1. geheimer Artikel des Pariser Friedens 1814

Das Thema Hannover war demnach schon vor dem Pariser Frieden erledigt.
Darum geht es doch auch garnicht, sondern um allgemeines machtpolitisches Kalkül. Dass man Preußen an der Seite Preußens kontrollieren könnte, halte ich für undenkbar. Zusammen mit Frankreich ließ sich schon eher Druck aufbauen.
Preußen sehe zumindest ich als traditionellen Gegenpart zu Kurhannover in Norddeutschland. Klar, war das vor 1756 noch deutlicher erkennbar...
 
Leider habe ich derzeit wenig Zeit, um Dir antworten zu können.

Umso mehr danke ich dir für die Zeit, die du investiert hast, um mir zu antworten!

Du findest mich völlig erstaunt, dass du Ferrero anführtst. Ich habe mir das Buch vor Jahren zugelegt, es aber nach etlichen Seiten weggetan, weil mir die Überhöhung der Leistung Talleyrands nicht angemessen erschien. Aber gut zu wissen, dass es auch brauchbare Passagen enthält.

Nach den Quellen möchte ich nun zur Bewertung des o.g. Artikels schreiten und zunächst einmal mit Ferreros [#15, S. 130] Sicht der Dinge anfangen.

Ferrero weist zunächst darauf hin, dass dieser Artikel von Houssaye (einem viel gelesenen frz. Historiker um das Ende des 19. Jh.) so bewertet wurde, dass sich aus diesem Artikel für Frankreich die Zusage und Verpflichtung ergeben hätte, im vornhinein alle Entscheidungen der anderen Bevollmächtigten gutzuheißen (S. 130).

Hiervon grenzt sich Ferrero wie folgt ab: Die wichtigsten Prinzipien, aus denen Europa wiederaufgebaut werden sollte, seien bereits in dem Vertrag vom 30.05.1814 festgelegt worden: die Unabhängigkeit Deutschlands, der Schweiz, des nichtösterreichischen Italiens etc. etc. Über diese Prinzipien hätte Frankreich mit den anderen Signaturmächten diskutieren können. Es habe aber diese Prinzipien mit dem Geheimartikel 1 angenommen, weil diese weise gewesen wären. "Das europäische System, das aus langen Verhandlungen in Wien hervorgehen sollte, ist in nuce bereits im Vertrag vom 30.05.1814 enthalten" (S. 131).

IMHO: Hier muss man allerdings berücksichtigen, dass der Geheimartikel 1 "zweideutig und sybillinisch" (so auch Ferrero) abgefasst war. Damals gab es noch keine verbindlichen Regelungen über die Auslegung vertraglicher Vereinbarungen. Es war vielmehr üblich, über die Auslegung solcher Vereinbarungen weitere Vereinbarungen zu treffen oder gewohnheitsrechtliche Präjudizien zu schaffen. Einer mehrdeutigen Formulierung kam deshalb in einem Vertragswerk die Funktion einer Schraube zu, an der stets gedreht wurde.

Interessant ist daher die Richtung, in die geschraubt wurde:

Paris (Mai 14): Frankreich soll die zwischen den "verbündeten Mächten" (inkl. Schweden, Spanien und Portugal) "festgelegten Grundlinien" (vage, deshalb weite Handlungsfreiheit) annehmen.

London (Jun 14): die vier Höfe (Rußland, Preußen, Österreich-Ungarn und England) legen den Plan fest, um ihn nachher mit Frankreich, Spanien und Schweden (also ohne Portugal) zu besprechen und ggf zu überarbeiten und ihn anschliessend dem Kongreß gemeinsam (jedenfalls mit 4:3 Stimmen) vorzulegen.

Wien (22.09.14): die vier Höfe entscheiden. Spanien darf über seine eigenen Fragen mitreden. Frankreich wird lediglich zugelassen, um Bemerkungen vorzubringen. Schweden und Portugal bleiben aussen vor.

Wien - so Ferrero - leugnete Paris und London.
IMHO: London und Wien waren in Paris bereits angelegt.

Ehrlich gesagt, mir ist diese "Schrauberei" gar nicht aufgefallen. Den Vertrag von London kannte ich nicht und dem Protokoll und Separatprotokoll vom 22. September 1814 [1] habe ich kaum Bedeutung beigemessen, weil beide in der Sitzung vom 30. September 1814 zurückgezogen wurden:

"Für mich gibt es zwei Daten, zwischen denen sich nichts ereignet hat: der 30. Mai, an dem die Einberufung einer Konferenz beschlossen wurde, und der 1. Oktober, an dem er sich versammeln soll. Alles, was sich inzwischen ereignet hat, ist mir fremd und existiert nicht für mich!" [2] hält Talleyrand den Allierten vor. Die Anwort schildert er seinem Monarchen:
"Die Antwort der Bevöllmächtigten war, dass sie nicht viel Gewicht auf dieses Schriftstück legten und dass sie nichts dagegen einzuwenden hätten, es zurückzuziehen." [2]
Defacto war man damit wieder auf dem Stand von Paris.

Was mich aber bei der "Schrauberei" ein wenig irritiert ist, dass die Allierten in den Sachfragen keinen Schritt weiter gekommen sind. Ganz im Gegenteil, sie scheinen sich eher mit der zu erwartenden franz. Politik befasst zu haben, was recht klar in der Begründung zum Ausdruck kommt.

