Klassen und Stände sind voneinander abzugrenzen, obwohl sie zeitgleich und nebeneinander in einer Gesellschaft existieren können. Die Ständegesellschaft ist allerdings die ältere von beiden - aber der Ablösungsprozess des Ständesystems durch das Klassensystem hat sich eben nicht von heute auf morgen vollzogen. Klassen verstand man als gesellschaftliche Stratographie bei welcher man die eigene Stratosphäre nach oben oder unten verlassen konnte. In der ständischen Ordnung blieb man Bauer, Bürger oder Adeliger, trotz aller ökonomischen Erfolge oder Misserfolge.
In einer Diskussion wie dieser kommt man in Versuchung, den umfangreichen Artikel "Stand, Klasse" von Rudolf Walther in Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6 [1997], S. 155-284 zu Rate zu ziehen. Ich lese daraus folgendes:
1. Es ist immer ein Problem, neuzeitliche oder gar zeitgenössische Begriffe den alten Lebenssachverhalten überzustülpen. Das gilt zumal dann, wenn unterschiedliche Ansätze in Rede stehen, bei Marx/Engels etwa (a) der geschichtlich-gesellschaftliche, (b) der geschichtsphilosophisch-politische und (c) der sozial-ökonomische (S. 265 ff).
2. Was "Stand" betrifft, so hat die Reflexion darüber in der Antike und im Mittelalter "metaphysischen Rang. [...] Reflexion über 'Stand' ist somit Reflexion über Ungleichheit, über Stufungen und Unterschiede, die 'natürlich' oder von Gott gesetzt sind" (S. 156), d. h. hier ist ein Verarbeitungsprozess zu beoachten, der ökonomische Sachverhalte/Begriffe in solche des politischen Ordnungsrahmens übersetzt. (Ich will nicht von "Verschleierung" reden.)
3. Wiewohl etwa "das Schema einer Dreiteilung des sozialen Ganzen nach drei Funktionsständen" eine lange Tradition hat (S. 160 ff.), so scheinen doch hinter metaphysischen Betrachtungen auch immer die ökonomischen durch, etwa wenn Plato schreibt, dass der "erwerbende [3.] Stand [...] die Subsistenz für die beiden anderen Stände zu erbringen (hat)". Er verbindet das interessanterweise mit seiner Tugendlehre, indem er die "Besonnenheit" als "Einsicht in die Struktur der Ständeordnung und in die Verschiedenwertigkeit der Stände" definiert und vorzüglich dem 3. Stand zuweist (S. 161). "Stand" ist insoweit ein Kampfbegriff, der - vgl. E.Q. - die feste Zuweisung des Platzes innerhalb der Ordnung rechtfertigen soll.
4. "Klasse" ist erst recht ein Kampfbegriff. Er taucht als funktionsanalytische Kategorie schon bei Livius auf, habe sich in der Folgezeit aber "nicht halten [können] gegen eine mehr und mehr christlich inspirierte und theologisch legitimierte Ständelehre" (S. 219) und wird erst sehr viel später wieder popularisiert, zunächst durch die Physiokraten, Adam Smith usw., dann natürlich durch die Theoretiker der "sozialen Bewegungen".
Der Milieubegriff ist relativ jung. ... denn Bildung ist eigentlich ein Produktionsmittel ...
Inwieweit das "Milieu" die älteren Begriffe ganz oder teilweise abgelöst hat, ist eine Einschätzungsfrage, zumal - wie schon bei jenen - begriffliche Trennschärfe schwer herzustellen ist. Das "Neue" beim Milieubegriff ist offenbar - so der WP-Artikel - die Hereinnahme sozialisatorischer Faktoren (Mentalitäten, Gesinnungen), die man aber auch an der Dialektik von Basis und Überbau zeigen könnte.
Als Humboldtianer "schmerzt" mich natürlich die "Degradierung" der Bildung zum bloßen Produktionsmittel
- ist aber ein anderes Thema, das auch mit der auf alte Zeiten gemünzten Ausgangsfrage weniger zu tun hat.