Festungsbau im 19. und 20. Jahrhundert

(allerdings entschied keine der Festungen den Kriegsverlauf)

Nur um diesen Punkt geht es, nicht um die Frage, ob sie im Rahmen der Kampfhandlungen eine gewisse Rolle gespielt haben. Lediglich um eine Gewichtung der Einflußfaktoren.

Andernfalls könnte jemand, der mitliest, auf die Idee kommen, dass die Festungen kriegsentscheidend gewesen wären. Um diese potentielle Fehlinterpretation geht es mir lediglich. :friends:
 
Bei Erickson (The Soviet High Command, S. 84ff) findet sich eine relativ umfangreiche Darstellung zu diesem Thema und die unterschiedlichen Positionen.

Yegorow hatte in diesem Zusammenhang argumentiert, dass es egal gewesen wäre, ob die 1.KA rechtzeitig die befohlene Bewegung Richtung Warschau vorgenommen hätte, die Kräfte hätten in keinem Fall ausgereicht.

In diesem Sinne kann Bdaian sich auf diese Position (1.KA und auch z.B. Schaposchnikow) innerhalb der RKKA durchaus beziehen

Diesem Argument hat ausgerechnet General Sikorski widersprochen und auf die Bedeutung der Bewegung hingewiesen, hätte sie denn stattgefunden. (vgl. ebd. S. 101).

Die globale Situation war duch ein Waffenstillstandsangebot der polnischen Regierung gekennzeichnet und durch die optimistische Einschätzung der Russen, dass dem erfolgreichen Abschluss vor Warschau eigentlich nichts mehr im Weg stand.

Unabhängig davon weist Erickson und auch Ziemke (The Red Army, S. 118ff) auf die Probleme hin, die die RKKA zu dem Zeitpunkt hatte. Nicht zuletzt weil der Bürgerkrieg gegen Wrangel parallel stattfand.

Abschließend kann man sagen, die Kräfte waren sicherlich angespannt, die Operation hätte glücken können, sie hätte aber auch bei einem richtigen Timing verloren gehen können, nicht zuletzt auch wegen einer teilweisen Überdehnung.
 
Wenn man Pilsudskis Operationsführung ansieht, und eine weitgehende Kenntnis des russischen Aufmarsches unterstellt (decodierte Meldungen), dann fällt doch sehr das Abstützen auf die Festung Modlin auf;

... zunächst als Rückhalt, aber dann auch als Ausgangspunkt für den Gegenschlag nach dem Kulminationspunkt der russischen Offensive. Während sich also in dieser Weise sein stärkerer linker Flügel auf Flussläufe und Festung stützen konnte, hatte er auffällig am rechten Flügel nur einen dünnen Sicherungsschleier postiert.

Vabanquespiel (es springt der Vergleich mit den bedrohlichen russischen Weichselbrückenköpfen 1945 ins Auge, die südlich Warschau) oder hervorragende Informationen über die Situation der russischen Seite? :grübel:
 
Wenn man Pilsudskis Operationsführung ansieht, und eine weitgehende Kenntnis des russischen Aufmarsches unterstellt (decodierte Meldungen), dann fällt doch sehr das Abstützen auf die Festung Modlin auf;
das scheint durch die Flußläufe, Verkehrsverbindungen und eben die Tatsache, dass die Festung Modlin kaum beschädigt war vom Ersten Weltkrieg und folglich einsatzfähig bzw. widerstandsfähig, geradezu sich angeboten zu haben. Hierbei sollte nicht übersehen werden, dass die Festungsanlagen der Zeit von 1900-1918 im Jahr 1920 noch nicht sogleich total veraltet waren; ebensowenig sollte übersehen werden, dass das nun nicht mehr russ. Polen vom Krieg doch allerlei abbekommen hatte, d.h. die Infrastruktur des Landes war noch nicht komplett wiederhergestellt (man denke an die Versorgungsschwierigkeiten von Pilsudskis Armee, nebenbei auch in Sachen Armierung, welche von überallher zusammengestückelt war) - kurzum: in einer solchen Lage kann man meiner Ansicht nach nicht davon ausgehen, dass stark fortifizierte Positionen nebensächlich gewesen seien.

Was den Kriegsverlauf betrifft: ich will nicht unnötig spekulieren, allerdings scheint der Fall der Festung Brest den Weg für die Russen nach Masowien doch erleichtert zu haben.

Mit Sicherheit kann man die Verteidigung oder Eroberung einer großen Festung in den Kriegen ab dem späten 19. Jh. nicht als kriegsentscheidend bezeichnen - dazu gerieten die Auseinandersetzung salopp gesagt doch zu weit- und großflächig und auch zu massenhaft. Aber als nutzlos oder bedeutungslos kann man den Festungsbau sicherlich auch nicht abtun - und dass manche dieser Festungen standhielten (Osowiec, Verdun) lässt sich nicht wegdiskutieren.

später, mit steigender Mobilisierung und der Erweiterung der Luftwaffe änderte sich das, da nun auch die Wegsysteme vielfältiger wurden - aber der Bau solcher Linear-Anlagen wie Maginotlinie, Westwall u.v.a. ist schon was ganz anderes und läßt sich mit den Festungen von der Brisanzkrise bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg auch nicht mehr vergleichen.
 
