Was heißt hier schon "Relativisten"? Du relativierst doch selbst nach Kräften, nur eben in die eine Richtung. Und andere eben in die andere Richtung.
Die typische Antwort eines Relativisten eben. :winke:
Ja wo denn? China vielleicht?
Bitte. Dafuer interessiere ich mich naemlich besonders.
Mal kurz bei Jacques Gernet nachgeblättert (Jacques Gernet, Die chinesische Welt, Frankfurt/Main 1979)
Gleich vorneweg: Wie du ja sicherlich schon laengst weisst, fussen quasi alle Erkenntnisse ueber chinesische Wissenschaft und Technik auf dem vielbaendigen Werk von J
oseph Needham: Science and Civilisation in China. Das ist vermutlich auch fuer Gernet die Standardreferenz, obwohl ich in sein Buch schon lange nicht mehr reingeguckt habe.
Das Problem: Needham ist fuer China das, was Lynn White fuer das europaeische Mittelalter war. Ein sehr grosser Enthusiast, der unbestreitbar enorme Fachkompetenz hat, der aber eben auch berechenbar tendenzioes schreibt. Bei Needham heisst das immer: Soviel wie moegliche europaeische Erfindungen und Entwicklungen haben ihren Ursprung in China. Umgekehrt legt er allerdings auf die Authochtonitaet der chinesischen Kultur groesstmoeglichen Wert.
Sein Problem ist dabei, dass sich die meisten seiner Diffusionsvorstellungen von China nach Europa nicht nachweisen lassen und gewoehnlich einzig auf dem Prinzip der Vorzeitigkeit beruhen. Entsprechend sind viele seiner Vorstellungen zur Technik- und Ideendiffusion bereits in der Fachliteratur widerlegt oder abgelehnt worden.
Der Link von oben zur 'Refutation of the claim (of Joseph Needham) that the ancient Chinese described the circulation of blood' ist so ein Beispiel.
Deswegen sind auch Gernets Thesen, die auf Needhmas Werk beruhen, erstmal mit Vorsicht zu geniessen. Jedenfalls was den Aspekt der kulturellen Uebernahme betrifft.
...da finden wir z. B.
Huang Zongxi (1610-1695), Wang Fuzhi (1619-1692), Fang Yizhi (1611-1671), Gu Yanwu (1613-1682), Yan Yuan (1635-1704), Dai Zhen (1723-1777), Zhang Xuecheng (1736-1796) u. a.
Gut, da finden wir, aber was sagt uns das? Beschreib doch mal, was diese Maenner so auszeichnet? Fuer mich vergleichst du naemlich Christoph Metzelder, Christian Ziege und Dieter Eilts mit Pele, Beckenbauer und di Stefano. Chinesische Gelehrte mit europaeischen Wissenschaftler, um mal die Ebenen zu veranschaulichen.
Ich mach dir aber mal ein Angebot, und frage bei meiner chinesischen Freundin nach, ob sie einen oder zwei von denen ueberhaupt kennt. Waehrenddessen kannst du ja darlegen, wo es auch in China revolutionaere Umwaelzungen a la Reformation, wissenschaftliche Revolution und Aufklaerung gab.
Schön, daß Du auch Leibniz erwähnst. Das war ein Denker, der sich sehr für chinesische Philosophie interessiert und sich davon einige Scheiben abgeschnitten hat: Die "mathematische" Eigenschaft der chinesischen Schrift [...] zog auch das Interesse von Leibniz (1646-1716) auf sich und hat möglicherweise die Entwicklung der mathematischen Logik in Europa angeregt.
Dass Leibniz von China begeistert war ist bekannt und die eine Sache. Aber dass seine Monadologie von der chinesischen Philosophie entscheidend beeinflusst sein soll, eine andere. In
'Donald Lach: Leibniz and China' habe ich jedenfalls keine so kuehne Bemerkung finden koennen, aber ich lasse mich gerne durch eine genaue philosophische Darlegung belehren.
Interessant ist vielmehr eine andere Sache, naemlich die Frage, warum im letzten Viertel des 18.Jh. die bis dato positive Meinung zahlreicher europaeischer Intellektueller ueber China quasi ueber Nacht zusammenbrach? Wie kam es so urploetzlich zum Bild des
La Chine Immobile?
Ein Gutteil der Antwort liegt im Interpretationsmonopol, das die
Jesuiten bis dahin ueber China innehatten. Als Missionare waren sie naemlich sehr daran interessiert, ein positives Bild von China nach Europa zu vermitteln, um moralische und materielle Unterstuetzung fuer ihre schwierige Missionstaetigkeit zu erhalten. Und als der Jesuitenorden 1773 verboten wurde, war es auch schnell aus mit der einseitigen Auslandsberichterstattung und das erstarrte Gesicht des Konfuzianismus wurde in Europa erkennbar.
