Nach neuerer Völkerrechtsauffassung ist die gezielte Tötung von Zivilisten durch kriegerische Handlung ein Kriegsverbrechen. Im zweiten Weltkrieg war nach meiner Auffassung für die am Luftkrieg über Europa beteiligten Staaten die Haager Landkriegsordnung als völkerrechtliche Grundlage maßgebend. Art. 25 dieser Ordnung verbietet Angriffe auf unverteidigte Städte und Ortschaften. Luftangriffe waren zwar nicht ausdrücklich Gegenstand dieser Regelung, sind aber darunter zu fassen. Die Verwendung der Einschränkung "unverteidigt" dürfte Luftangriffe auf Städte dann rechtfertigen, wenn sie sich in einer Bodenkampfzone befinden und dort Truppen zur Verteidigung liegen. In der Stadt befindliche Flugabwehr läßt sie meines Wissens nicht zu einer verteidigten Stadt werden. Ich halte daher das sog. moral bombing der Briten für kriegsverbrecherisch. Die deutschen Luftangriffe auf britische Städte ebenso.
Daraus könnte sich eine interessante Diskussion ergeben. Meine Bitte an Dich: erstelle zu diesem Thema einen speziellen Strang (War der Luftkrieg im WK2 ein Kriegsverbrechen? oder so ähnlich). Dieser Strang hier hat sich zu einem Flottenangriffs-Strang entwickelt.
Zu der weiter oben recht hitzig geführten Diskussion über die Einordnung des Unternehmens Catapult möchte ich beisteuern, daß ich das Ersuchen Frankreichs um Waffenstillstand zwar als Verstoß gegen die mit Großbritannien getroffene Bündnisvereinbarung ansehe, daraus aber kein Recht der Briten herleiten kann, französische Schiffe anzugreifen. Frankreich hat mit Abschluß des Waffenstillstandsabkommens nicht etwa die Seiten gewechselt, sondern ist aus dem Kriege ausgeschieden. Eine Notwehrlage als Rechtfertigung ist nicht zu erkennen. Allenfalls "Putativnotwehr", wenn die Briten irrig davon ausgingen, daß die französischen Schiffe gegen sie eingesetzt werden würden und diese Gefahr nicht anders abzuwenden sei.
Notwehr ist ein Rechtfertigungsgrund. Bevor man über das Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes nachdenkt, muss man zunächst ein Handlungsverbot finden, gegen das die Briten mit ihrem Angriff auf die französische Flotte verstoßen haben sollen.
Somit wären wir wieder bei der Frage angekommen, wie der Kriegsächtungspakt (1928) auszulegen war.
hrubesch schrieb:
Bleibt aber die Frage, ob der Angriff als Verstoß gegen den Kriegsächtungspakt von 1928 anzusehen ist. Gandolf stellte in Beitrag 18 die enge und die weite Auslegung des Pakts vor und ergänzte in Beitrag 40 zur weiten Auslegung wie folgt: "Wer den Pakt in den 30er Jahren weit auslegte und durch ihn auch ein allgemeines Gewaltanwendungsverbot begründet sah - international betrachtet setzte sich diese Auffassung unter den Völkerrechtlern in den 30er Jahren durch - kam eben auch zu sehr weitgehenden Schlussfolgerungen. Die vertragswidrige Waffenstreckung Frankreichs und die Verbringung der eigenen Flotte in von Deutschland kontrollierte Häfen (allein gegen ein "feierliches Versprechen" der deutschen Regierung die französische Flotte nicht für die eigene Kriegsführung zu nutzen) begünstigte den deutschen Paktbrecher. Demzufolge verlor Frankreich seinen Schutz vor Gewaltanwendung – in Bezug auf diese Unterstützungshandlung."
Diese Auslegung und die daraus gezogenen Schlüsse halte ich für zu weitgehend. In der Präambel des Pakts heißt es dazu auszugsweise: ... daß jede Signatarmacht, die in Zukunft danach strebt, ihre nationalen Interessen dadurch zu fördern, daß sie zum Kriege schreitet, dadurch der Vorteile, die dieser Vertrag gewährt, verlustig erklärt werden sollte ... Frankreich hat durch seine Waffenstreckung seine Bündnisverpflichtung gegenüber Großbritannien verletzt, ist aber nicht zum Kriege geschritten.