Einen möglichen Grund gibt Kissinger:
"Dank dem Vertrag von Paris trat Frankreich als möglicher Faktor in dem Gleichgewicht auf. Zugegeben, es wurde zu dem Kongress nur hinzugezogen, um dessen Entscheidungen zu ratifizieren. Durch die Restauration war aber Frankreich ein "annehmbarer" Bundesgenosse geworden. Es gab keine "ideologische" Kluft mehr, die es vom Rest Europas trennte. Würde irgendeine Nation ein für sie ungünstiges Urteil hinnehmen, ohne vorher den Versuch gemacht zu haben, sich durch Annäherung an Frankreich eine stärkere Position zu verschaffen?" [3]

Man könnte versucht sein, anzunehmen, alle hätten nur auf die Ankunft Talleyrands gewartet!? Denn wenn man ohne ihn sich nicht einigen kann ... dann doch wohl nur mit ihm!?

Grüße
excideuil

[1] Freksa, Friedrich (Hrsg.): Der Wiener Kongress Nach Aufzeichnungen von Teilnehmern und Mitarbeitern, Verlag Robert Lutz, Stuttgart, o.J. Seiten 245-250
[2] Bourgoing, Freiherr von: „Vom Wiener Kongress – Zeit und Sittenbilder“, Verlag Georg D.W. Callwey, Verlag Rudolf M.Rohrer, Brünn-München-Wien, 1943, Seite 88
[3] Kissinger, Henry A.: Das Gleichgewicht der Großmächte Metternich, Castlereagh und die Neuordnung Europas 1812 – 1822, Manesse Verlag, Zürich, 1986, Seite 273
 
Umso mehr danke ich dir für die Zeit, die du investiert hast, um mir zu antworten!
Bitte schön! Das habe ich gerne getan!
Du findest mich völlig erstaunt, dass du Ferrero anführtst. Ich habe mir das Buch vor Jahren zugelegt, es aber nach etlichen Seiten weggetan, weil mir die Überhöhung der Leistung Talleyrands nicht angemessen erschien. Aber gut zu wissen, dass es auch brauchbare Passagen enthält.
Mir gefällt der Ferrero. Das Buch ist handlich. Er zitiert viele Quellen. Seine Sprache ist ausgesprochen blumig. Hin und wieder befremden mich seine überzogenen Formulierungen, aber eigentlich muss ich über diese eher schmunzeln. Man muss wohl bedenken, dass er das Buch über den Wiederaufbau Europas in Wien 1814/15 unmittelbar nach dem 2. WK schrieb.
Was mich aber bei der "Schrauberei" ein wenig irritiert ist, dass die Allierten in den Sachfragen keinen Schritt weiter gekommen sind. Ganz im Gegenteil, sie scheinen sich eher mit der zu erwartenden franz. Politik befasst zu haben, was recht klar in der Begründung zum Ausdruck kommt.
Das scheint mir ein ganz wichtiger Gedanke zu sein.

Die "Schrauberei" wurde am 22.09.14 zu einem "Klammern". Der formelle Anspruch der Vier (Pr, GB, Ru u. ÖU), den Masterplan für Europa unter sich auszumachen, wurde wohl noch von einem Gefühl der Solidarität getragen, nicht nur auf den Schlachtfeldern gegen Napoleons Armee sondern auch in den für den Wiederaufbau Europas entscheidenden Stunden der Diplomatie zusammenzuhalten und sich von dem raffinierten Frankreich nicht wieder (wie so oft in der Geschichte) auseinander manövrieren zu lassen. Aber dieser Anspruch wurde weder von einer Übereinstimmung der Vier in den Sachfragen getragen noch trat Talleyrand in Wien heimtükisch und raffiniert auf.

Der Anspruch, den Masterplan untereinander festzulegen, ohne sich vorweg einigen zu können, liess diesen zu einer Leerformel verkommen, vielleicht auch zu der Beschwörungsformel, sich lieber untereinander zu einigen als sich auf das unsichere Frankreich einzulassen. Denn wenn sich die Vier vorweg hätten einigen können, hätten sie Talleyrand bei seiner Ankunft in Wien lächelnd die Stelle gezeigt, an der er den vorgelegten Masterplan nach kurzer Frist für das Vorbringen von Bedenken für seinen König unterschreiben durfte.

Und Talleyrand gab sich alle Mühe in Wien betont kooperationsbereit und in allen Sachfragen konstruktiv aufzutreten. Er wäre der einzige Bevollmächtigte, der keine territorialen Forderungen erheben würde, und dem es nur um das sinnvolle Ganze ginge. Hierdruch leistete er freilich den ihm größtmöglichen Beitrag, die (gierigen) Vier auseinander zu manövrieren.
 
Zuletzt bearbeitet:
Darum geht es doch auch garnicht, sondern um allgemeines machtpolitisches Kalkül. Dass man Preußen an der Seite Preußens kontrollieren könnte, halte ich für undenkbar. Zusammen mit Frankreich ließ sich schon eher Druck aufbauen.
Preußen sehe zumindest ich als traditionellen Gegenpart zu Kurhannover in Norddeutschland. Klar, war das vor 1756 noch deutlicher erkennbar...

Im Frieden von Paris waren alle Gebietsansprüche Englands befriedigt worden. Zwischen England und Frankreich war (fast) alles geregelt, sodass berechtigte Hoffnungen bestanden, dass die beiden Westmächte aus der Situation heraus, dass beide keine Gebietsforderungen auf dem Kongress stellen würden oder konnten zu Schiedsrichtern auf dem Kongress werden könnten.

Preußen war, beginnend in Kalisch, die Wiederherstellung in der Größe von 1805 mit etwa 10 Millionen Untertanen zugesagt worden. Daran hielten sich alle Allierten. Nicht festgelegt war hingegen, wie und wo diese Wiederherstellung stattfinden sollte.

