Blöcke" (Dreibund/Etente) einander annähern möchte. Das eine (Hilfe für Frankreich bei Bedrohung) schloss das andere (Politik der Annäherung) für ihn nicht aus. Die Konservativen hingegen drängten da schon auf Härte gegenüber D. Grey war ein "Entspannungspolitiker", der freilich nicht bereit war, Frankreich für ein besseres deutsch-britisches Verhältnis zu opfern.
repo schrieb:
Aber wirklich interessant ist an dieser Diskussion: Gab es im Juli 1914 noch die Option, bei Respektierung der belgischen Neutralität, England aus dem Krieg zu halten?
Ich denke, wir sind uns einig, dasss es sich insoweit um eine spekulative Diskussion handelt ("wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn ...").
Ich frage mal zurück: Gab es 1914 eine "realistische Option", dass D Krieg gegen F führen und dennoch die belgische Neutralität wahren würde?
Du selbst hast ja vor einiger Zeit auf den französischen Festungsbau (1871-1914) hingewiesen, der von Schliefen dahingehend eingeschätzt wurde, dass Frankreich nur noch über Belgien erfolgreich angegriffen werden konnte. Mein Schluß: zur Respektierung der belgischen Neutralität hätte Berlin ein militärisches Defensivkonzept benötigt, so wie dies Moltke der Ältere an seinem Lebensabend einmal andachte. Wäre der Generalstab 1914 aber defensiv ausgerichtet gewesen, hätten die Militärs keinen Grund gehabt im Interesse einer schnellen Offensive auf den Abbruch der diplomatischen Vermittlungsversuche zu drängen. Die Julikrise wäre wohl ganz anders verlaufen.