Auch Leibniz war in seinen Informationen ueber China auf die weichzeichnenden Jesuiten angewiesen: "As far as Leibniz is concerned, his attitude in the controversy was probably to be expected.
His ideas on China and Confucius had been formed by the Jesuits. His relations with them had always been agreeable." (Lach S.448)
... "temperierte Stimmung"...
Mit Musiktheorie kenne ich mich nicht so gut aus. Wiki.org erwaehnt auch eine chinesische Ersterfindung (neben dem Vater von Galileo). Wiki.de, Wiki.fr und Encarta dagegen nicht, sondern malen eher ein breiteres Bild.
Medizin:...Li Shizhen (1518-1598)...
Gut, dass du Li erwaehnst, den ich als ameisenfleissigen Kompilator sehr bewundere. Das Problem bloss ist, dass Lis Arbeit
exemplarisch genau fuer das steht, was das stagnierende China der Ming und Qing Zeit auszeichnete: Riesige Kompilationen von bekanntem Wissen, aber wenig Neues und Innovatives.
Astronomie:
Man muß sich im übrigen davor hüten, dem Europa des beginnenden 17. Jahrhunderts eine prinzipielle Überlegenheit zuzuschreiben. In dieser Epoche hatten der christliche Westen und die chinesische Welt beide gleichviel voneinander zu lernen.
Eben nicht. Die Jesuitenmission markiert ganz klar, dass der Wissensfluss nunmehr von West nach Ost floss. Dafuer gibt es wirklich zahlreiche Beispiele. Erwaehnt Gernet , dass die jesuitische Mission in China ueberhaupt nur zustande gekommen ist, weil der Kaiser nach Matteo Ricci rief, da seine eigenen Fachleute eine mechanische Uhr nicht reparieren konnten?
Gernet ist 'nur' Allgemeinhistoriker, der das Spezialwissen von Fachleuten synthetisiert. Schauen wir mal, was ein Spezialist auf dem Gebiet der chinesischen Astronomie direkt zu sagen hat:
We can nonetheless already say with confidence that the influence of the mathe-matical techniques of European astronomy on China was enormous: as Chinese mathematical and astronomical bibliographies very eloquently attest, seventeenth- and eighteenth-century Chinese astronomers largely used written reckoning, calculating instruments, plane and spherical trigonometry, geometry of the triangle and of the circle and, to a lesser extent, infinite series developments imported from Europe.
...
Without these common conceptions and without the superiority of Jesuit astronomy compared to any other system of predictive astronomy then available in China, Chinese imperial authorities would not have entrusted missionaries with the task of reforming the calendar and even less appointed them to head the Imperial Bureau of Astronomy. Notwithstanding the opposition of conservative forces, the reform of Chinese astronomy was promulgated as early as 1645, only half a century after the arrival of the first Jesuits in China.
Autochthonous attempts to renovate Chinese traditional astronomy proposed before and after the fall of the Ming dynasty always failed so that European mathematical and instrumental techniques supporting the reform were gradually assimilated to the detriment of Chinese traditional astronomy. Beyond the narrow circle of technicians of astronomy, European astronomy was so much judged worth consideration that numerous authors developed the idea that the Chinese of antiquity had anticipated most of the novelties presented by the missionaries as European discoveries, for example, the rotundity of the earth and the “heavenly spherical star carrier model.” Making skillful use of philology, these authors cleverly reinterpreted the greatest technical and literary works of Chinese antiquity. From this sprang a new science wholly dedicated to the demonstration of the Chinese origin of astronomy and more generally of all European science and technology.
Jean-Claude Martzloff: Space and Time in Chinese Astronomy, S.67-69 (Text als PDF im Internet herunterladbar - ich moechte nicht den ueberlangen Link hiereinkopieren)
Der Ausschnitt illustriert 2 Sachen ganz deutlich:
1. die deutliche Ueberlegenheit der europaeischen Astronomie bei der Ankunft der Jesuiten (Ende des 16.Jh.)
2. den Chauvinismus der Chinesen, die Probleme damit hatten, dass ihre alten Autoritaeten so ueberfluegelt wurden.
seit der Han-Zeit an das äquatoriale Bezugssystem gewöhnt waren, das mit Tycho Brahe (1546-1601) in der modernen Astronomie allgemein anerkannt werden sollte.
Was ist denn das
äquatoriale Bezugssystem ? Ich moechte mal an dieser Stelle anmerken, dass den Chinesen bis zur Ankunft der Jesuiten die Kugelgestalt der Erde unbekannt war. Jup, unbekannt.