Daraus ergaben sich natürlich Differenzen zwischen Frankreich und England:
"Talleyrand wollte Preußen vor allem das Königreich Sachsen vorenthalten, an dessen Erhaltung Ludwig XVIII., der Sohn einer sächsischen Prinzessin, verwandschaftliches Interesse nahm, und für alle Vergrößerungsforderungen eintreten, welche Bayern, Braunschweig, Hessen, Hannover erheben würden, "um den Kreis der für Preußen verfügbaren Länder so klein wie möglich zu machen". Er wollte Preußen von Mainz und aus dem Lande links der Mosel fernhalten und seine Macht lähmen durch eine die kleinen Staaten begünstigende Organisation des Deutschen Bundes. Dagegen wünschte England ein wenigstens an der Westgrenze starkes Preußen, das Holland und Hannover gegen französische Angriffgelüste zu schützen vermochte, und wollte Preußen in Norddeutschland in gewissem Grade zufriedenstellen, wenn seine Politik den englischen Wünschen auf dem Festland dienlich sein würde." [1]

England war auch lange Zeit bereit, Preußen ganz Sachsen zu überlassen.

Nicht uninteressant ist Talleyrands Einschätzung zu Preußen, die seiner Strategie vorherging:

"In Deutschlang gilt daselbe von Preußen, denn die geografische Lage dieser Monarchie macht ihr Streben nach Vergrößerung zu einer Notwendigkeit. Jeder Vorwand hierzu ist ihr willkommen; kein Bedenken hält sie darin auf, und was für sie für zweckmäßig hält, hält sie für Recht. Dadurch hat Preußen es zuwege gebracht, im Laufe von dreiundsechzig Jahren seine Bevölkerung von 4 Millionen bis auf 10 zu steigern und so den Grund zu einer sehr ausgedehnten Monarchie zu legen und sich sozusagen einen Rahmen für ein noch größeres Reich zu schaffen, in welchem es nach und nach die zerstreut liegenden und noch zu erwerbenden Gebiete einfügen will. Der furchtbare Sturz, den sein Ehrgeiz ihm zuzog, hat Preußen von dieser Sucht nicht geheilt. Augenblicklich durchstreifen seine Emissäre und Parteigänger ganz Deutschland, wiegeln das Volk auf und schildern Frankreich in den schwärzesten Farben. Frankreich, so behaupten sie, stehe schon bereit, abermals Preußen zu überfallen, und da letzteres allein nicht im stande sei, Deutschland zu verteidigen, so verlangen sie, dass man es ihm, unter dem Vorwande, es zu schützen, preisgebe. Preußen hat auch ein Auge auf Belgien geworfen, ja, es nimmt alles Land zwischen den gegenwärtigen Grenzen Frankreichs, des Maas und den Rhein für sich in Anspruch. Es will Luxemburg, Mainz und ganz Sachsen besitzen, weil sonst angeblich nicht in Sicherheit leben könne... Ließe man Preußen rhig gewähren, es würde bald 20 Millionen zählen und ganz Deutschland unterjochen. [2]

Es spricht viel Weitsicht aus den Worten Talleyrands und so kann es nicht wundern, dass er sich energisch gegen die Ansprüche Preußens stellte, sogar versuchte, durch die Beurteilung der Qualität der zu verteilenden "Seelen" die Ansprüche Preußens zu verkleinern.

Grüße
excideuil

[1] Griewank, Karl: Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814-15, Koehler & Amelang, Leipzig, 1954 (1942) Seite 104
[2] Talleyrand: „Memoiren des Fürsten Talleyrand“, herausgegeben mit einer Vorrede und Anmerkungen von Herzog de Broglie, Original Ausgabe von Adolf Ebeling, Köln und Leipzig, 1891-1893, Bd. 2, Seite 188
 
Dagegen wünschte England ein wenigstens an der Westgrenze starkes Preußen, das Holland und Hannover gegen französische Angriffgelüste zu schützen vermochte, und wollte Preußen in Norddeutschland in gewissem Grade zufriedenstellen, wenn seine Politik den englischen Wünschen auf dem Festland dienlich sein würde." [1]

Nicht uninteressant ist Talleyrands Einschätzung zu Preußen, die seiner Strategie vorherging:
...
Damit zeigte Talleyrand jedenfalls deutlich mehr Weitsicht als Englands Kurs.
Wobei man für England "entschuldigend" ins Feld führen könnte, dass Blücher enorm beliebt war und man Preußen und dessen Anstrengungen gerade 1813 sehr hoch veranschlagte.
 
Das scheint mir ein ganz wichtiger Gedanke zu sein.

Die "Schrauberei" wurde am 22.09.14 zu einem "Klammern". Der formelle Anspruch der Vier (Pr, GB, Ru u. ÖU), den Masterplan für Europa unter sich auszumachen, wurde wohl noch von einem Gefühl der Solidarität getragen, nicht nur auf den Schlachtfeldern gegen Napoleons Armee sondern auch in den für den Wiederaufbau Europas entscheidenden Stunden der Diplomatie zusammenzuhalten und sich von dem raffinierten Frankreich nicht wieder (wie so oft in der Geschichte) auseinander manövrieren zu lassen. Aber dieser Anspruch wurde weder von einer Übereinstimmung der Vier in den Sachfragen getragen noch trat Talleyrand in Wien heimtükisch und raffiniert auf.

Der Anspruch, den Masterplan untereinander festzulegen, ohne sich vorweg einigen zu können, liess diesen zu einer Leerformel verkommen, vielleicht auch zu der Beschwörungsformel, sich lieber untereinander zu einigen als sich auf das unsichere Frankreich einzulassen. Denn wenn sich die Vier vorweg hätten einigen können, hätten sie Talleyrand bei seiner Ankunft in Wien lächelnd die Stelle gezeigt, an der er den vorgelegten Masterplan nach kurzer Frist für das Vorbringen von Bedenken für seinen König unterschreiben durfte.