Wenn Du der Auffassung bist, dass unter einem „Krieg“ im Sinne des Kriegsächtungspaktes nur der klassische Krieg zu verstehen ist, musst Du diese Sichtweise logischerweise nicht nur bei der Präambel sondern auch beim Kriegsverbot des Art. I anwenden. Es liegt somit in der Konsequenz Deiner Betrachtungsweise,
- dass Art. I nur den klassischen Krieg, nicht aber die Gewaltanwendung unterhalb der Schwelle eines solchen Krieges verbot;
- der britische Angriff auf die französische Flotte nicht gegen den Kriegsächtungspakt verstieß, da er unterhalb der Schwelle eines klassischen Krieges blieb und
- dass die Briten für ihren Angriff auch keinen Rechtfertigungsgrund benötigten.
Mehr als 1300 Menschen haben durch diesen Angriff ihr Leben verloren. Keiner der Getöteten hat an einem gegenwärtigen oder bevorstehenden Angriff auf das oder Einheiten des britischen Empire mitgewirkt. Großbritannien hat durch diese Aktion zumindest gegen seine Verpflichtung aus Art. 2 des Kriegsächtungspakts verstoßen, seine Anliegen nicht mit Gewalt durchzusetzen. Niemals anders, als durch friedliche Mittel, heißt es dort.
Vorsicht vor Tautologien!
"Friedliche Mittel" (Art. II) bedeutet nichts anderes als das Gegenteil von "Krieg" (Artikel I). Anders ausgedrückt: Wenn man unter Krieg im Sinne des Kriegsächtungspaktes nur den klassischen Krieg verstand, war die Gewaltanwendung unterhalb der Schwelle eines solchen Krieges noch ein „friedliches Mittel“.
hrubesch schrieb:
Ist aber die befürchtete Unterstützung des DR durch die mögliche Übergabe der frz. Flotte ein Schreiten zum Kriege im Sinne der Präambel oder eine Gewaltanwendung im Sinne des Art. II des Kriegsächtungspakts? Wenn dies so wäre, hätten die Alliierten Schweden wegen seiner für das DR unentbehrlichen Erzlieferungen angreifen dürfen, ohne daß man ihnen einen Verstoß gegen den Kriegsächtungspakt hätte vorwerfen können. Oder die Schweiz wegen ihrer Devisengeschäfte mit dem DR. Mit meinem Rechtsempfinden ist das nicht zu vereinbaren.
Mit meinem Rechtsempfinden ist dieser Vergleich von Äpfel mit Birnen auch nicht zu vereinbaren:
Schweden und die Schweiz verhielten sich im Rahmen ihres Neutralitätsrechts. Schweden war prinzipiell bereit, auch den Engländern Eisenerz zu verkaufen und die Schweiz war ebenfalls prinzipiell bereit, auch für die Engländer Devisengeschäfte durchzuführen. Dass es hierzu nicht kam, lag an der geografischen Lage dieser Länder und nicht an einer bewussten Entscheidung der schweizerischen oder schwedischen Regierung. Für ihre geografische Lage sind diese Länder aber nicht verantwortlich zu machen.
Bei Frankreich war das völlig anders: Frankreich war aufgrund seiner übernommenen Bündnisverpflichtungen verpflichtet, gegen das Deutsche Reich weiterzukämpfen; ggf. von seinen Kolonien aus. Gegen diese Verpflichtung hat es durch den Waffenstillstandsvertrag (1940) verstoßen. Zudem hat es im Waffenstillstandsvertrag einem Mechanismus zugestimmt, DEMzufolge die französische Flotte unter deutscher Kontrolle geraten sollte (sei es in "unter deutscher Kontrolle stehenden Häfen" oder in sonstigen Häfen zum Zwecke der Demobilisierung "unter deutscher oder italienischer Kontrolle"). Auch die Entlassung der deutschen Piloten aus der Kriegsgefangenschaft, die auf Grund einer mit MP Reynaud getroffenen Abrede eigentlich vor dem Waffenstillstandsvertrag noch nach England verbracht werden sollten, und die nach ihrer Entlassung England bombardierten, war eine schwere Verletzung der Bündnispflichten. Frankreich, das sich gar nicht „neutral“ verhalten durfte, unterstützte also in rechtswidriger Art und Weise das Deutsche Reich und zwar im zentralen Bereich der militärischen Gewaltmittel.
hrubesch schrieb:
Falls sich außer mir für diese Frage noch jemand interessiert, wäre eine Quellenangabe betreffend die weite Auslegung des Kriegsächtungspakts und deren Durchsetzung unter den Völkerrechtlern sicher weiterführend.