Es wäre nett, wenn Du mir sagen könntest, auf welche Quellen, Literatur etc. sich diese Beurteilung stützt, denn mindestens Erickson und Ziemke widersprechen Deiner Darstellung.

Quellen liefere ich nach.
Adam Zamoyski: Warsaw 1920, Lenin's failed conquest of Europe. 2008. Ist ein kurzes Buch von einem polnisch-amerikanischen Historiker. Führt auch viele Quellen auf.
 
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Das war gewiss ein Faktor. Die Sowjets waren aber sehr ausgelaugt und völlig überdehnt. Das wunder war eigentlich nicht ein solches sondern fast eine militärische Notwendigkeit. Das Wunder liegt eigentlich eher in der Tatsache dass die Sowjets 1920 in der Lage waren bis nach Warschau zu kommen.


@Bdaian: Die Quelle, die Du anführst ist durchaus sehr interessant. Vielen Dank für die Info!

Aber ganz so einfach stellt sich die Situation, auch nach dieser Quelle nicht dar (ebd. S.64ff).

Er führt das Momentum an, das durchaus für Tuchaschewki gesprochen hat. Er führt auch die prekäre Versorgungssituation für die sowjetischen Truppen an, aber vor allem weist er auch auf die eigensinnige Kriegsführung der SW-Front hin, die im wesentlichen durch Stalin gedeckt wurde (ebd. S. 81).

Der Rest ist nach wie vor Spekulation, dennoch hätte Mars auch anders würfeln können.
 
@Bdaian: Die Quelle, die Du anführst ist durchaus sehr interessant. Vielen Dank für die Info!

Aber ganz so einfach stellt sich die Situation, auch nach dieser Quelle nicht dar (ebd. S.64ff).

Er führt das Momentum an, das durchaus für Tuchaschewki gesprochen hat. Er führt auch die prekäre Versorgungssituation für die sowjetischen Truppen an, aber vor allem weist er auch auf die eigensinnige Kriegsführung der SW-Front hin, die im wesentlichen durch Stalin gedeckt wurde (ebd. S. 81).

Der Rest ist nach wie vor Spekulation, dennoch hätte Mars auch anders würfeln können.

Hast Du das Buch so schnell ausfindig gemacht und gelesen? Chapeau.

Ich habe ja gesagt, die Eigenmacht Budionnys und Stalins ist EIN Faktor. Hätten diese mitgemacht HÄTTE Warschau eingenommen werden können....oder auch nicht.
Hing aber auch sehr stark von dem Verhalten der Polen ab. Bei einer Panik (die sehr wohl drohte) wäre die Stadt zweifellos verloren gewesen. Eine entschlossen verteidigte Großstadt (noch dazu teilweise befestigt) ist jedoch für eine untermunitionierte und erschöpfte Reiterarmee keine einfache Eroberung.

Durch die Aktion der Südwestarmee wurde die geringe Chance aber vollkommen illusorisch.

Ich hatte in einem alten Buch aus der Zwischenkriegszeit vor einiger Zeit erstmalig ein Bild der Entwaffnung der Konarmija in Ostpreussen durch Reichswehrkavallerie gesehen, und mich stark gewundert da ich über dieses Ereignis nie etwas gehört hatte. In diesem Buch ist es auch abgebildet.
 
Lesenswert über den Festungsbau im 19. und frühen 20. Jh.:
Festungsstadt Köln
fortis colonia Schriftenreihe Nr.1
emons Verlag Nov. 2010
ein opulenter und informativer Wälzer mit viel Bild- und Kartenmaterial, dazu sehr interessante Abschnitte über Kosten und Bewilligung von Mitteln
 
ein opulenter und informativer Wälzer mit viel Bild- und Kartenmaterial, dazu sehr interessante Abschnitte über Kosten und Bewilligung von Mitteln
ergänzend sei noch erwähnt, dass sozialgeschichtliche Aspekte (Militär als Arbeitgeber an der gewaltigen Großbaustelle; das Verhältnis ziviler und militärischer Bevölkerung im Umfeld der im Bau befindlichen Großfestung; städtebauliche Belange) ausführlich dargestellt werden;
eine Besonderheit ist die Hypothese einer unterirdischen [sic!] Festungsbahn, welche sämtliche Forts und Zwischenwerke des modernisierten Außengürtels verbunden haben soll, sogar unter dem Rhein hindurch - sollte sich diese Hypothese bewahrheiten, so verfügt Köln über eine sensationelle Rarität bzgl. des Festungsbaus um 1900.
 