Das ist alles richtig für den Fall, dass sich die Allierten hätten einigen können.
Es erklärt aber nicht das Nichtvorankommen der Allierten in den Sachfragen.
Deutlich wird dies in einer Depesche von Gentz:
"Der Kaiser von Rußland scheint den Plan gehegt zu haben, aus dem, was ihm von dem Gebiet des früheren Herzogstums Warschau zufallen sollte, entweder im ganzen oder teilweise einen abgesonderten, wenn auch abhängigen Staat unter dem Namen Königreich Polen zu schaffen ... Tasache ist, dass die Polen, nach allem gierig, was ihnen die geringste Hoffnung auf eine Wiederherstellung ihrer früheren Existenz bietet, mit der größten Gewissheit darauf rechnen; und auch wenn der Kaiser auch noch nie seine Absicht eindeutig erklärt hat, so wird doch von Tag zu Tag offenbarer, dass die Polen sich in ihren Hoffnungen nicht getäuscht haben... Die Ausführung seines Plans, der in mehr als einer Hinsicht mit der künftigen Ruhe Europas nur schlecht zu vereinbaren ist, wäre vor allem für die Interessen Österreichs und Preußens sehr nachteilig. ... Die Ausdehnung der Grenzen Rußlands ist schon an sich ein recht ungünstiges und recht beunruhigendes Ereignis für seine Nachbarn; begleitet von der Wiederaufrichtung eines Königreiches Polens, in welchem Umfang und in welcher Form es auch sein mag, das heißt ein Zentrum der Gärung, der Erregung und politischer Intrigen, wäre es doppelt verderblich." [1]

Da lag wohl das Problem. Der Zar hatte sich weder in Paris noch in London zu seien Zielen/Wünschen eindeutig geäußert. Die Allierten waren daher zurecht beunruhigt:

Gäbe es nach der besiegten französchen jetzt die russische Bedrohung?
Besteht die Gefahr, dass nachdem die Revolution besiegt schien, sie an anderer Stelle wieder ausbricht?

Und so ist es auch zu erklären, dass Castlereagh nach Bekanntwerdens des Versuchs einer Annäherunng Ludwig XVIII. (von Talleyrand beeinflusst!) an Rußland auf dem Wege nach Wien über Paris reiste.
"Seine Unterredungen mit Ludwig XVIII. und Talleyrand ergaben eine Übereinstimmung der Ansichten. Castlereagh fand sogar, der franz. König und sein Minister seien von einer peinlich berührenden Freundschaftlichkeit gewesen. Er empfand es als nötig, "diesen Gefühlsüberschwang eher etwas zurückzudämmen und zu verhindern, dass er eine Form annehme, die bei anderen Staaten Eifersucht erregen und dadurch unsere jeweiligen Mittel und Wege, von wirklichem Nutzen zu sein, beeinträchtigen könnte"." [2]

Ich denke, dass die Hoffungen auf einen "Masterplan" längst begraben waren. Die Begründung aus dem Separatprotokoll gibt doch nur wider, was schon längst Tatsache war:
"Schon beeilten sich die deutschen Mittelstaaten, in alter Tradition die franz. Gönnerschaft um ihre staatliche Sonderstellung anzurufen" [3]

Vllt. trifft es die Formulierung: Letzte Hoffung von dem Bekanntgebens der wahren Ziele des Zaren.

Und Talleyrand gab sich alle Mühe in Wien betont kooperationsbereit und in allen Sachfragen konstruktiv aufzutreten. Er wäre der einzige Bevollmächtigte, der keine territorialen Forderungen erheben würde, und dem es nur um das sinnvolle Ganze ginge. Hierdruch leistete er freilich den ihm größtmöglichen Beitrag, die (gierigen) Vier auseinander zu manövrieren.

In der Tat, Talleyrand trug das Schild für Frankreich nichts zu fordern werbewirksam vor sich her, um das nötige Vertrauen zu erhalten, um dann umso sicherer seine Ziele zu erreichen:
"1. Österreich nicht die geringste Aussicht zu lassen, die Staaten des Königs von Sardinien unter seine Botmäßigkeit zu bringen;
2. Neapel an Ferdinand IV. zurückzugeben;
3. ganz Polen nie und nimmer unter das Szepter Russlands zu stellen;
4. Preußen nicht das Königreich Sachsen, wenigstens nicht das ganze, und ebenso wenig Mainz zu überlassen. "[4]

Grüße
excideuil

[1] Ferrero, Guglielmo: „Wiederaufbau – Talleyrand in Wien“, Leo Lehnen Verlag, München, 1950, Seiten 134-135
[2] Nicolson, Harold: „Der Wiener Kongress – Über die Einigkeit unter Verbündeten 1812-1822, Atlantis Verlag, Zürich, o.J, Seite 151
[3] Griewank, Karl: Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814-15, Koehler & Amelang, Leipzig, 1954 (1942)
[4] Talleyrand: „Memoiren des Fürsten Talleyrand“, herausgegeben mit einer Vorrede und Anmerkungen von Herzog de Broglie, Original Ausgabe von Adolf Ebeling, Köln und Leipzig, 1891-1893, Bd. 2, Seite 197

 
Die in #24 begonnenen Ausführungen zu Talleyrands Verhältnis zu Preußen würde ich gern mit ein paar Gedanken auch zu ganz Deutschland erweitern:

Anschließend an die Einschätzung zu Preußen erkärt Talleyrand in seinen Instruktionen, wie der Gefahr zu begegnen sei:

"Es ist daher von großer Wichtigkeit, dem Ehrgeize Preußens Zügel anzulegen, indem man seine Besitzungen in Deutschland möglichst einschränkt und seinen Einfluss durch eine Bundesverfassung vermindert. Dies kann nur erreicht werden durch Erreichnung der sämtlichen Kleinstaaten und durch die Vergrößerung der Mittelstaaten." [1]
Er geht dann auf Sachsen ein, spricht dann von der Notwendigkeit, "zu verhüten, dass Sachsen bei der Teilung (gemeint ist die Zuteilung) an Preußen falle. Letzteres würde, wie gesagt, durch eine derartige Vergrößerung einen entscheidenen Schritt zur Oberherrschaft in Deutschland machen." [1]

