Was wussten die Generäle vor 1939

... und noch die Literaturangabe zu meinem obigen Quellenzitat:

O.-E. Schüddekopf, Das Heer und die Republik: Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918-1933, Hannover, 1955, S. 160ff.
 
@silesia: meine Kombination aus deinen Bemerkungen (Krieg im Osten wurde geplant; französisches Eingreifen miteinkalkuliert => man plante auch mit einem Krieg gegen Frankreich) stellt nicht die Dinge auf den Kopf, sondern steht im Einklang mit dem Umstand, dass die Reichswehr ganz in den Bahnen traditioneler Überlegungen von einem Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Polen ausging, dessen Ausgang die Reichswehrleitung freilich angesichts der Schwäche der Reichswehr pessimistisch beurteilte.

Aus Papa_Leos Beitrag wird ja deutlich, dass sich die Reichswehr - bei ihren polnischen Planspielen - keinesfalls auf die Defensive beschränkt sah. Ähnliches findet man in Groeners Weisung über "Die Aufgaben der Wehrmacht", die dieser den Chefs der Heeres- und Marineleitung am 16.4.1930 als "Leitsätze zur Grundlagefür die Bearbeitung der Landesverteidigung" übersandte. Die Weisung nennt ein neues Element der Einsatzplanung Groeners, nämlich die aktive "Ausnutzung einer günstigen politischen Situation, also Einsatz der Wehrmacht, auch ohne daß wir unmittelbar angegriffen sind", entweder auf Druck einer verbündeten Macht oder "aus freier eigener Entscheidung, wenn eine günstige internationale Konstellation uns das Risiko eines solchen Entschlusses gestattet" (vgl. Johannes Hürter, Wilhelm Groener, 1993, S. 99).

Mir ist schon klar, dass es sich bei Groeners Option um Zukunftsmusik handelte. Die Reichswehrleitung war sich 1919-1933 durchaus der Schwäche der deutschen Streitkräfte bewusst. Doch die Mentalität der Reichswehroffiziere - hierauf weist Wehler völlig zu recht hin - umfasste auch das aggressive Vorgehen gegen die "Fesseln des Versailler Vertrages", auch wenn ihre Planungen ein solches Vorgehen 1919-1933 wegen der (noch) bestehenden Schwäche der deutschen Streitkräfte verwarfen bzw. ausklammerten. Es war die Reichswehr, die von Hitler als Bedingung für dessen Akzeptanz die Aufrüstung und den Aufbau der bereits zuvor ersehnten Wehrmacht forderten und Hitler kam diesen Forderungen nach und führte hierdurch jenen Zustand herbei, in dem sich die Mentalität der Offiziere mit den Möglichkeiten ihrer Streitkräfte zu decken begann.
 
... sondern steht im Einklang mit dem Umstand, dass die Reichswehr ganz in den Bahnen traditioneler Überlegungen von einem Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Polen ausging, dessen Ausgang die Reichswehrleitung freilich angesichts der Schwäche der Reichswehr pessimistisch beurteilte.

Dann hatte ich das mißverstanden.
 
Ich zitiere mal General Seeckt (Chef der Heeresleitung) 1922:
„Mit Polen kommen wir nun zum Kern des Ost*problems. Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muß verschwinden und wird verschwinden ...“

Zum Verständnis sollte man das Zitat ergänzen, es ging um Rapallo, die mögliche Revision der Versailler Verträge und die künftige Anlehnung an Rußland:

"... und wird verschwinden durch eigene innere Schwäche und durch Rußland - mit unserer Hilfe. Polen ist für Rußland noch unerträglicher als für uns; kein Rußland findet sich mit Polen ab. Mit Polen fällt eine der stärksten Säulen des Versailler Friedens, die Vormachtstellung Frankreichs. Dieses Ziel zu erreichen, muß einer der festesten Richtungspunkte der deutschen Politik sein, weil er ein erreichbarer ist. Erreichbar nur durch Rußland oder mit seiner Hilfe."

es geht dann weiter:
um Revisionspolitik, Polens Deutschlandfeindlichkeit, die offene Kommunikation dieses Zieles, auch gegenüber Rußland zwecks stärkerer Anlehnung.
 
