An den Knochen ist frappierend, dass diese zwischen zwei und zehn Jahren nach dem Ableben ihrer "Besitzer" bestattet wurden, also zu einem Zeitpunkt bei dem etwa Verwesungsgestank niemanden mehr gestört hätte. Die Aktion des Germanicus auf dem Varusschlachtfeld passt perfekt dazu.
Zu diesem Punkt gibt es endlich etwas Neues zu berichten:
Wenn es sich in Kalkriese um die Knochen der Varuslegionen handeln würde, so müssten sie nach genau sechs Jahren unter die Erde gekommen sein.
Die Liegezeit der Knochen an der Oberfläche (also vor ihrer Verbergung) wurde laut einem Gutachten der Universität Göttingen mit „zwischen zwei und zehn Jahren“ angegeben. Diese Aussage stützt sich im Wesentlichen darauf, dass nach zwei Jahren eine vollständige Skelettierung stattgefunden hat, nach zehn Jahren die organischen Überreste vergangen seien.
Soweit passte alles bestens. Bislang.
Besonders wichtig war die minimale Liegezeit von zwei Jahren, da sie als ein wichtiges Argument gegen die Pontis-Longi-Theorie angeführt wurde. Da diese Schlacht 15 n.Chr. stattfand, hätten die Knochen also erst 17 n.Chr. unter die Erde kommen müssen, als die römischen Germanienfeldzüge bereits beendet waren.
Diese minimale Liegezeit muss nun wohl nach unten korrigiert werden.
Es wurden nämlich in einer größeren Knochengrube mehrere Konvolute, also zusammengehörende Knochengruppen, gefunden.
Dr. Achim Rost schreibt dazu:
„Erstaunlich sind deshalb einige Knochenensembles aus einer großen Knochengrube, in der sich neben mehreren Hand-bzw. Unterarmstrukturen auch ein Schädel mit dazugehörigem Unterkiefer und den beiden obersten Halswirbeln sowie, als weiteres Konvolut, Schulterblattfragmente und Brustwirbel fanden, die der Beobachtung einer kompletten Zerstörung der Skelettverbände widersprechen. Natürliche Erklärungen scheiden für die Erhaltung etwa der kleinen Hand- und Fingerknochen weitgehend aus.“
Rost, Achim:
Alesia, Kalkriese, Little Big Horn, in: Varusschlacht im Osnabrücker Land, Mainz 2009
Dr. Achim Rost vermutet, die Knochen könnten durch Wundverbände auch noch im skelettierten Zustand zusammengehalten worden sein. (Allerdings fanden sich keine nachweisbaren Spuren dieser möglichen Verbände.) Außerdem ist es schwer vorstellbar, wie ein Wundverband mehrere Halswirbel am Schädel gehalten haben soll.
Wahrscheinlicher ist:
Die Körperteile waren vor ihrer Verscharrung noch nicht vollständig verwest, sondern wurden, wie z.B. die Handknochen, noch teilweise durch Gewebereste zusammengehalten.
Demnach kann es nicht die „Bestattungsaktion“ des Germanicus (Tac. I,61) gewesen sein, die diese Knochen unter die Erde brachte, denn nach sechs Jahren ist, laut Gutachten der Universität Göttingen, die Skelettierung einer Leiche vollständig abgeschlossen.
Wenn die Leichen noch nicht vollständig verwest waren, so lagen sie eventuell nur wenige Monate an der Oberfläche, auf jeden Fall weniger als zwei Jahre.
Aus Sicht der Pontes-Longi-Theorie ergibt sich dagegen ein schlüssigeres Bild:
Als Germanicus 16 n.Chr. (nach der Schlacht von Idistaviso und am Angrivarierwall) von der Weser Richtung Ems zurückzog, passierte er Kalkriese und ließ die halbverwesten Überreste der Legionen des Caecina in Knochengruben verscharren.