Zum geplanten Deutschen Bund sagte er unter anderem:
"Indessen handelt es sich nicht darum, dem Deutschen Bunde eine vollkommene Organisation zu geben; es genügt, dass er eine erhalte, die im stande ist, folgendes zu verhindern:
1. die Unterdrückung der Untertanen in den Kleinstaaten;
2. die Unterdrückung der kleinen Staaten durch die großen; und
3. die Verbindung mehrerer Kleinstaaten unter sich zu einem größeren, der dann über die Kräfte aller zu seinen besonderen Zwecken verfügen könnte.
Dieses Ziel läßt sich nur dadurch erreichen, dass man, sowohl in den Kleinstaaten wie im ganzen Bundesstaate, den Einfluss und die Macht teilt, indem man beides abwechselnd durch so viele Hände als möglich gehen lässt." [2]

Talleyrand wollte weder ein starkes Preußen, noch einen starken deutschen Bund. Aus Sicht eines französischen Politikers geht das auch völlig in Ordnung.

Interessant dann dieses Urteil über ihn und sein Wirken 50 Jahre nach dem Kongress in einem deutschen Geschichtswerk:

„Talleyrand hatte, wie man jetzt weiß, von Murat dreimalhunderttausend Dukaten genommen, um zu Gunsten dieses Königs von Neapel gegen Ferdinand von Sizilien zu wirken, und von diesem Ferdinand Bourbon hatte er eben so viele Dukaten genommen, um auf dem Kongress die Entfernung Murats vom Throne Neapels durchzusetzen. Durch eine ausdrückliche Bestimmung des Pariser Friedensvertrages war Frankreich von der Mitberatung über die Verteilung der von ihm abgetretenen Gebiete ausgeschlossen. Dennoch wusste sich dieser böse Geist Deutschlands und Europas im Namen Frankreichs Sitz und Stimme bei den Verhandlungen zu verschaffen, welche die Länderteilung betrafen, ja in kurzem war er vermöge seiner satanischen Schlangenglätte und Verstandesüberlegenheit die einflussreichste Person auf dem Kongress; er beherrschte sogar die schließlichen Entscheidungen der Mächte. Von Talleyrand ging sie aus, die Lehre von der „Legitimität“, nach welcher die Rechte der Fürsten über alles zu setzen und die Rechte der Völker gar nicht zu beachten wäre. Talleyrand war es, welcher als Prophet dieser Lehre auf dem Kongress auftrat … [3]

Natürlich sind diese Aussagen der Zeit von 1865, wenige Jahre vor der Reichsgründung, geschuldet. Da war es eben opportun, die Rolle Talleyrands zu überhöhen, um ihm die "Schuld" für die Ergebnisse des Kongresses ans Revers zu heften. Dass der Fürst viele kleine und größere Helfer hatte, die man jetzt besser nicht vor den Kopf stieß, ist wohl verständlich:

"Das siegreiche Deutschland erlebte die Schmach, dass sein hoher Adel sich abermals, wie einst in den Tagen unserer Niederlagen, um die Gunst eines franz. Subalternbeamten bewarb. Wie die kleinen Herren im Jahr 1803 zu Mattieu, drei Jahre darauf zu dem alten Pfeffel als Bittsteller gezogen waren, so schlichen sie jetzt in das becheidene Stübchen zu Talleyrands vertrautem Rate, demselben La Besnardiere, der schon vor sieben Jahren in Posen sich in den Künsten deutscher Vaterlandsgründung geübt hatte. Am lautesten lärmten die Bayern; mit Montgelas hatte Talleyrand bereits auf der Reise, in Baden eine Besprechung gehalten." [4]

Oder einige Wochen später:

"Wenn aber Talleyrands Pläne gelangen, wenn Preußen weder am Rhein noch in Sachsen entschädigt wurde, so blieb mehr Land frei für die Herzenswünsche der Kleinen; darum standen sie alle ohne Ausnahme auf Frankreichs Seite, und der besiegte Feind erschien ihnen wieder als der großmächtige Protektor Deutschlands. [5]

Daran wird wohl deutlich, wo die wahren Feinde Preußens und einer (damals nur theoretischen) Einheit Deutschlands saßen.

Grüße
excideuil

[1] Talleyrand: „Memoiren des Fürsten Talleyrand“, herausgegeben mit einer Vorrede und Anmerkungen von Herzog de Broglie, Original Ausgabe von Adolf Ebeling, Köln und Leipzig, 1891-1893, Seite 188-189
[2] [1] Seite 191
[3] Wirth, Johann Georg August: Die Geschichte der Deutschen, Verlag von Gustav Weise, Stuttgart, 1865, Bd. 4 , Seite 768
[4] Treitschke, Heinrich von: Der Wiener Kongress, Verlag der Heimbücherei, Berlin, 1943, Seite 43
[5] [4] Seite 80
Anm: Heinrich von Treitschke 1834-1896, das angeführte Werk stammt aus dem 1. Band seines Werkes: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert 1879-1894
 
Der alte Fuchs Talleyrand hätte es in Wien fast erreicht, dass sich die Siegermächte gegenseitig an die Gurgel gegangen wären.
Er schrieb an seinen König Ludwig XVIII. am 5.1.1815:
...Heute, Sire, ist die Koalition aufgelöst...
Erst die Rückkehr Napoleons (100 Tage) brachte die Monarchen und Diplomaten halbwegs wieder zur Vernunft.
 