Ergänzung zum Literaturhinweis von dekumatland, quasi ein Fest für Festungs-Fans: :winke:

Anja Reichert: KULTURGUT, DAS DER KRIEG ERSCHUF - Das bauliche Erbe der Befestigungs- und Verteidigungssysteme im SaarLorLux-Raum vom 16. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Möglichkeiten und Probleme seiner Inwertsetzung unter besonderer Berücksichtigung freizeit- und tourismusorientierter Nutzungsformen.

Dissertation Trier 2005, digital verfügbar 42 MB, 644 Seiten
Universität Trier - OPUS - Kulturgut, das der Krieg erschuf. Das bauliche Erbe der Befestigungs- und Verteidigungssysteme im SaarLorLux-Raum vom 16.Jh. bis zum 2. Weltkrieg. Moeglichkeiten&Probleme seiner Inwertsetzung unt.bes.Ber. freizeit- und tou
 
Ergänzung zum Literaturhinweis von dekumatland, quasi ein Fest für Festungs-Fans: :winke:

Anja Reichert: KULTURGUT, DAS DER KRIEG ERSCHUF

dieselbe Autorin hat auch zu diesem Thema einen sehr guten Aufsatz in "Erhalt und Nutzung historischer Großfestungen" (Hrg. Hans-Rudolf Neumann) Philipp von Zabern Verlag, Mainz 2005 publiziert - dieser Tagungsband ist zum Thema Festungen des 19. Jh. ebenfalls sehr zu empfehlen.
 
Ist überhaupt ein eigenartiger Bau, der neupreussische Ehrenbreitstein: die Rückseite der Kurtine soll bewußt klassizistisch a la römische Wasserleitung gestaltet sein.

Aber sie ist dennoch beeindruckend, obwohl an ihr - auch an der Höhe der Bauten - deutlich wird, dass die Konzeption der Festung nicht mehr zeitgemäß war und sie einem direkten Bombardement wohl kaum mehr nach der Brisanzkrise standgehalten hätte.

An den ersten zwei Bilder wird die relativ begrenzte regionale Ausdehnung erkennbar. Und an den folgenden beiden die Höhe.

Wobei bei einzelnen Außenwerken, die relative flach sind, schon Betondecken eingezogen worden sind.
 

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@thanepower ...jein...
Der Ehrenbreitstein ist die Zitadelle der Festung Koblenz bzw des Festungsensembles. Damit ist das Reduit der Festung einerseits, andererseits aber auch ihre sichtbare Repräsentation gemeint. Überspitzt gesagt: diese Sorte Zitadelle hatte im 19. Jh. etwas mehr repräsentativen als funktional militärischen Charakter. Die Gestaltung der Hauptfront zur schrägen Ebene hin als Hornwerk mit vorgelagerter Kurtine ist schon historisierende Reminiszenz*) - die vorgelagerten flankierenden Aussenwerke haben stattdessen den "korrekten" fortifikatorischen Charakter.

Das ist nicht ungewöhnlich für den Festungsbau der Romantik**)
Vergleichbar mit der Koblenzer Zitadelle ist das Kernwerk der Bundesfestung Ulm, die Wilhelmsburg!!
Lesenswert zur architektonischen Präsentation solcher romantischer Prachtbauten innerhalb des Festungsbaus ist Oberst von Scholl (Verona, Peschiera etc)

Fort Alexander, Fort Asterstein etc um Koblenz herum waren die "modernen" Festungswerke in der ersten Hälfte des 19. Jhs. Und gerade Koblenz war die erste neudeutsche, neupreussische Festung und wurde voller Interesse beäugt: lesenswert ist der britische Spionagebericht über Koblenz!! (kann man im Wiki Artikel über Festung Koblenz downloaden)

Koblenz war, wie Brixen, Verona, Ulm in der 1. Hälfte des 19. Jhs. das Nonplusultra des Festungsbaus - das änderte sich rasch... schon Mitte des 19. Jhs. musste nachgebessert werden, nach der Brisanzkrise 1885 waren die Festungen nahezu militärisch wertlos: Ulm wurde in den Aussenwerken betoniert, Köln wurde massiv ausgebaut, Mainz erhielt einen neuen äußeren betonierten Festungsgürtel (Selztalstellung) --- du erwähnst Betonverstärkungen in Koblenz: hast du da mehr Infos? Ich dachte, dass Koblenz nach 1885 nur noch Festung 2. oder 3. Klasse war (also eher Kaserne als vorbereitete Kriegsstellung)

______
*) vgl Neumann (?) Die klassizistische Grossfestung Koblenz
**) tatsächlich zählen die Festungen Koblenz, Ulm, Verona u.a. kunsthistorisch und architektonisch zu Romantik und Kladdizismus
 
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