Das mag schon sein. Aber aus dem Seeckt-Zitat wird schon deutlich, dass ihm gegenüber Polen allen Defensivplanungen der Reichswehr zum Trotze auch eine aggressive Gangart vorschwebte; möglicherweise auch eine als Verteidigung ausgegebene Aggression.

Viel anders war dies übrigens gegenüber Frankreich auch nicht, entgegen dem von @Repos These über die Akzeptanz der Locarno-Politik durch die Reichswehr ausgehenden Eindruck, die Reichswehroffiziere hätten sich mit dem Verlust von Elsaß-Lothringen abgefunden. Der entscheidende Unterschied zwischen Polen und Frankreich lag darin, dass Seeckt und den anderen Offizieren bewusst war, dass dem Deutschen Reich gegenüber Frankreich von vorneherein die militärischen Machtmittel zu einer aggressiven Machtpolitik fehlten. Stresemanns Locarno-Vertrag wurde da nur taktisch akzeptiert. Sobald wir die Macht hierzu wieder haben, holen wir uns das alles wieder zurück, so Seeckt zu Stresemanns Locarno-Vertrag. Ich zitiere aus der Erinnerung aus Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der entscheidende Unterschied zwischen Polen und Frankreich lag darin, dass Seeckt und den anderen Offizieren bewusst war, dass der Reichswehr gegenüber Frankreich von vorneherein die Machtmittel zu einer aggressiven Machtpolitik fehlten. Stresemanns Locarno-Vertrag wurde da nur taktisch akzeptiert.

Ja sicher, taktisch, aus der gegebenen und für Seeckt unabsehbar zementierten Machtkonstellation.

Seeckt zeigt sich in dem Zitat aber sehr spitzfindig.

Das Argument in der Einsicht, gegenüber Frankreich würden die Machtmittel fehlen, gilt nämlich entsprechend konsequent für das mit Frankreich fest verbundene Polen. Auch ein Angriff auf Polen war in der Sicht Seeckts künftig nicht ohne riskanten Zweifrontenkrieg zu haben.
Und genau da bedient er sich in seinen Überlegungen der Sowjetunion, die "stärker als Deutschland" am Verschwinden Polens interessiert sei. Die Sowjetunion, so würde ich das interpretieren, erledigt die Drecksarbeit oder kompensiert Frankreich in Deutschlands Rücken.

Soweit liest sich das fast als Gebrauchsanleitung für den Hitler-Stalin-Pakt. Die Konstellation in den 30ern hatte sich aber verschoben: Frankreich und die Sowjetunion seit 1935 im Beistandspakt, nach der Ostpaktinitiative. Hitler brach das auf, indem er Nordost- und Südosteuropa gleich mit verkaufte.
 
Das Spiel mit der "sowjetischen Karte" war auch eine Vorstellung, die in Deutschland zur Liquidation des ungeliebten polnischen Staates grasierte; auch bei Stresemann, erst recht bei Seeckt.

Bei der Debatte über den Locarnovertrag und den sich diesem anschließenden deutschen Völkerbundsbeitritt spielten diese Überlegungen eine große Rolle. Bei einem russisch-polnischen Konflikt wollten die Deutschen nämlich am liebsten ihre Grenzen dicht machen und die Polen ihrem Schicksal überlassen; in der Hoffnung, dass sich nicht erneut ein "Wunder an der Weichsel" einstellt. Dem stand aber die Völkerbundsatzung (VS) entgegen. Diese sah in Art. 16 das Konzept der kollektiven Verteidigung vor; über Art. 17 konnte dieses Konzept auch für den Fall eines Angriffs eines Nichtmitgliedes (z.B. der SU) auf ein Völkerbundsmitglied (z.B. Polen) gelten.