Erst die Rückkehr Napoleons (100 Tage) brachte die Monarchen und Diplomaten halbwegs wieder zur Vernunft.
War aber auch Talleyrand sehr dienlich.
Zuvor hatte man lange gestritten, ob Murat König bleiben sollte oder nicht. V.a. Österreich hatte sich Murat verpflichtet gefühlt, da dieser um seine Krone zu retten oder aus anderen Gründen übergelaufen war und Österreichs Kaiser dafür weitgehende Zugeständnisse bezüglich der neapolitanischen Krone gemacht hatte. Talleyrand war für eine Rückkehr des angestammten Hauses, was auch einer gewissen Konsequenz zu Grunde lag, die Talleyrand schon in Paris während der Verhandlungen gezeigt hatte.

Durch die Rückkehr des Kaisers der Franzosen sah sich dann Murat ermuntert auf das Gebiet des Kirchenstaates vorzurücken und löste damit Talleyrands Probleme.

Obendrein verbündete sich Talleyrand bzw. die franz. Bourbonenmonarchie bei der Rückkehr Napoleons mit den Alliierten gegen Napoleon. Das bedeutete letztlich doch auch nichts anderes als eine Akzeptanz Frankreichs unter den Siegermächten von 1814.
 
Der alte Fuchs Talleyrand hätte es in Wien fast erreicht, dass sich die Siegermächte gegenseitig an die Gurgel gegangen wären.
Er schrieb an seinen König Ludwig XVIII. am 5.1.1815:
Erst die Rückkehr Napoleons (100 Tage) brachte die Monarchen und Diplomaten halbwegs wieder zur Vernunft.

Na ja, das hieße, die Rolle Talleyrand ein wenig zu übertreiben. Die Differenzen der Alliierten wurden auch ohne sein offizielles Zutun deutlich. Der Vertrag vom 3. Jänner 1815 ist vor allem der preußischen "Diplomatie" geschuldet:

Am 31. Dezember erklärte Hardenberg: "Wenn Preußen weiter die Annexion ganz Sachsens für seine Wiederherstellung notwendig finden würde, so könne es aus finanziellen Gründen nicht bei einer vorläufigen Verwaltung verbleiben, und da Widerstand laut wurde, ließ er sich erregt die Worte entfahren: Rußland und Preußen würden in solchem Falle die verweigerte Zustimmung als gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung betrachten müssen.
Dieses starke Wort scheint mehr einer plötzlichen Aufwallung als einem vorbedachten Wort entflossen zu sein; es war mehr ein dem Moment entsprungener Einschüchterungsversuch als eine Äußerung begründeten politischen Willens. Als Castlereagh mit einem starken Aufgebot moralischer Entrüstung diese "höchst beunruhigende und unerhörte Drohung" quittierte, suchte Hardenberg seine Erklärung abzuschwächen. Der britische Minister aber setzte sich sogleich mit den Ministern Österreichs und Frankreichs zusammen, um zu verhindern, dass Preußen und Rußland seine Diplomatie noch durch einen "kühnen Schlag" mattzusetzen suchten. Er fand es nötig, dass man sich gegen die "zerstörenden Wirkungen eines solchen beherrschenden Diktates" sichere und brachte mit Metternich und Talleyrand das geheime Bündnis vom 3. Januar zwischen England, Österreich und Frankreich zustande ... Talleyrand triumphierte und suchte dieses Bündnis, zu dem er längst ermächtigt war und wiederholt gedrängt hatte, als sein Werk zu rühmen ..." [1]

Ganz klar hat Castlereagh den Vertrag veranlasst, er konnte es zu diesem Zeitpunkt, Talleyrand war da noch "Zaungast", durch den 1. geheimen Artikel gebunden.
Vllt. sind die Instruktionen Talleyrands, die sowohl in seinen Hauptzielen als auch im Vertrag vom 3. Januar Ergebnisse des Kongresses vorwegnehmen, so frappant, dass sie zu einer Fehldeutung der Rolle des Fürsten geführt haben.
Keine Frage, Talleyrand hat die Möglichkeiten, die sich ihm boten genutzt, keine Frage aber auch, dass ohne die Differenzen der Alliierten er keinen Fuß in die Tür gebracht hätte.

Was nun den Korsen angeht, alle wesentliche Probleme waren vor seinen 100 Tagen erledigt.
Und wenn man Talleyrand ein großes Verdienst ans Revers heften möchte, dann das, dass er die Erklärung der Alliierten erreichte, dass der kommende Krieg nicht Frankreich sondern Bonaparte galt.

Grüße
excideuil

[1] Griewank, Karl: Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814-15, Koehler & Amelang, Leipzig, 1954 (1942) Seite 248
 
War aber auch Talleyrand sehr dienlich.
Zuvor hatte man lange gestritten, ob Murat König bleiben sollte oder nicht. V.a. Österreich hatte sich Murat verpflichtet gefühlt, da dieser um seine Krone zu retten oder aus anderen Gründen übergelaufen war und Österreichs Kaiser dafür weitgehende Zugeständnisse bezüglich der neapolitanischen Krone gemacht hatte. Talleyrand war für eine Rückkehr des angestammten Hauses, was auch einer gewissen Konsequenz zu Grunde lag, die Talleyrand schon in Paris während der Verhandlungen gezeigt hatte.

Durch die Rückkehr des Kaisers der Franzosen sah sich dann Murat ermuntert auf das Gebiet des Kirchenstaates vorzurücken und löste damit Talleyrands Probleme.

Obendrein verbündete sich Talleyrand bzw. die franz. Bourbonenmonarchie bei der Rückkehr Napoleons mit den Alliierten gegen Napoleon. Das bedeutete letztlich doch auch nichts anderes als eine Akzeptanz Frankreichs unter den Siegermächten von 1814.

