Der Moralist und seine Richter
Günter Grass war als 17-Jähriger Mitglied der Waffen-SS. Das späte Geständnis hat eine wilde Debatte entfacht, noch bevor man seine Autobiografie lesen konnte. Jetzt ist sie da. Von Manfred Papst
Acht Tage ist es erst her, dass die «FAZ» jenes grosse Interview mit Günter Grass publizierte, in dem der Nobelpreisträger des Jahres 1999 erstmals öffentlich zugab, als 17-Jähriger im Zweiten Weltkrieg einer Einheit der Waffen-SS angehört zu haben. Das späte Geständnis schlug ein wie eine Bombe und beschäftigt die Medien seither nahezu flächendeckend.
Denn Grass polarisiert: Während Altersgenossen des Schriftstellers wie Martin Walser, Walter Kempowski, Dieter Wellershoff oder Fritz J. Raddatz für ihren Kollegen Partei nehmen oder allenfalls massvolles Befremden über den Zeitpunkt des Geständnisses äussern, reagieren vor allem Vertreter der 68er Generation mit heftigen Vorwürfen: Grass habe sich, so lautet ihr Tenor, durch das jahrzehntelange Verschweigen seiner wahren Rolle im Dritten Reich als moralische Instanz für alle Zeiten disqualifiziert; er solle den Nobelpreis sowie die Ehrenbürgerschaft der Stadt Danzig zurückgeben und fortan schweigen. Etliche Kommentatoren versteigen sich sogar zu der - vorab ihre eigene Gesinnung verratenden - Behauptung, die Selbstbezichtigung sei eine blosse PR-Massnahme zur Lancierung der Grassschen Autobiografie «Das Häuten der Zwiebel» (Verlag Steidl, 480 S., Fr. 39.90), die für den 1. 9. angekündigt war, nach dem Rummel der letzten Tage aber bereits in den Buchhandlungen liegt.
Hier gilt es einiges richtigzustellen. Als das «FAZ»-Interview erschien, hatte der Verlag bereits mehrere hundert Leseexemplare des Buches verschickt, und kein Rezensent hatte sich mit dem Hinweis zu Wort gemeldet, hier liege ein hochexplosiver Stoff vor. Den publizistischen Coup hat also weder der Autor gelandet noch der Verlag, sondern einmal mehr der in solchen Dingen höchst gewiefte «FAZ»-Herausgeber Frank Schirrmacher, der zusammen mit Hubert Spiegel das Interview führte. Im gedruckten Gespräch spielt das Thema Waffen-SS denn auch eine weit grössere Rolle als im Buch selbst, wo es auf den Seiten 125 ff. relativ knapp abgehandelt wird.
Als die Stunde der Grass-Richter schlug, hatte kaum einer der Empörten das Buch gelesen, und je ahnungsloser die Kommentatoren waren, desto heftiger prügelten sie auf den Autor ein. So schrieb «Tages-Anzeiger»-Chefredaktor Peter Hartmeier, Grass habe «über Jahrzehnte hinweg mit einer Lebenslüge gelebt» und «die Nazivergangenheit seines Landes zum Thema seines politischen Lebens» gemacht, «ohne aber auch nur anzudeuten, selber in das teuflische System verstrickt gewesen zu sein». Hartmeier weiss offenbar nicht, dass Grass stets in aller Deutlichkeit bekannt hat, damals der Hitlerei mit Haut und Haar verfallen gewesen zu sein und bis zuletzt an den Endsieg geglaubt zu haben.
Quälendes Rätsel
Es geht also nicht darum, dass einer, der sich bisher als Widerstandskämpfer ausgegeben hätte, nun als Nazi enttarnt worden wäre. Vielmehr hat ein damals 17-Jähriger, von dem man bisher annahm, er sei bloss Flakhelfer gewesen und in der letzten Kriegsphase zur Wehrmacht eingezogen worden, sich in jugendlichem Abenteuer-Wahn zur U-Boot-Truppe gemeldet, ist dort aber nicht angenommen worden. Stattdessen wurde er im September 1944 in die bereits zerfallende Waffen-SS einberufen, zum Panzerschützen ausgebildet, nach Schlesien verlegt und bei einer der ersten «Feindberührungen» in der Lausitz im April 1945 verwundet.
Kaum ein Kritiker macht Grass aus dem, was er damals getan hat, einen Vorwurf. Vielmehr geht es darum, wie der Autor später mit seiner Geschichte umgegangen ist - zumal er nach 1960 zum prominentesten Kritiker jeglicher Schuldverdrängung wurde. Er hätte manche Gelegenheit gehabt, die ganze Wahrheit zu sagen, und es hätte ihm und Deutschland gut getan. Weshalb er es nicht über sich gebracht hat, ist ihm, wie er am 17. 8. im ARD-Gespräch mit Ulrich Wickert kleinlaut beteuert hat, selbst ein quälendes Rätsel.
Erzähler oder Oberlehrer
Dass Grass' Autorität durch die Affäre Schaden genommen hat, steht ausser Frage. Die SS-Runen kleben nun an seinem Namen. Andererseits scheint es so zu sein, dass gerade die uneingestandene Schuld jahrzehntelang der geheime Motor seines Werkes war. Die Novelle «Katz und Maus» etwa verdankt sich, wie Peter von Matt zeigt, bis ins Detail diesem Antrieb. Auch die Autobiografie, die in zögerlicher Selbstvergewisserung die Jahre vom Kriegsbeginn bis zum Erscheinen der «Blechtrommel» 1959 nachzeichnet, kreist um die Frage von Schuld und Verdrängung. Sie tut dies allerdings nicht nur in Demut, sondern immer wieder mit relativierender, gar auftrumpfender Gebärde, und darin liegt ein Problem.
Auf die Karte der Weltliteratur eingetragen hat Grass sich mit seiner frühen Lyrik, mit der «Danziger Trilogie», dem «Butt» und dem «Treffen in Telgte». Seit 1979 ist ihm kein erzählerisches Werk mehr so recht gelungen. In dem Masse aber, wie die ungebärdige, sinnliche Erfindungskraft ihn verliess, verlegte sich Grass auf die Rolle des politischen und moralischen Mahners. Aus dem Fabulierer wurde ein oft kleinlicher, mit aller Welt hadernder Besserwisser. Dass Grass es gegenüber der «FAZ» nicht lassen konnte, die Spiessigkeit der Adenauer-Ära schlimmer als die der Nazizeit zu finden und den amerikanischen Befreiern von 1945 einen Rassismus vorzuhalten, der ihm zuvor nicht aufgefallen war, zeugt von niedrigen Instinkten. Sie beeinträchtigen seit Jahr und Tag eine grandiose erzählerische Potenz - und auch Grass' neues Buch. Einmal mehr stehen neben meisterlichen Passagen solche, die von Eitelkeit und Rechthaberei geprägt sind. Das ist schade, aber kein Grund zur Häme. Dem Autor der «Blechtrommel» gebührt allemal Respekt.