3.6 Der Grau-braune Wolf
Damals unbekannt und noch heute in der Türkei tabuisiert sind die streng geheimen
Kontakte, die Inönü zum Dritten Reich unterhielt. Erst aus ihnen geht hervor, bis zu
welchem Maß eigentlich die türkische Regierung ihre Außenpolitik mit dem Schicksal
der Achsenmächte zu verknüpfen bereit war. Kurz nach der Amtsübernahme von
Ismet Inönü änderte sich auch die offizielle Haltung zum Turanismus. Ich möchte
sogar behaupten, daß die sogenannte turanistische Idee von Inönü künstlich
wiederbelebt wurde. Sie sollte auch in den folgenden Jahren in den Beziehungen
zwischen Deutschland und der Türkei teilweise entscheidende, zumindest eine
wichtige Rolle spielen.
Die turanistische Bewegung war in den 90er Jahren des 19. Jh. im Osmanischen
Reich als bürgerliche und national-türkische Bewegung entstanden. Der Dichter und
Soziologe Ziya Gökalp wurde der theoretische Vertreter dieser Bewegung, die er zuerst “Türkismus” nannte. Die Wiedererweckung der türkischen Sprache164,
Literatur, Kunst, Geschichte, Entwicklung des Nationalbewußtseins und bürgerliche
Reformen waren Gökalps Hauptanliegen. Analog dem Panslawismus trat er für die
Vereinigung aller turksprachigen Völker auf der Basis der Sprache der Türken ein
und propagierte die rassische, historische und moralische Einheit und Überlegenheit
aller Turkvölker. Auf dieser Grundlage sollte später auch ihre politische Einigung
vollzogen werden, wobei die Türkei nach der Vorstellung von Gökalp die Rolle
Preußens zu spielen hatten. Der Pan-Türkismus wurde, nach einem imaginären
mittelasiatischen Stammsitz des Turkvolkes Turan, auch “Turanismus”165 genannt
und lieferte im Ersten Weltkrieg der türkischen Regierung, von der sich mehrere
Mitglieder als Turanisten verstanden, die ideologische Grundlage für die Vertreibung
der armenischen Minderheit in 1915. Gleichzeitig trugen pantürkisch eingestellte
Offiziere und Funktionäre wesentlich zum Sieg der türkischen Armeen beim
sogenannten Unabhängigkeitskrieg bei, da sie vor allem turkmenische Einheiten für
den Wehrdienst mobilisieren konnten. Auch wenn sie nach der Republiksgründung
am Anfang die Regierung entscheidend mitgestalteten und auch die sogenannte
kemalistische Staatsdoktrin weitgehend beeinflußt haben (Walter Markow schreibt in
diesem Zusammenhang, daß der türkische Nationalismus der 20er Jahre die
kemalistisch gemilderte Version des Turanismus war166), wurde der Turanismus im
Laufe der Zwanziger Jahre, vor allem wegen der friedlichen Koexistenzpolitik mit der
Sowjetunion immer mehr unterdrückt. Doch im Dezember 1938, also knapp ein
Monat nach dem Tod von Mustafa Kemal, wurde als eine der ersten offiziellen
Amtshandlungen der neuen Regierung das Einreiseverbot für den Führer der
Turanisten Zeki Velidi Togan aufgehoben. Er war während des Ersten Weltkrieges
Kommandant der turkmenischen Einheiten gewesen und hatte später, zwischen
1927 und 1932, an der Istanbuler Universität Darülfünun Geschichte gelehrt. Er
versuchte, nicht nur in seinen Vorlesungen, die turanistischen Ideale zu verbreiten
und wurde wegen seiner extremen Haltung aus dem Land verwiesen167. 1938 konnte
er dann aus Deutschland zurückkehren und “wurde wie ein Held empfangen”168. Im Mai 1939 wurde die Herausgabe der Zeitschrift “Bozkurt” (Grauer Wolf) wieder
erlaubt169. In dieser Zeitschrift und anderen Printmedien konnten die Turanisten nun
offen dafür eintreten, Deutschland aktiv und konsequent zu unterstützen und
gegebenenfalls an seiner Seite gegen Rußland in den Krieg einzutreten. Weiterhin
forderten sie die Vereinigung aller Turkvölker in einer sich an die Türkei anlehnenden
Föderation. Diese Föderation sollte nach der Vorstellung der Turanisten neben der
Türkei, Teile von Iran, Asarbeidschan, Usbekistan, Tataristan und Turkmenistan
umfassen. Vor allem der schnelle Durchmarsch der deutschen Truppen in
Westeuropa und, viel wichtiger, später in Rußland, beflügelte die Turanisten so sehr,
daß ein Teil der bis dahin moderat auftretenden politischen Persönlichkeiten aus der
kemalistischen Bewegung sich auch im turanistischen Sinn äußerten. So weist der
deutsche Botschafter von Papen in einem Bericht an das Außenministerium am
25.07.1941 auf die “mit den deutschen Erfolgen gegen Rußland automatisch
wachsende panturanistische Bewegung in der Türkei” hin170. Er schlug dem
Außenministerium vor, “eine Kampagne zu starten, welche die Gemeinsamkeiten der
Interessen bei der Neuordnung des Russischen Reiches herausstellt
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