Bonapartes Rückkehr von Elba kam Talleyrand überhaupt nicht gelegen. Nicht ohne Grund hatte er für einen viel weiteren Verbannungsort plädiert.
Persönlich stand er quasi vor dem Nichts. Auf seinen Besitz hatte der Korse die Hand drauf, "sein" König war geflohen. Und daran änderte auch ein Versuch des Korsen, sich der Dienste des Fürsten, auf dessen Rat er lange Jahre nicht gehört hatte, nichts. Insofern kann die drastische Ausdrucksweise seines Entwurfes zur Erklärung der Alliierten nicht wundern. Was die Rückkehr des Korsen für Frankreich bedeutete, wird im zweiten Pariser Frieden deutlich.

Was Murat angeht, war Metternich lange Zeit gebunden (von seiner Liebschaft mit der Königin mal abgesehen) und gewillt, ihn in Neapel zu halten. Das änderte sich, da er es für möglich hielt, dass Murat seinen Machtbereich in Italien vergrößern wollen würde. Metternich war auf dem Kongress der "Zeitspieler". Er taktierte, intrigierte, versteckte sich hinter Bällen ... war tagelang für politische Gespräche nicht erreichbar. Letzlich erreichte er seine Ziele und es kann davon ausgegangen werden, dass das Problem Murat auch ohne die Rückkehr des Korsen im Sinne Metternichs und Talleyrands gelöst worden wäre.

Grüße
excideuil
 
Bonapartes Rückkehr von Elba kam Talleyrand überhaupt nicht gelegen. Nicht ohne Grund hatte er für einen viel weiteren Verbannungsort plädiert.
...
Ich meinte das fast ausschließlich in Bezug auf Murat. Günstig war vielleicht noch, dass das Eintreffen des Korsen zu einem raschen gemeinsamen Handeln zwang.

Ansonsten war das natürlich schrecklich für Talleyrand, denn die Rückkehr Napoleons musste Talleyrands Hoffnung auf einen Ausgleich zwischen Bonapartisten und Royalisten zunichte machen. 1814 hatte man noch so ziemlich voller Schonung gegen die Königsmörder und Bonapartisten überhaupt handeln können, die Hundert Tage kompromittierten hingegen die Vertreter der Politik des Ausgleichs. Das Thema hatten wir schon an anderer Stelle. http://www.geschichtsforum.de/f16/restauration-legitimit-t-solidarit-t-wiener-kongress-25536/
 
Ich meinte das fast ausschließlich in Bezug auf Murat. Günstig war vielleicht noch, dass das Eintreffen des Korsen zu einem raschen gemeinsamen Handeln zwang.

Ansonsten war das natürlich schrecklich für Talleyrand, denn die Rückkehr Napoleons musste Talleyrands Hoffnung auf einen Ausgleich zwischen Bonapartisten und Royalisten zunichte machen. 1814 hatte man noch so ziemlich voller Schonung gegen die Königsmörder und Bonapartisten überhaupt handeln können, die Hundert Tage kompromittierten hingegen die Vertreter der Politik des Ausgleichs. Das Thema hatten wir schon an anderer Stelle. http://www.geschichtsforum.de/f16/restauration-legitimit-t-solidarit-t-wiener-kongress-25536/

Völlig richtig, das Wiedererscheinen des Korsen hat die Neapel-Frage schnell erledigt. Verantwortlich war aber nicht vordergründig Bonaparte sondern Murat selbst. Hätte er einen Funken politischen Instinktes besessen, dann hätte er sich klar auf die Seite der Alliierten gestellt und dann wäre es schwierig möglich gewesen, ihn vom Thron zu vertreiben. So aber schaffte er Tatsachen, die das bisher ungelöste Problem zugunsten der Bourbonen entschied.
Dabei war es doch relativ einfach: Das Thema Neapel hatte sich weder in Paris, noch in London, noch bisher in Wien als lösbar erwiesen. Metternich spielte auf Zeit aber selbst in Österreich war sein Vertrag mit Murat umstritten; das Ergebnis war also höchst ungewiss. Murat hätte also gewarnt sein müssen, zudem Frankreich seit dem 3. Januar 1815 in ein Bündnis mit England und Österreich eingebunden war. Man beachte, mit Frankreich, dem Verlierer des Krieges und das am lautesten seinen Abgang forderte. Und dann kommt der Korse und die Welt ist plötzlich völlig anders?

In der Tat, die Rückkehr des Korsen war für Talleyrand und andere so etwas wie ein Supergau. Schon die erste Restauration hatte gezeigt, dass die Rückkehr der Bourbonen nicht einfach sein würde. Talleyrand als Präsident der provisorischen Regierung hatte zwar gefordert, dass die Bourbonen unter der Trikolore zurückkehren mögen aber alle Ratschläge wurden in den Wind geschlagen. Aber Ludwig XVIII. handelte nicht unbedacht. Er, der klügste der Bourbonen, spielte auch auf Zeit, versuchte den Rattenschwanz an nicht Belehrbaren, allen voran sein Bruder Charles, die mit ihm aus dem Exil gekommen waren mit den neuen Bedingungen "vertraut" zu machen. Ohne die weiße Kokarde, ohne das Königtum von Gottes Gnaden wäre ihm das wohl schwerlich gelungen. Hinzu kamen unpopuläre aber wirtschaftlich zwingend notwendige Entscheidungen. Frankreich konnte die Große Armee nicht mehr erhalten und war gezwungen, einen Teil auf Halbsold zu setzen ...

Dann kommt der Korse zu seinem letzten Abenteuer zurück und hinterläßt noch mehr Scherben und noch tiefere Gräben: Frankreich sinkt für 3 Jahre zu einer Macht 2. Ranges, verliert ein Stück des Landes, die Kunstschätze gehen verlustig, 700 Millionen Franken Entschädigung wurden festgesetzt und 150000 Mann Besatzungsmacht sind jahrelang durchzufüttern. England setzt die Bourbonen wieder ein. Und die Rache an den treuesten der Treuen nimmt ihren Lauf. Talleyrand und auch Fouché stehen auf verlorenem Posten. Ney wird erschossen, Caulaincourt zieht sich völlig enttäuscht zurück ... viel intensiver jetzt der Versuch, die Zeit zurückzudrehen: der beste Innenpolitiker, Fouché, muss ins Exil, Talleyrand wird wieder "Bischof von Autun" genannt ...