Wohingegen in Europa dieses Faktum bereits seit dem Altertum (Aristarch von Samos) allgemein anerkannt war und zwar durch das
gesamte Mittelalter hindurch, soweit sich das anhand der Quellenlage feststellen laesst
Die Annahme, dass der mittelalterliche Mensch die Erde als Scheibe ansah, wurde als neuzeitlicher Mythos entlarvt:
http://de.wikipedia.org/wiki/Flache_Erde
http://www.spiegel.de/wissenschaft/weltraum/0,1518,381627,00.html
Es sind also, um mal einfach unfair zu sein, die Chinesen die Ignoranten gewesen. Schreibt Gernet das auch?
Technik:
Die Idee, Hängebrücken mit Eisenketten zu bauen, wurde in Europa im Jahr 1585 bekannt. Sie wurde sehr wahrscheinich durch die Berichte portugiesischer Reisdneder aneregt [...]
Es ist bekannt, dass die Tibeter und Chinesen die Haengebruecke frueher kannten. Hut ab. Allerdings meines Wissens auch die Inkas und andere Indianervoelker. Wer sagt denn, dass die inspiration nicht viel eher von einem Conquistadoren stammt, der sich mit seinem Plattenpanzer ueber eine Andenschlucht schwanken musste? Der Kontakt zwischen Amerika und Europa war doch durch die spanische Kolonisation viel enger als nach China.
Von den weiteren Entlehnungen seien noch die Windfege (Tarare) erwähnt, die in China seit der Han-Zeit gebräuchlich war, die Vorrichtung der wasserdichten Abteilungen auf Schiffen, die Seidenraupenzucht und die Porzellantechnik (die ersten Versuche, die von J. F. Böttger (1682-1719) gemacht wurden, fanden im Jahr 1705 statt).
Die Existenz wasserdichter Abteilungen ist nicht ganz unbestritten, denn zu einer sinnvollen Nutzung haette es auch leistungsfaehiger Pumpen bedurft, die aber damals nicht vorhanden waren. Ausserdem sind Dschunken (Kastenboote) nach anderen Strukturprinzipien als europaeische Kielschiffe gebaut. Bei der Dschunke brauchte man die Verstrebungen der wasserdichten Abteilungen zur Stabilisierung des Bootsrumpfs. Bei europ. Segelschiffen nimmt dagegen das Schiffsskelett diese Aufgabe wahr. Es bestand also nicht unbedingt akuter Bedarf an dieser chinesischen Erfindung, was man auch daran ablesen kann, dass sie erst spaet im 19.Jh. implementiert wurde, obwohl schon Benjamin Franklin in seiner Korrespondenz davon wusste.
Die Seidenraupenzucht wurde in Europa seit der Zeit Justinians (6.Jh.) betrieben und ich sehe auch nicht ein, warum eine Naturware als zivilisatorischer Vorsprung gewertet werden soll. Die Seidenraupe kam urspruenglich eben nur in China vor und war kein Manufaktur-Produkt wie Keramik oder Porzellan.
Porzellan wiederum wurde in Sachsen bei der Suche nach Gold entdeckt. August des Starken Geldmangel sei Dank. Von einer Uebernahme chinesischen Know-Hows kann also keine Rede sein.
Staat:
Das chinesische "Prüfungssystem" wurde zum erstenmal von Mendoza im Jahr 1585 [...] beschrieben.
Der erste Staat mit modernem Beamtenapparat in Europa war das normannische Sizilien (11.-12.Jh.), wo man von den Arabern modernes Regieren und Verwalten gelernt hat. Friedrich II. liess dann an der eigens zu diesem Zweck gegruendeten Universitaet zu Neapel (1220er) seine Staatsdiener ausbilden. Es besteht also kein Grund, gleich in die Ferne zu schweifen, wenn das Gute so nah lag. Man fand mit dem gewaltigen roemischen und byzantinischen Staatsapparaten in den klassischen Schriften wirklich auch genug heimische Buerokratisierungs-Vorbilder.
Das Gleiche gilt fuer die Volkszaehlungen, die ja bereits regelmaessig in der roemischen Republik zur Bestimmung der Vollbuerger abgehalten wurden und sogar noch etwas frueher als fuer China ueberliefert sind.
Das alles heisst natuerlich nicht, dass man durch das Vorhandensein solcher Modelle in China nicht angeregt worden waere, aber es wurde eben auch keine neuen Idee importiert.
Uebrigens hatte China bis 1920 ueberhaupt keine modern Universitaeten. Europa dagegen um 1500 bereits 40-50. Modern heisst: Lehreinrichtungen, die akademische Titel als Abschluss verleihen, also das Leistungsprinzip betonen und einen strukturierten Lehrplan hatten.
Mal abgesehen davon, dass an europ.
Unis schon frueh Diversitaet herrschte, wohingegen an chinesischen Paukschulen immer derselbe konformistische Kanon an konfuzianischen Klassiker runtergebetet wurde.
Auch ein Grund, warum sich Europa um 1500 bereits deutlich an die Spitze gesetzt hat.