Eine Quelle habe ich ja bereits genannt: die Übereinkunft der International Law Association auf ihrer Konferenz in Budapest vom 10.9.1934 zur Interpretation des Kriegsächtungspaktes; zu finden bei Wilhelm G. Grewe, Fontes Historiae Iris Gentium, Band 3/2 (1815-1945), S. 967 f.
Du, Gandolf, erweckst bei mir den Eindruck, daß Du das Völkerrecht zugunsten einer Rechtfertigung der britischen Aktion zu beugen versuchst, weil es einem genehmen Kriegsausgang nützlich ist. Ich halte das für falsch und für brandgefährlich, weil es Präventivaktionen nach Gutdünken rechtfertigt. Schau Dir den amerikanischen Angriff auf den Irak an.
Es ist schade, dass Du nun auf die Ebene persönlicher Vorwürfe wechselst. Eigentlich sollte es in diesem Forum doch möglich sein, über die damaligen Rechtsvorstellungen und deren Entwicklungen zu diskutieren, ohne dass man sich hierbei bestimmte Motive unterstellen lassen muss.
Ferner trifft der von Dir hergestellte Zusammenhang zum Irakkrieg (ab 2003) nicht zu. Spätestens seit der UN-Charta ist es um die Rechtmäßigkeit der „präventiven Selbstverteidigung“ schlecht bestellt. Nach
Art. 51 der Charta setzt das Recht auf Selbstverteidigung einen
„bewaffneten Angriff“ voraus. Doch die UN-Charta trat ja erst 1945 in Kraft; inklusive dem in
Art. 2 Nr. 4 dieser Charta enthaltenen unfassenden Gewaltanwendungsverbot. Hier geht es aber um die Rechtslage VOR dem Inkrafttreten der UN-Charta.
Macht oder Recht, die Operation Catapult ist ein Musterbeispiel dafür, daß dem Sieger diese Frage nicht gestellt wird. Es waren Zweckmäßigkeitserwägungen, die die Briten zu diesem Unternehmen bewogen haben. Hätten völkerrechtliche Erwägungen eine Rolle gespielt, hätte Churchill diese in seinen Erinnerungen zur Rechtfertigung vorgetragen. Keine Rede ist dort davon. Stattdessen bemüht er moralische Ansätze, indem er das Verhalten der Eltern eines getöteten französischen Matrosen hervorhebt, die darum baten, dem Sarg ihres Sohnes neben der französischen auch die britische Flagge beizulegen.
Auch zweckmäßige Entscheidungen können völkerrechtmässig sein.
Übrigens ging Churchill in seiner Unterhausrede zum Schicksal der französischen Flotte vom 4. 7. 1940 auf die Rechtsverletzungen der Bordeaux-Regierung ein, die tödliche Gefahr, die von diesen Verletzungen für Großbritannien drohte, die abgelehnten britischen Vorschläge und die sich hieraus ergebende unausweichliche Notwendigkeit die französische Flotte auszuschalten. Die Rede findet man bei Michaelis/Schraepler, Ursachen und Folgen, 15. Band, Dok.-Nr. 3016 b, S. 365 f.
hrubesch schrieb:
Macht oder Recht, die Operation Catapult ist ein Musterbeispiel dafür, daß dem Sieger diese Frage nicht gestellt wird. (...) Die Lehre aus Nürnberg ist nicht, daß man einen Krieg nicht beginnen darf, sie ist, daß man einen Krieg nicht verlieren darf, sagte mir nach drei Halben ein befreundeter Völkerrechtler.
Aus der Sicht eines Machtmenschen mag diese Einschätzung richtig sein. Wer aber die Wichtigkeit der Kulturleistung Recht erkannt hat, wird nichts dagegen einzuwenden haben, dass deutsche Kriegsverbrecher in Nürnberg gerichtet wurden.