Grüße
excideuil
 
Mehr der Vollständigkeit halber, habe ich mir den Katalog zum 150. Jahrestag des Wiener Kongresses in der Wiener Hofburg 1965 zugelegt.

Teil dieser Ausstellung war auch der Originalvertrag: „Separat- und Geheimartikel des ersten Pariser Friedens zwischen Österreich und dem bourbonischen Frankreich. Paris, 30. Mai 1814“
In der Erläuterung zum Vertrag heißt es:
"Neben den offiziellen Hauptartikeln des zwischen Österreich, Rußland, Preußen, Großbritannien, Schweden-Norwegen, Spanien und Portugal einerseits und Frankreich anderseits abgeschlossenen Friedensvertrages, der Frankreich die Grenzen von 1792 beließ und den Wiener Kongress für die Neuordnung der europäischen staatlichen Verhältnisse zuständig erklärte, schlossen Österreich und Frankreich ohne Wissen der übrigen Verbündeten eine Reihe von Geheimartikeln ab: durch seine Unterschrift anerkannte Talleyrand im Namen seines Königs die Bestimmung des ersten Artikels, die die Ausarbeitung eines tatsächlich dauerhaften Gleichgewichtssystems in Europa auf dem Wiener Kongress allein den verbündeten Mächten („les puissance allieés entr’elles“) zusprach. Diese Formulierung hätte eine Teilnahme der kleineren Staaten, selbstverständlich auch Frankreichs, an den Beratungen verhindert. Zu Beginn des Kongresses leugnete jedoch Talleyrand – um die Zulassung Frankreichs zu erzwingen – von der Existenz einer derartigen geheimen Abmachung zu wissen. Damit wurde er zum Anwalt der kleinen Staaten, die in ihm den Fürsprecher für aktive Anwesenheit am Kongress erblicken mussten. Österreich durfte es daher nicht wagen, die Forderungen der Geheimartikel, die ohne Beteiligung seiner großen Verbündeten Rußland, Preußen und England zustande gekommen waren, zu publizieren.“ [1]

Diese Aussage ist so nicht korrekt:

Richtig ist, dass es diesen Vertrag so nur von Österreich und Frankreich (unterzeichnet von Talleyrand, Metternich und Stadion) abgeschlossen gibt, allein der Inhalt macht deutlich, dass es sich nicht um einen Alleingang Österreichs handelt:
"Nun aber verlangten die Minister Österreichs und Preußens, dass schon im Vertrage Frankreich zur Anerkennung von weiteren "Grundlagen" gezwungen würde, um seinen späteren Einreden zu entgehen, und suchten Bestimmungen über die Festlandsordnung, soweit sie schon feststanden, in den Friedensvertrag zu bringen.In geheimen Separatartikeln musste Frankreich die Ausdehnung Österreichs bis zum Po und Tessin, das um Genua zu vergrößernde Sardinien, die Vereinigung Belgiens mit Holland und die Bestimmung des übrigen linken Rheinufers für Holland, Preußen und andere deutsche Staaten sowie die freie Schifffahrt auf Rhein und Schelde grundsätzlich anerkennen." [2]

Die allgemeine Gültigkeit wird auch von Talleyrand nicht bestritten:
„…, und die geheimen Artikel des Vertrages sprechen es unverhohlen aus, dass die Teilung der uns wieder abgenommenen Länder unter den Mächten selbst, und zwar mit Ausschluss von Frankreich, stattfinden sollte.“ [3]

Dass die Verbündeten "im Bilde" waren, geht aus dem Tagebuch Steins hervor:
"Der Kaiser (Alexander I.) lehnte die Unterredung über diesen Gegenstand (Sachsen) ab und äußerte, nach dem Pariser Frieden hätten die verbündeten Mächte sich die Disposition über die eroberten Länder vorbehalten. Talleyrand antwortete: er glaube, qu'il n'y avait plus puissances alliées. "Oui, toutes les fois qu'il s'agira de soutenir le traité de Paris". (dass es keine verbündeten Mächte mehr gebe. "Ja, aber jedesmal wenn es sich darum handeln wird, den Vertrag von Paris aufrecht zu erhalten.") [4]

Dass Talleyrand diesen Vertrag auf dem Kongress leugnete, versteht sich schon aus der Tatsache, dass er geheim war. Er konnte nichts bestätigen, was es offiziell nicht gab. Er konnte nur mit seiner Forderung, den Gesamtkongress einzuberufen, versuchen, den 1. Artikel zu unterlaufen.

Und was Österreich betrifft, wer hätte denn Metternich bestimmen wollen, den Vertrag offenzulegen?

Grüße
excideuil


[1] 150 Jahre Wiener Kongress 1. September 1814 bis 9. Juni 1815, Ausstellung veranstaltet vom BM für Unterricht gemeinsam mit dem Verein der Museumsfreunde, Wien, o.J., Seiten 120-121
[2] Griewank, Karl: Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814-15, Koehler & Amelang, Leipzig, 1954 (1942), Seite 91
[3] Talleyrand: „Memoiren des Fürsten Talleyrand“, herausgegeben mit einer Vorrede und Anmerkungen von Herzog de Broglie, Original Ausgabe von Adolf Ebeling, Köln und Leipzig, 1891-1893, Bd. 2, Seite 156
[4] Freksa, Friedrich (Hrsg.): Der Wiener Kongress Nach Aufzeichnungen von Teilnehmern und Mitarbeitern, Verlag Robert Lutz, Stuttgart, o.J., Seite 299
 
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