Art. 16 Abs. 3 VS bestimmte folgendes: "Sie veranlassen alles Erforderliche, um den Streitkräften eines jeden Bundesmitglieds, daß an einem gemeinsamen Vorgehen zur Wahrung der Bundesverpflichtungen teilnimmt, den Durchzug durch ihr Gebiet zu ermöglichen." Deutschland drohte also bei einem Völkerbundsbeitritt im Falle des in Deutschland ersehnten Angriffs der SU auf Polen folgendes Szenario: Deutschland wäre aufgrund der VS verpflichtet gewesen, hilfsbereiten französischen Truppen den Durchzug durch deutsches Gebiet zu gestatten, damit diese Polen verteidigen können.

Dementsprechend groß war im Vorfeld des Völkerbundbeitritts das diplomatisches Geplänkel zu der Frage, ob die Passage über das Durchmarschrecht bei einem Völkerbundsbeitritt auch für das Deutsche Reich gelten könne.

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Hitler hat in der Tat einiges verschoben: mit dem deutsch-polnischen Nichtangriffspakt und der Abkühlung der Beziehungen zur SU brach er mit der traditionellen Weimarer Außenpolitik. Eigentlich wollte er ja mit den Polen gegen die SU Krieg führen. Aber nachdem sich diese weigerten, sich von Hitler zu Bundesgenossen machen zu lassen, näherte sich Hitler aus taktischen Gründen wieder der SU an, um zunächst Polen zu zertrümmern. Bei den Verhandlungen der Westmächte mit der SU über ein gemeinsames Vorgehen gegen Hitler bei einem deutschen Angriff auf Polen (1939) spielte das Durchmarschrecht wieder eine Rolle. Diesesmal ging es um den Durchmarsch sowjetischer Truppen durch Polen um Polen zu verteidigen.
 
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Bei einem russisch-polnischen Konflikt wollten die Deutschen nämlich am liebsten ihre Grenzen dicht machen und die Polen ihrem Schicksal überlassen; in der Hoffnung, dass sich nicht erneut ein "Wunder an der Weichsel" einstellt. Dem stand aber die Völkerbundsatzung (VS) entgegen. Diese sah in Art. 16 das Konzept der kollektiven Verteidigung vor; über Art. 17 konnte dieses Konzept auch für den Fall eines Angriffs eines Nichtmitgliedes (z.B. der SU) auf ein Völkerbundsmitglied (z.B. Polen) gelten.

Nicht "wollten", das wurde auch mal ganz handfest vor dem Wunder an der Weichsel realisiert, vertreten durch Danzig. Parallel wurde der Vormarsch aus Ostpreußen diskutiert (wenn der russische Vormarsch auf Warschau Erfolg haben würde). Das "Dichtmachen" bezog sich hier auf den Hafen, für die polnische Seite aufgrund der Munitionslieferungen eine prekäre Lage.

Und hieran sieht man, wie sich die Lager in der Danziger Frage hochschaukelten:
http://www.geschichtsforum.de/283520-post27.html
 
Mein "wollten" bezog sich auf die Zukunft; aber das in der Vergangenheit gezeigte Verhalten, liess ebenfalls die deutsche Bereitschaft zur Aggression gegenüber Polen im Falle einer günstigen internationalen Gelegenheit durchschimmern.
 
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Man darf sich die ganzen Konstellationen und Entwicklungen von 1918 bis 1934 nicht zu einfach vorstellen, oder gar Folgerichtigkeiten aus späterer Sicht unterstellen.

Es gab auch einige "spieler" mehr in diesem "spiel" als bisher aufgeführt, der Völkerbund z. B. war auch nicht "das" Instrument der Siegermächte, als den ihn die Deutschnationale Propaganda gerne hinstellte.


Als Musterbeispiel, die Westerplatte, entstanden, da sich die deutschen, zu dem Zeitpunkt natürlich roten, Hafenarbeiter Danzigs weigerten franz.-englisches Kriegsmaterial für Polen zu entladen, das ja gegen die Sowjetunion eingesetzt wurde. Zu jener Zeit die Hoffnung aller Werktätigen.

Memel, das nächste Beispiel.
 
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